»Ich hab’s versprochen.«
»Also, ich wei? nicht, ob du das durchstehst, Bruder. Auch wenn die Wunde nicht entzundet ist. Du hast Schwein gehabt: Die Kugel war nicht besonders gro? und hat deine Schulter glatt durchschlagen. Du hast geschrien wie am Spie?, als wir sie mit Benzin ausgewaschen haben, aber ich glaube, sie ist einigerma?en sauber. Es wird allerdings noch eine Weile wehtun.«
»K… kann ich jetzt g… gehen?«
Der Igel warf einen Blick uber die Schulter und rief: »Er will gehen.«
»Dann lass ihn gehen.«
»Und wenn er unterwegs verreckt?«
»Nicht dein Problem. Sobald er weg ist, bist du aus dem Schneider.«
»Warum schlagst du dir diesen Karma-Schwachsinn nicht endlich aus dem Kopf?«, sagte ein anderer. »Du bist ein Bandit. Da kannst du das Nirwana so oder so abschreiben.«
»Nein. Sag so was nicht.« Der Igel sah Geung flehentlich an und fragte noch einmal: »Vergibst du mir?«
»Ja.«
»Wirklich? Danke. Das werde ich dir nie vergessen.«
Um seine Dankbarkeit unter Beweis zu stellen, packte der Igel Geung etwas Proviant ein und begleitete ihn ein paar Kilometer. Die Wirkung des Opiums, mit dem sie Geung betaubt hatten, lie? allmahlich nach, und er verzog bei jedem Schritt das Gesicht. Bald bahnten sie sich einen Weg durch dichte Vegetation, wo es von Tieren und Insekten nur so wimmelte. Eidechsen flitzten vor ihnen davon, und Eichhornchen entschwanden in sichere Hohen.
»Wo ist die St… St… Stra?e?«, fragte Geung.
»Stra?e? Du brauchst keine Stra?e. Ich dachte, ihr seid wie die Hunde und folgt einfach eurer Nase.«
Geung sah ihn entrustet an. »Ich … ich bin kein Hund.«
»Jaja. Schon gut.«
»Ich bin kein Hund.« Geung lief vor Wut und Emporung rot an.
»War nicht so gemeint. Meine Gute. Tut mir leid. Pass auf. Wenn du der Stra?e folgst, ist das ein Umweg von mindestens hundert Kilometern. Verstehst du? Das Ding schlangelt sich kreuz und quer durch die Landschaft. Sieh einfach zu, dass dir die Sonne vormittags auf die linke und nachmittags auf die rechte Schulter scheint. Sonst marschierst du am Ende noch im Kreis.«
»Ich bin kein Hund.«
»Ich hab’s kapiert. Hast du mir uberhaupt zugehort?«
»Ich, ah … nein.«
Sie gingen weiter, doch es dauerte noch einmal zwanzig Minuten, bis Geung dem Igel seinen Ausrutscher verzieh. Dass er versehentlich auf ihn geschossen hatte, geschenkt. Aber ihn einen Hund zu nennen, das ging eindeutig zu weit. Inzwischen hatte sein Begleiter sich uberlegt, wie er ihm die Anweisungen am besten verstandlich machen konnte. Geungs Proviant steckte in einer Umhangetasche aus Stoff mit langem Schulterriemen. Da sich die Schusswunde an seiner rechten Schulter befand, schlang er Geung den Riemen uber die linke Schulter, sodass die Tasche an seiner rechten Hufte ruhte. Er erklarte ihm, die Sonne musse ihm morgens den Rucken hinauf- und nachmittags den Bauch wieder hinunterwandern. Er hatte sich dazu ein kleines Liedchen ausgedacht, das sich sogar reimte: »Geht die Sonne morgens auf/Rutscht sie mir den Buckel rauf/ Und abends sinkt vom Scheitel/sie mir in den Beutel.«
Sie hatten es wohl an die tausend Mal gesungen, als sie am Fu? des Kuang-Si-Wasserfalls eintrafen. Der Igel wusste immer noch nicht recht, ob Geung verstanden hatte, was er ihm begreiflich machen wollte, auch wenn er das Lied inzwischen auswendig kannte. Er fullte eine Feldflasche mit Wasser aus dem klaren Bach und steckte sie in die Tasche zu dem gestohlenen Proviant und dem kleinen Opiumvorrat, der Geungs Schmerzen lindern sollte, falls sich die Schulter meldete. Er nahm Geung das Versprechen ab, nicht alles Opium auf einmal zu schlucken, worauf Geung emport erwiderte, er sei nicht dumm.
»Nein, woher denn«, sagte der Igel, machte kehrt und uberlie? Geung sich selbst. »Folge einfach dem Fu?weg«, sagte er. Zwar glaubte er kaum, dass Geung es nach Vientiane schaffen wurde, aber das spielte keine Rolle. Die Verdienste, die sich der Bandit erworben hatte, machten dieses kleine Minus spielend wett. Nicht einmal ein Esel war so blod, zweihundertfunfzig Kilometer zu Fu? zuruckzulegen, noch dazu an einem Tag, der so trocken war wie das Skrotum eines Toten.
Panoy hatte die Nacht gut uberstanden. Ihr Atem ging flach, aber ihr Allgemeinzustand gab Anlass zur Hoffnung. Dtui wagte es sogar, die Kleine fur eine Stunde allein zu lassen und mit den Arzten in den Hohlenkomplex hinuberzugehen, in dem die Kubaner untergebracht gewesen waren. Auf dem Hohepunkt des Bombardements hatten an die zweihundert Dorfbewohner in dem Hohlensystem Unterschlupf gefunden, das die knapp einen Kilometer entfernt gelegenen Kalksteinfelsen durchzog. Inzwischen diente der vordere Bereich als Lagerraum und besonders in der Regenzeit zur trockenen Aufbewahrung von Futtermitteln. Der Rest war verlassen.
Auf dem Weg zu den Hohlen erzahlte Santiago der jungen Krankenschwester von dem Durchhaltevermogen der Einheimischen, die massiven Militarschlagen widerstanden und selbst wahrend der Luftangriffe stets ein Lacheln auf den Lippen gehabt hatten. Schmunzelnd erzahlte er ihr, der amerikanische Au?enminister habe Vietnam zu Beginn des Konflikts als Schwein bezeichnet und hinzugesetzt, Laos sei nichts weiter als eine Warze am Hinterteil besagten Borstentiers. »Und wie viel Arger hat diese kleine Warze den gro?en Americanos doch bereitet.«
Vor dem Hohleneingang machte Santiago sie mit dem Sheraton bekannt. Es stand sogar in Kreide auf einem kleinen Felsvorsprung: SHERATON DE LAOS. In der Empfangshalle, einer gro?en, hohen Hohle, in der die meisten Einheimischen Zuflucht gefunden hatten, setzten sie ihre Stirnlampen auf. Santiago fuhrte sie in einen kleineren Raum, der das kubanische Kontingent beherbergt hatte. Er stand leer, und abgesehen von dem einen oder anderen in die Wand geritzten Kalender erinnerten weder Plakate noch andere Uberbleibsel an damals.
Auch Santiago hatte wahrend seiner Zeit im Lazarett hier gehaust. Obgleich es sich um ein Gemeinschaftsprojekt von Vietnamesen und Kubanern handelte, bewohnten die Vietnamesen eine eigene Hohle und mieden den Umgang mit den Kubanern. Dort war Santiago dem Genossen Lit das erste Mal begegnet und prompt mit ihm aneinandergeraten. Vor seiner Ernennung zum Leiter der Bezirksstaatssicherheit hatte Lit die vietnamesischen Ingenieure betreut und uberwacht. Obwohl die Kubaner uber handwerkliches Geschick und umfassende Kenntnisse verfugten, behandelte Lit sie wie Provinztolpel, die bestenfalls fur Zuarbeiten taugten. Als seine Vorgesetzten Lit mitteilten, dass er seine Befehle ab sofort von Dr. Santiago entgegennehmen werde, der noch dazu zum Leiter des Projekts berufen worden sei, verlor Lit das Gesicht. Santiago war uberzeugt, dass Lit ihm das bis heute nicht verziehen hatte.
Da Dtui ihm nur schwer folgen konnte, erklarte Santiago sich bereit, sowohl seine Ausdrucksweise als auch seine Erklarungen moglichst schlicht zu halten. Er erzahlte ihnen, dass er die stets gut gelaunten
Die Palo-Praktiken waren im Allgemeinen harmlos. Viele Kubaner machten davon Gebrauch, ebenso wie der Durchschnittslaote gelegentlich ein Horoskop las. Manche suchten Schamanen auf, um sich Rat zu holen oder auch einfach nur um ein wenig zu plaudern. Einige beruhmte Palo-Mayombe-Schamanen konnten angeblich Wunder vollbringen. Die meisten leisteten lediglich Nachbarschaftshilfe. Doch es gab einen kleinen Kult, einen Ableger von Palo, der ungleich finsterere Ziele verfolgte. Er nannte sich Endoke, nach dem Bosesten aller Wesen, und versuchte die Geister durch Opferungen und Blutvergie?en zu beschworen. Santiago kannte nicht wenige Patienten, denen Endoke eher geschadet als geholfen hatte.