»Was? Was ist?«, fragte Siri nervos, weil er sich ubergangen fuhlte.

»Ach, hallo, Doc. Sie hier?«, sagte Dtui lachelnd. »Tut mir leid, aber ich bin todmude und …«

»Schwester Chundee Vongheuan, wenn Sie mir nicht auf der Stelle …«

Sie kicherte. »Kleiner Scherz am Rande, Doc. Keine Panik.« Sie trank einen Schluck Whisky, machte es sich auf ihrem Stuhl bequem, so gut es ging, und begann mit Santiagos Geschichte. »Jetzt, wo er wei?, was Sie fur ein sonderbarer Kauz sind, ruckt der alte Knabe endlich damit heraus, was hier oben wirklich passiert ist. Wie es aussieht, steckte in den beiden Pflegern doch ein wenig mehr, als wir dachten. Er hatte Angst, wenn er Ihnen davon erzahlt, halten Sie ihn womoglich fur verruckt, darum freut es ihn umso mehr, dass wir jetzt drei Spinner sind.«

Santiago sah Dtui grinsend an, als wurde er die Geschichte, die er ihr soeben erzahlt hatte, ein zweites Mal genie?en. Er kippte einen Schluck Whisky wie ein Feuerspucker, der gleich einen machtigen Flammenstrahl aussto?en wird.

»Wie es scheint«, begann Dtui, »haben auch die Kubaner Schamanen und enge Verbindungen zur Geisterwelt. Es gibt gro?e Kulte und kleine Kulte. Viele Priester dieser Kulte sind Schwindler und Betruger. Aber einige von ihnen sprechen tatsachlich mit den Geistern.«

»Glaubt Dr. Santiago das im Ernst?«, fragte Siri.

Wieder lachte Santiago, als Dtui ihm die Frage ubersetzte.

»Ja, er glaubt fest an die Geisterwelt. Er sagt, er habe einfach zu viel gesehen und erlebt, wofur es keine wissenschaftliche Erklarung gibt. Er sagt, wenn Sie mochten, nimmt er sich gern zwei Wochen Zeit und erklart Ihnen die Riten von Palo und – wie hie? das noch gleich, Santeria?« Sie sah zu Santiago; der nickte. »Das muss aber nicht sein, oder?«

»Nicht unbedingt.«

»Gut. Dann kommen wir zur Sache: Er hat die beiden Kubaner namlich nicht etwa nach Hause geschickt, weil sie mit den Madchen aus dem Dorf geschakert hatten. Das war nichts weiter als eine Ausrede fur die Behorden in Havanna. Die Grunde waren andere. Da er mit ihrer Arbeit sehr zufrieden war, handelte es sich offenbar um etwas Ernstes, sonst hatte er wohl kaum aus freien Stucken auf zwei erfahrene Assistenten verzichtet.«

Sie verstummte.

»Und was war der wahre Grund?«

»Das wollte er mir nicht verraten.«

»Was?«

»Er sagt, er will uns morgen fruh zu ihrer Hohle fuhren, damit wir uns selbst ein Bild machen konnen. Frustrierend, nicht?«

»Und wie.«

Kein Schmollen und kein Flehen hatte den Kubaner zum Einlenken bewegen konnen.

Sie leerten ihren Schlummertrunk und zogen sich zu ihren Schlafplatzen in den Klassenzimmern der nahe gelegenen Mittelschule zuruck.

Fur Siri hatte man zwei Steppdecken im Raum der 2. Klasse ausgebreitet. Jemand hatte mit Kreide WILLKOMMEN, BESUCHER an die Tafel geschrieben. Doch als er sich dem Zimmer jetzt naherte, bemerkte er, dass die Tur offen stand und sonderbare Gerausche in den Korridor drangen. Pulte wurden verruckt. Irgendetwas fiel zu Boden und zerbrach. Ein tiefes Schnauben und Prusten, das unmoglich von einem Menschen stammen konnte. Er wollte eben Hilfe holen, als ihm einfiel, dass er keine Ahnung hatte, wofur – oder wogegen – er Hilfe brauchte. Er schloss die Finger um das Amulett und marschierte festen Schrittes zur Tur.

Im Schein der kleinen orangefarbenen Kerze, die ihm jemand auf das Lehrerpult gestellt hatte, bot sich ihm ein bizarrer Anblick. Funf Buffel drangten sich in dem kleinen Raum und wetteiferten um einen Platz vorn an der Tafel. Ein Tier hatte sich dagegen gelehnt, und jetzt prangte der Schriftzug wie ein Brandzeichen auf seiner Flanke. Zwei hatten bereits einen Ehrenplatz ergattert und lagen links und rechts von Siris Steppdecke auf dem nackten Lehmfu?boden wie zwei riesige Umarmungskissen. Als er das Klassenzimmer betrat, sahen alle zu ihm auf und lachelten. Soweit Tiere ohne Vorderzahne zum Lacheln in der Lage sind.

9

VON SCHWEINEN UND WARZEN

Langsam schlug Herr Geung die Augen auf. Alles war verschwommen. Die Farben schienen ineinanderzulaufen. Ein Hahnenschrei verriet ihm, dass es Morgen war: Die Sonne warf Lichtfaden aus wie eine Spinne, die das Netz eines neuen Tages baut. Zwar war er zeit seines Lebens bei Sonnenaufgang erwacht, aber noch nie so wie hier und jetzt. Er befand sich, nein, nicht in einem Haus, denn es hatte keine Wande, aber unter einem Dach. Alle anderen schliefen noch. Er wollte sich aufrichten, doch eine Korperhalfte war vollig steif. Er verspurte einen dumpfen Schmerz, als habe die ganze Nacht ein schweres Gewicht auf seiner Brust gelastet. Er sah an sich hinunter und stellte fest, dass er Hose und Stiefel anhatte. Sein Oberkorper hingegen war nackt, bis auf einen langen, schmutzigen rosa Verband, der sich fest um Brust, Hals und Oberarm wand. Vorsichtig betastete er die Bandage, die gestern noch nicht dagewesen war, und fragte sich, wozu sie dienen mochte. Als seine Finger eine Stelle an der rechten Schulter beruhrten, zuckte er vor Schmerz zusammen. Es musste sich wohl doch um etwas Ernstes handeln. Er konnte sich weder an den Schuss noch an das Blut erinnern; er wusste nur, dass er schnellstmoglich nach Vientiane und ins Leichenschauhaus gelangen musste. Er setzte sich auf.

»He, Kum«, horte er jemanden sagen. »Er ist wach.«

Einer der Manner, die unter dem Dach der Hutte ohne Wande geschlafen hatten, ruhrte sich und robbte neben Geung. Er war braungebrannt, etwa so gro? wie Geung und trug eine Igelfrisur. Ein Patronengurt schlang sich um seine Schulter. Darauf schlief es sich vermutlich furchtbar unbequem, dachte Geung. Die Stimme des Mannes klang ladiert.

»Wie fuhlst du dich?«

»G… ganz gut«, sagte Geung.

Der Mann kehrte ihm den Rucken zu und rief seinem Kollegen zu: »Es geht ihm gut. Er kann sogar sprechen.«

»Ja. So was soll’s geben.«

Der Igel sprach langsam, als sei Geung nicht von dieser Welt. »Ich habe auf dich geschossen. Verstehst du?«

Geung betrachtete den rosafarbenen Verband und nickte. Langsam kehrte seine Erinnerung zuruck.

»Es tut mir leid«, fuhr der Mann fort. »War ein Versehen. Ich dachte, du bist … Nein, Quatsch. Ich hatte keine Ahnung, was du bist. Ich habe einfach abgedruckt. Wenn ich gewusst hatte, dass du … so bist, wie du bist, hatte ich nie im Leben …«

»Er muss dir vergeben«, sagte sein Kollege. Nach und nach erwachten auch die anderen Schlafenden.

»Du musst mir vergeben«, sagte der Igel. »Ich kann es mir nicht leisten, noch mehr Kredit zu verspielen. Verstehst du? Du konntest mein Karma ruinieren. Buddha ist so schon sauer, weil ich mich aufs Stehlen verlegt habe. Er hatte sich langsam, aber sicher damit abgefunden. Dann kamst du daher. Und jetzt stecke ich wieder in der Schei?e. Wenn du mir vergibst, habe ich vielleicht noch eine Chance, wieder ins Plus zu kommen.«

Geung verstand kein Wort. »We… e… er sind Sie?«, fragte er.

Der Igel setzte sich stohnend auf. Vergebung hatte ihren Preis. »Fruher war ich Soldat«, flusterte er. »Aber ich kampfte auf der falschen Seite. Jetzt bin ich … jetzt sind wir – wie soll ich sagen? – Opportunisten. Schnorrer. Verstehst du? Wir warten auf Transporter und Konvois, die nicht allzu schwer bewacht sind, und fragen die guten Leute, ob sie uns nicht mit ein paar Kip aushelfen konnen. Wir lagen im Tal auf der Lauer, als du angeschlichen kamst und mich erschreckt hast. Verstehst du? Ich dachte, du warst hinter uns her. Ich wusste ja nicht, dass du … so bist, wie du bist. Ehrenwort.«

»K… kann ich jetzt gehen?«

»Gehen? Wohin?«

»Vientiane.«

»Das ist aber verdammt weit.«

Вы читаете Totentanz fur Dr. Siri
Добавить отзыв
ВСЕ ОТЗЫВЫ О КНИГЕ В ИЗБРАННОЕ

0

Вы можете отметить интересные вам фрагменты текста, которые будут доступны по уникальной ссылке в адресной строке браузера.

Отметить Добавить цитату