»Findet man sie auch in dieser Gegend?«

»Aber ja, zu bestimmten Jahreszeiten. Hier in den Bergen bei Kilometer 8 wachsen die Busche uberall.«

»Hatten Sie wohl die Gute, uns zu verraten, worum es geht, Doc?«, fragte Dtui.

»Hinweise«, antwortete Siri. »Wir durfen keinen Hinweis au?er Acht lassen. Wie zum Beispiel die grune Tur. Fragen Sie Santiago doch noch mal, ob er sich an irgendwelche grunen Turen erinnert.«

Sie gehorchte und konnte formlich zusehen, wie der Kubaner samtliche Turen seines Lebens Revue passieren lie?. Schlie?lich fragte er, ob die Tur auch wirklich grun und nicht blau gewesen sei. Da Siri an seine Vision keinerlei Erinnerung mehr hatte, konnte er die Farbe auch nicht bestatigen.

»Angenommen, sie ware blau«, fragte Dtui. »Wurde das denn eine gro?e Rolle spielen?«

Durchaus, meinte Santiago. Die Bombenschutzturen im alten Lazarett seien aus schwerem Stahl, und sie seien blau.

»Und wo ist das alte Lazarett?«

Er zeigte aus dem Fenster, auf den schwarzen Umriss des Berges. Er hob sich gegen das dunkle Blau des Himmels ab und hockte da wie ein riesenhafter Rabe.

Sie ubersetzte fur Siri, der das Lazarett gut kannte. Nach dem Umzug in die neuen Gebaude waren die Hohlen versiegelt worden. Es fuhrte kein Weg hinein. Die bombensicheren Turen waren fest verriegelt, um zu verhindern, dass neugierige Kinder aus der Mittelschule am Fu? des Hugels hineingelangten und sich darin verliefen. Plotzlich schien alles zusammenzupassen: die Beeren, die Turen, das Wasser und der Beton.

»Wer hat den Schlussel?«, fragte er.

Santiago ging mit ihnen in die Verwaltung, schloss die Schreibtischschublade auf und kramte in einem Wust von Schlusseln, bis er den zum Vorhangeschloss am Haupteingang des alten Lazaretts gefunden hatte. Aus dem Vorratsschrank holte er eine Machete und drei batteriebetriebene Stirnlampen; auf diese Weise hatten sie die Hande frei. Er ging voran, und sie folgten ihm den uberwucherten Pfad entlang, der zum nachstgelegenen Eingang fuhrte. Die gut zwanzig Zentimeter starke Tur war seit Jahren nicht geoffnet worden. Die drei mussten mit vereinten Kraften ziehen, um sie so weit zu bewegen, dass sie sich durch den schmalen Spalt zwangen konnten.

Als sie eintraten, schlug ihnen ein modriger Gestank entgegen. Unkraut verstopfte die Luftungsschachte, und die Luft ringsum war alt und abgestanden. Die Geschichten der Menschen, die hier ihr Leben gelassen hatten, waren dem Gemauer auf ewig eingeschrieben. Doch tief in der pechschwarzen Finsternis nahm Siri noch etwas anderes wahr – den frischen Geruch des Todes. Kurz darauf bemerkte ihn auch Dtui. Sie und Siri schalteten ihre Stirnlampen ein, und die drei Lichtstrahlen wanderten hin und her uber zwolfhundert Quadratmeter kalten, grauen Steins. Die beiden alten Arzte hatten unzahlige Stunden in dieser verborgenen Halle zugebracht, und so verwunderte sie allein die Totenstille, das Fehlen jeglicher Gerausche – nirgends scharrte eine Ratte, nirgends zirpte eine Fledermaus. Als habe die Natur es nicht gewagt, die verlassene Hohle zu erobern.

Dtui hingegen kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus und fragte sich, wie es den Ingenieuren in Kriegszeiten, im Sperrfeuer der Bomben gelungen war, diese unglaubliche Leistung zu vollbringen. Durch Kanale im Zementfu?boden gelangte Quellwasser aus den umliegenden Bergen in die Hohle. Links und rechts der Haupthalle lagen Operationssale, Buroraume und ausgeklugelte Latrinen, durch die das Abwasser nach au?en abgeleitet wurde. Da plotzlich erfasste der Lichtstrahl ihrer Lampe eine Gestalt auf dem Betonfu?boden. Eine Leiche mit verrenkten Gliedern. Als sie naher kamen, erkannten sie, dass es sich um eine Frau von Anfang zwanzig handelte. Ihrem Zustand nach zu urteilen war sie bereits seit uber vierundzwanzig Stunden tot.

Direkt uber ihr baumelte Unkraut aus einem Luftungsschacht, einem kreisrunden Loch von etwa zwei Metern Durchmesser. Siri wusste, dass der Schacht an einer Stelle in der Felswand endete, die aus der Vogelperspektive nicht zu sehen war; von dort wurde mittels einer Pumpe Frischluft ins Berginnere geleitet. Die Pumpe gab es langst nicht mehr, und zuruckgeblieben war nichts weiter als ein Loch, ein nahezu unsichtbares Loch, in das die nichtsahnende Frau vermutlich beim Beerensammeln gesturzt war.

Santiago beugte sich uber die Leiche und nahm die Tote in Augenschein. Als er zu sprechen begann, dolmetschte Dtui.

»Der Doktor ist schwer beeindruckt. Er wurde gern wissen, wie Sie die Frau gefunden haben. Er bedauert allerdings, dass Sie Frau Panoy nicht mehr helfen konnen.«

»Nein«, sagte Siri und lie? seinen Lichtstrahl durch die Hohle wandern. »Das ist nicht Panoy. Zwar hat der Geist dieser Frau durch die alte Hmong zu uns gesprochen, aber dabei ging es gewiss nicht um sie selbst. Auf diese Art und Weise kann man nur kommunizieren, wenn man schon tot ist. Es muss also noch jemand anders hier sein.«

Dtui gab Siris Einwand an Santiago weiter, und zu dritt setzten sie ihre Suche fort. Das Wasser in dem alten Aquadukt war ins Dorf am Fu? des Berges umgeleitet worden. Durch die verbliebenen Kanale floss immer noch ein schmales Wasserrinnsal. An einigen Stellen waren sie fast einen Meter tief, und dort stie? Santiago auf Panoy. Er rief ihren Namen und lie? sich neben ihr in den Kanal hinab. Sie war etwa vier Jahre alt. Sie war schwer verletzt und vom Hunger geschwacht, aber wie durch ein Wunder noch am Leben.

»Ich glaube, wir konnen sie retten«, rief Santiago den anderen zu. Er kletterte mit dem Madchen im Arm aus dem Wassergraben und hastete auf die blaue Tur zu. Dtui und Siri konnten kaum Schritt halten. Im Eingang blieben sie stehen und sahen dem alten Kubaner nach, der die Boschung hinab auf das Krankenhaus zueilte. Dtui legte Siri lachelnd den Arm um die Schulter.

»Gute Arbeit, Dr. Siri. Und wie sollen wir Santiago das alles erklaren?«

»Obwohl ich fur eine gute Luge stets zu haben bin, furchte ich, wir werden ihm die Wahrheit sagen mussen.«

»Meinen Sie wirklich? Lugen ware vermutlich einfacher.«

»Ach, ich glaube kaum, dass der hagere alte Lowe sonderlich erstaunt sein wird. Ich habe das dumpfe Gefuhl, dass ihm all das nicht gerade neu ist.«

Sie wandte den Kopf, und der Strahl ihrer Lampe bohrte sich in die Stahltur. »Sagen Sie. Was ist das Ihrer Meinung nach fur eine Farbe, Doc?«

»Grun.«

»Sie sind farbenblind, nicht wahr?«

»Wenn das kein Grun ist, muss ich wohl farbenblind sein. Mir graut bei der Vorstellung, was Frau Wunderlich mir noch alles vererbt hat.«

Panoy erwies sich als erstaunlich zah. Gegen ihre gebrochenen Rippen lie? sich wenig machen, doch sie richteten ihr beide Arme und ein Fu?gelenk, nahten zwei tiefe Schnittwunden und hangten sie an einen Tropf, der ihr die verlorene Energie nach und nach zuruckgeben wurde. Meej blieb bei ihr und uberprufte im Lauf der Nacht immer wieder ihre Vitalfunktionen.

Siri, Santiago und Dtui sa?en in ihre Jacken gehullt unter dem nachtschwarzen Himmel. Es war zwar kalt, aber nicht so unangenehm, dass sie ein Feuer hatten machen mussen. Der Reiswhisky kurbelte ihren Kreislauf an. Siri sah schweigend zu, wie Dtui mit Hilfe ihres zerlesenen Worterbuches und einer Taschenlampe Siris Verbindungen zur Geisterwelt zu erklaren versuchte. Sie erzahlte Santiago von dem tausend Jahre alten Schamanen namens Yeh Ming, der in Siris Korper hauste. Sie erklarte ihm, besagter Geist warte geduldig darauf, dass Siri friedlich eines naturlichen Todes starb, damit er sich aus dem Schamanengeschaft zuruckziehen konnte. Sie erzahlte ihm von den dreiunddrei?ig Zahnen und den Traumen und dem wei?en Talisman, der Siri zur Abwehr boser Geister diente. Wahrenddessen achtete Siri auf die Reaktionen seines alten Freundes. Sie waren nicht leicht zu deuten, denn Santiago schien samtliche Informationen erst einmal fein sauberlich in eigens dafur vorgesehene Schubladen seines Gehirns zu sortieren. Als Dtui fertig war, sah der Kubaner Siri mitleidig an. Er nahm die ewige Zigarette aus dem Mund und lie? seinen Kopf in einer Rauchwolke verschwinden. Dann blitzte so etwas wie Bewunderung auf in seinen Augen, und er fing schallend an zu lachen. Er fullte ihre Glaser nach und klopfte seinen beiden Kollegen auf den Rucken, als sei das die beste Nachricht, die er seit Langem erhalten habe.

Siri war von Neuem zur Untatigkeit verdammt, als Santiago seinerseits zu einer Geschichte anhob. Dtui unterbrach ihn mehrmals, um die eine oder andere Frage zu stellen, machte hier ein schockiertes, da ein fasziniertes Gesicht und hob am Ende seufzend die Augenbrauen. Dann herrschte Schweigen.

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