Der Mann spuckte den restlichen Schaum aus und funkelte Siri wutend an. »Wer, zum Teufel, sind Sie?«

»Dr. Siri Paiboun.«

»Nicht zu glauben. Dass einem ausgerechnet hier ein Arzt uber den Weg lauft.« Kopfschuttelnd setzte er sich auf.

»Kompliment. An Ihnen ist ein Schauspieler verloren gegangen. Ein Laie hatte wohl kaum Ihren Atem kontrolliert und den Zahnpastageruch folglich auch nicht bemerkt. Das Personal hatte Sie vermutlich auf einen Lastwagen verfrachtet und Sie in die Klinik nach Xam Neua gefahren. Trotzdem ist mir immer noch nicht ganz klar, was Sie sich davon versprochen haben.«

»Nein? Das kann ich Ihnen gern verraten. In einem Krankenhaus gibt es keine Wachleute. Ich hatte mich heimlich davonstehlen konnen.«

»Und wohin, wenn ich fragen darf?«

»Was wei? denn ich? Nach Suden? In einem gestohlenen Wagen?«

»Ihnen ist offensichtlich nicht bewusst, wo Sie hier sind. Es fuhrt nur eine Stra?e nach Vientiane, vorbei an gut hundert Lagern der PL und der Vietnamesen. Sind Sie wirklich so lebensmude?«

»Lieber sollen sie mich erschie?en, als dass ich mich von Ihren Leuten langsam zu Tode foltern lasse.«

»Wie kommen Sie darauf, dass wir Sie zu Tode foltern wollen?«

»Ich bin doch nicht bescheuert. Ich wei?, wie es in euren Lagern zugeht. Zwangsarbeit unter primitivsten Bedingungen, keinerlei arztliche Betreuung.«

»Ich habe drei?ig Jahre unter solchen Bedingungen gelebt. Wenn ich das geschafft habe, schaffen Sie das schon lange.«

»Sie wissen anscheinend nicht, wer ich bin.«

»Ich wei? sogar sehr gut, wer Sie sind. Aber das ist keine Antwort auf meine Frage.«

Der Mann sah kopfschuttelnd aus dem Fenster. »Ich musste mich noch nie auf eigene Faust durchschlagen. Beim leisesten Schniefen wurde ich mit Medikamenten vollgepumpt. Ich habe keine naturliche Immunitat, keine Kondition, kein Durchhaltevermogen.«

»Sie wurden sich wundern, wie schnell sich Ihr Korper anpasst.«

»Nein. Das ware mein sicherer Tod. Hundertprozentig. Horen Sie. Sobald er Ihren absurden Auftrag ausgefuhrt hat, kommt der Wachposten zuruck. Was halten Sie davon, wenn Sie und ich eine kleine … Abmachung treffen?«

»Doch nicht etwa finanzieller Natur?«

»Ich verfuge uber mehr Geld, als Sie sich uberhaupt vorstellen konnen. Wenn Sie mich nach Thailand schaffen wurden, konnte ich …«

»Und was sollte ich mit dem Geld anfangen?«

»Anfangen? Na, was wohl? Sich ein angenehmes Leben machen. Ihre Freiheit genie?en.«

Siri lachte. »Mit Verlaub, aber in Ihrer mehr als misslichen Lage sind Sie nicht eben ein leuchtendes Beispiel fur die Kombination von Reichtum und Freiheit. Trotzdem, den Versuch war es wert, mein Junge. Sie sind ganz anders als Ihr Vater.«

»Woher wollen Sie das wissen?«

»Wir kennen uns. Wir haben eine ganze Nacht zusammen Reiswhisky getrunken und uber Philosophie gesprochen. Ich bin in meinem Leben nicht allzu vielen koniglichen Hoheiten begegnet, aber Ihr Vater hat mich tief beeindruckt. Im Gegensatz zu Ihnen schien er sich mit seinem Schicksal abgefunden zu haben.«

»Er ist ein Defatist.«

»Er ist ein Realist. Er war hier, nicht wahr? Und die Konigin?«

»Sie wurden gestern Abend fortgebracht. Haben Sie das Zimmer gesehen, in dem sie hausen mussten? Entwurdigend. Wer wei?, was sie da drau?en im Dschungel erwartet.«

»Sie haben Angst.«

»Seien Sie nicht albern.«

»Sie brauchen sich deswegen nicht zu schamen. Angst hilft uns zu uberleben. Ich habe langer in Angst gelebt als in Ruhe und Frieden. Trotzdem stehe ich hier. Schlagen Sie sich diese albernen Fluchtgedanken aus dem Kopf, mein Junge. Damit helfen Sie weder sich selbst noch Ihrer Familie. Spielen Sie mit, und halten Sie sich an die Regeln. Suchen Sie sich einen hohen Baum, einen Baum, der samtliche Staatsstreiche und Massaker der Geschichte uberdauert hat. Heben Sie an seinem Fu? ein Loch aus, und begraben Sie Ihren Stolz darin. Ubergeben Sie diesem majestatischem Baum Ihr ganzes konigliches Erbe, und dann fugen Sie sich ihrem Willen, und werden Sie zu einem einfachen, bescheidenen Menschen. Erdulden Sie die Erniedrigungen, die sie Ihnen zufugen werden, und imponieren Sie ihnen mit Ihrer Willenskraft. Beeindrucken Sie sie mit Ihrer Demut und Ergebenheit. Denn genau das werden der Konig und die Konigin tun.«

»Das … das kann ich nicht.«

»Naturlich konnen Sie das. Und es wird eine tiefere und anhaltendere Wirkung zeitigen als all die Bravourstucke und Heldentaten, all das konigliche Getue, das Sie im Sinn haben. Beweisen Sie ihnen, dass Sie ein Mensch mit Charakter sind. Denn das wird sie in Verlegenheit bringen. Fur einen Tyrannen gibt es wenig Unerfreulicheres als einen Mann, der sich nicht schrecken lasst.«

Siri hob die Flasche auf. Der Kronprinz starrte mutlos vor sich hin. »Warum haben sie uns getrennt?«

»Um Ihren Willen zu brechen. Sie haben doch nicht wirklich davon getrunken, oder?«

»Die Flasche war leer.«

Siri lachte. »Sehen Sie? Sie sind doch ein findiges Burschchen. Sie wurden hundert Umerziehungslager uberleben.«

Der Wachposten sturzte ins Zimmer. Er hielt die mit Lappen umwickelten Griffe des dampfenden Kochtopfs fest umklammert. Das gesamte Kuchenpersonal folgte ihm auf dem Fu?e.

»Fertig«, sagte die Wache. »Was soll ich damit machen?«

»Kippen Sie es in die Toilette«, antwortete Siri. »Oder, noch besser, kochen Sie uns darin zum Abendessen leckeres Gemuse.«

»Was? Aber Sie haben doch …«

»Wie es scheint, habe ich ein medizinisches Wunder vollbracht und den Prinzen wieder zum Leben erweckt. Wir werden ihn wohl doch nicht in Ol sieden mussen. Er erfreut sich bester Gesundheit.«

»Danke. Danke, Doc. Vielen Dank«, murmelte der Wachposten wohl an die hundert Mal. Der Dank galt selbstredend der Rettung seiner eigenen Haut. Das Wohlergehen seines koniglichen Schutzlings interessierte ihn nicht die Bohne.

Bevor Siri aus dem Zimmer ging, sah er die Bambus-klui auf dem Schreibtisch. »Ah, da haben wir sie ja, die Waffe, die uns seit unserer Ankunft solche Qualen bereitet. Kennen Sie nur die eine Melodie?«, fragte er.

»Und nicht einmal die beherrsche ich richtig.«

»Wenn wir uns das nachste Mal begegnen, werden Sie die tausend Melodien des Dschungels spielen, und die Vogel des Waldes werden Sie darum beneiden. Denken Sie an meine Worte.« Er legte dem Prinzen die Hand auf die Schulter und sah ihn lachelnd an. »Gru?en Sie Ihren Vater von mir, wenn Sie ihn sehen. Er ist ein beeindruckender Mann – mit einem beeindruckenden Sohn.«

8

GOTTLICHE OHNMACHT

Herr Geung hatte die bewaldeten Berghange hinter sich gelassen und kam zum ersten Mal auf seiner Wanderung in ein Tal voller Reisfelder. Die Reisstoppeln knirschten unter seinen Fu?en. Alles schien vertrocknet und tot. Die Politik hatte das Land buchstablich ausgedorrt. Seit der Revolution mussten die Pathet Lao Monat fur Monat die schmerzliche Erfahrung machen, dass es in der Praxis weitaus schwieriger war, ein Land zu regieren, als es in der Theorie ausgesehen hatte. Zehn Jahre lang hatten sie in den Hohlen von Houaphan davon getraumt, an die Macht zu gelangen. Doch da nur wenige Kader wirklich glaubten, dass dieser Traum eines Tages in Erfullung gehen wurde, hatten sie weder konkrete Plane fur die Zukunft entwickelt noch Ideen, wie sie die Massen

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