Siri zuckte die Achseln. Diese Beschreibung passte ganz und gar nicht zu seiner Betonleiche. Dtui erkundigte sich nach Odon.

»Das kommt schon eher hin«, sagte sie. »Odon war kleiner als Isandro. Dr. Santiago sagt, er war hasslich wie ein Ziegenbock, aber seinem Dauerlacheln konnte niemand widerstehen. Er sagt, es sei eher ungewohnlich, dass die Eingeborenen – womit dann wohl auch Sie und ich gemeint sein durften – mit dunkelhautigen Auslandern verkehren, aber Odon und Isandro gaben sich alle Muhe, und die Leute gingen darauf ein. Dann sagte er noch etwas, das ich nicht ganz verstanden habe – ›die Einheimischen zum Narren halten‹ oder so, aber festlegen will ich mich da nicht.«

Siri hielt Odon fur einen aussichtsreicheren Kandidaten als dessen gro? gewachsenen Freund, aber da die beiden Laos angeblich langst verlassen hatten, schien er entweder anderswo suchen oder aber beweisen zu mussen, dass einer der Pfleger hiergeblieben war. Aus welchem Grund auch immer. Obwohl in einer Ecke des Buros ein gigantischer Kuhlschrank stand, enthielt er auf den zweiten Blick nichts weiter als unzahlige Kulturproben. Eine faszinierende Sammlung, darin waren sich alle einig, aber kaum geeignet, ihren Hei?hunger zu stillen. Und so lie? Dr. Santiago seinen Papierkram bereitwillig Papierkram sein und lud seine Gaste in das neue Lao Houng Hotel zum Mittagessen ein. Ihr unerwarteter Besuch schien ihm buchstablich neues Leben eingehaucht zu haben. Auf dem Weg zum Ausgang kam ihnen eine Pflegerin entgegen, die zu jung schien, um bereits ihr Schwesterndiplom in der Tasche zu haben. Siri sah, wie der alte Mann ihre Hand nahm und ihr einen reichlich unprofessionellen Schmatz auf die Wange gab. Obwohl das Madchen errotete, wich es nicht zuruck, wie junge Laotinnen es gemeinhin taten, wenn sie einen ungebetenen Kuss bekamen. Wie es schien, brannte in Santiagos Brust noch immer das alte lateinamerikanische Feuer.

Sie sa?en unter riesigen Plakaten mit den Konterfeis ihnen unbekannter chinesischer Filmstars, verzehrten fades vietnamesisches Essen und machten sich uber das neue Oz von Vieng Xai lustig. Zum Nachtisch tranken sie warmes, leicht aromatisiertes Bier, und Santiago wandte sich Dtui zu. Er erkundigte sich, ob sie eine diplomierte Krankenschwester sei. Als sie bejahte, fragte er ihren »Papa Siri«, ob er wohl ein oder zwei Tage auf sie verzichten konne. Anscheinend hatte man das Lazarett bei Kilometer 8 aus dem Bergesinnern in ein paar alte Hauser aus der franzosischen Kolonialzeit vor dem Hohleneingang verlegt. Es war zwar immer noch ein Krankenhaus, doch die dortigen Pflegekrafte hatten lediglich eine sechsmonatige medizinische Grundausbildung absolviert. Dr. Santiago erwartete noch vor Ende der Woche zwei kubanische Arzte, aber bis dahin brauchte er jemanden, der die notigen Entscheidungen fallen konnte. Zwar verbrachte der Doktor jede freie Minute dort, doch die Klinik bedurfte dringend einer ordnenden Hand.

Siri gab den Vorschlag an Dtui weiter. »Was meinen Sie?«

»Also, ich wei? nicht, ich bin doch nur eine kleine Krankenschwester.«

»Dtui, Sie sind weit mehr als eine kleine Krankenschwester. Detektiv spielen kann ich vermutlich auch allein – die Entscheidung liegt bei Ihnen. Fur mich haben die Lebenden stets Vorrang vor den Toten. Aber wehe, Sie verraten das den Geistern.«

Sie fragte Santiago, ob sie sich darauf verlassen konne, dass die kubanischen Arzte spatestens zum Wochenende da seien. Er gab ihr sein Ehrenwort. Sie erklarte sich bereit, ihm zu helfen, und ubersetzte Siri ihren Entschluss.

»Sehr schon«, befand er. »Wenn ich Zeit habe, schaue ich vorbei und gehe Ihnen ein wenig zur Hand. Aber wie ich Sie kenne, haben Sie den Laden in null Komma nichts auf Vordermann gebracht. Und Dtui …?«

»Ja?«

»Ihnen ist hoffentlich klar, dass Sie es mit lebendigen Menschen zu tun haben. Nicht, dass Sie auf die Idee kommen, sie uber Nacht in die Kuhlkammer zu sperren.«

»Dr. Siri!«

»Pardon.«

Herr Geung war zum Laufen nicht gemacht. Er hatte Knickfu?e und kurze Beine. Trotzdem war er fest entschlossen, zu Fu? nach Vientiane zuruckzukehren. Zwar wusste er, dass es ein weiter Weg war, doch dass die Entfernung dreihundert Stra?enkilometer betrug, wusste er nicht. Er hatte weder genugend Geld fur eine Busfahrkarte in der Tasche noch auch nur die geringste Ahnung, wie sonst er sein Versprechen halten und ins Leichenschauhaus gelangen sollte. Und so schlenderte er, als die Soldaten eine Pinkelpause einlegten, unauffallig zum Ende des Konvois und starrte die Stra?e entlang, die sich durch die Berge schlangelte. Er holte tief Luft, genau wie der Doktor es ihm beigebracht hatte, und machte sich dann auf den Heimweg. Niemand bemerkte sein Verschwinden.

Schon nach funf Minuten befand er sich allein auf der verlassenen Stra?e. Herr Geung war alles andere als ein Einzelkampfer. Er brauchte die Gesellschaft und den Zuspruch anderer. Wenn man ihm sagte, was er zu tun hatte, war er unschlagbar, doch es fehlte ihm an Tatkraft und Unternehmungsgeist. Die Armeetransporter waren kaum verschwunden, als ihm dammerte, dass er sich unmoglich allein auf diese weite Reise begeben konnte. Er brauchte einen Freund. Einen klugen Freund und Begleiter. Und als er den Kopf wandte, stand mit einem Mal, wie durch ein Wunder, Dtui hinter ihm. Ihm fiel ein Stein vom Herzen. Sie war die vernunftigste Frau, die er kannte, und wurde ihn bestimmt sicher heim geleiten.

»T… tut mir leid, kleine Schw… Schwester«, sagte er grinsend.

Lachend nahm sie seine Hand, und gemeinsam marschierten sie die mit Schlaglochern ubersate Stra?e entlang. Nach einer Weile gab sie zu bedenken, dass die Sonne direkt uber ihnen stand und sie keine Kopfbedeckung hatten. Und so beschlossen sie, im Schatten der seltsamen Baume am Stra?enrand weiterzugehen. Ihre Gegenwart gab ihm Selbstvertrauen. Er erzahlte ihr samtliche Witze, die sie im Laufe des vergangenen Jahres gemacht hatte. Sie lobte ihn fur sein ausgezeichnetes Gedachtnis. Er wusste nicht, was er ohne Dtui und ihren gesunden Menschenverstand angefangen hatte.

Das Bild von Herrn Geung stand Dtui so deutlich vor Augen, als sei er bei ihr im Zimmer. Sie offnete die Lider und blickte um sich. Da es in der kleinen Kammer keinen Schrank gab, hingen ihre Kleider wie erschlaffte Sargtrager von den vier Pfosten ihres Bettes. Wenn sie die Augen zusammenkniff, sah das lochrige Moskitonetz aus wie ein marchenhafter Sternenhimmel, was die mystische Aura von Gastehaus Nr. 1 noch verstarkte. In der Ferne spielte der klui-Pfeifer immer wieder dieselbe traurige Melodie, und schon jetzt, am spaten Nachmittag, wallte wei?er Nebel gegen die Fensterscheibe. Ihr wurde klar, dass sie eingedost war und von ihrem Freund getraumt hatte, trotzdem befiel sie bei dem Gedanken an Herrn Geung ein mulmiges Gefuhl.

Sie wusste, dass das Gebaude bis auf die geheimnisvollen Gaste am anderen Ende des Hauses und das Personal, das im leeren Speisesaal herumhockte, verlassen war. Siri sa? wahrscheinlich unten auf der Veranda und schilderte dem engstirnigen Sicherheitschef ihren Besuch bei Dr. Santiago. Der Mann war ein einziger Reinfall gewesen. Bis zu seiner wundersamen Verwandlung in einen durchgedrehten Kommunistennazi hatte Dtui ihn sogar als potenziellen Ehekandidaten in Betracht gezogen. Sein kuhles Lacheln und sein schlanker, durchtrainierter Korper kamen ihren bescheidenen Anspruchen recht nahe. Bedauerlicherweise hegte sie die feste Uberzeugung, dass ihr Auserwahlter einen eigenen Kopf besitzen musse, und damit konnte Lit leider nicht dienen. Nachdem sie ihn von ihrer Liste gestrichen hatte, hielt sie es fur das Beste, die abendliche Lagebesprechung ausfallen zu lassen.

Doch da ihr Zimmer allerlei bizarre Gedanken und Gefuhle in ihr wachrief, beschloss sie, das Weite zu suchen. Was sie vorhatte, wurde etwa eine Stunde dauern. Zunachst wollte sie versuchen, mit Hilfe des einzigen Telefons im Haus nach Vientiane durchzukommen. Vor knapp vier Wochen waren zwei Manner in alten Armeeuniformen, auf die jemand mit Waschetinte das Wort TELEFONGESELLSCHAFT geschrieben hatte, bei Siri aufgetaucht, um ein Telefon in seinem Bungalow zu installieren, noch so eine Belohnung fur Siris selbstlosen Einsatz und seine Verdienste um die Partei und um die Sache. Ware Dtuis kranke Mutter nicht gewesen, die der standigen Betreuung bedurfte, hatte Siri den beiden Mannern vermutlich erklart, sie konnten sich ihr Telefon sonstwohin stecken. »Schon mal was von Privatsphare gehort?«, hatte er gesagt.

Bevor die Manner wieder gegangen waren, hatten sie die vierstellige Nummer aufgeschrieben – die, wie es der Zufall wollte, mit drei Neunen endete -, und ihnen versichert, der Anschluss werde schon am nachsten Tag erfolgen. Tatsachlich jedoch hatte es zwei Wochen gedauert, bis sie das unverkennbare laotische Freizeichen zum

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