fur sich gewinnen konnten. Nichts war einem gelungenen Volksaufstand abtraglicher als die Existenz echter Menschen und der Druck, deren uberzogene Anspruche zu befriedigen.
Das laotische Volk des Jahres 1977 wurde allmahlich unruhig. Es hatte den neuen Machthabern ein Jahr Zeit gegeben, ihre Fahigkeiten unter Beweis zu stellen, doch die Erfolge blieben aus. Manche Leute verstiegen sich sogar zu der Behauptung, die Kommunisten seien nicht besser als die Royalisten. Im Politburo hatte der blinde Rausch des Sieges einer ungesunden Paranoia Platz gemacht, und die daraus resultierenden Ma?nahmen stie?en in der Bevolkerung auf zunehmenden Widerstand. Feste wurden entweder abgesagt oder aber strengen Auflagen unterworfen, um Massenauflaufe zu verhindern. Religion, Kultur und Aberglaube waren verpont, wodurch sich die Zahl der feierlichen Anlasse betrachtlich reduzierte. Dr. Siri meinte, ebenso gut konne man den Leuten gestatten, eine Brille zu tragen, die Verwendung von Brillenglasern jedoch unter Strafe stellen.
Auch das Raketenfest im Mai war dieser Regelung zum Opfer gefallen, denn Horden aufgebrachter Dorfbewohner, die noch dazu mit Unmengen von Schwarzpulver hantierten, konnten die Behorden unter keinen Umstanden dulden. Die Regierung verbot Versammlungen innerhalb geschlossener Ortschaften und verbannte samtliche Feierlichkeiten auf abgelegene Felder, die sowohl von Uniformierten als auch von schlecht getarnten Soldaten in Zivil uberwacht wurden. Weiblichen Geistermedien, eigentlich unabdingbar fur das Fest, hatte man die Teilnahme streng untersagt. Alkohol und laute Musik waren tabu, und bei Einbruch der Dunkelheit mussten die Festlichkeiten beendet sein. Die Pulvermenge, mit denen die Bambusrohre gefullt werden durften, war so gering, dass viele selbstgebaute Raketen kaum vom Start wegkamen. Sie schraubten sich torkelnd ein paar Meter in die Hohe, bevor sie vergluhten und zur Erde sturzten. Jubelrufe waren kaum zu horen, dafur umso haufiger die panischen Schreie von Zuschauern, die Hals uber Kopf das Weite suchten.
Nicht nur stie? das Debakel den enttauschten Dorfbewohnern sauer auf, es hatte noch viel weitreichendere Folgen. Das Raketenfest war ein Fruchtbarkeitsritus. Der ohrenbetaubende Larm und die ausgelassene Frohlichkeit sollten die Gotter der Wollust aus ihrem einjahrigen Schlummer rei?en. Die Geistermedien mahnten die derart unsanft geweckten hoheren Wesen, dass es an der Zeit sei, den Regen zu schicken und die Felder zu begrunen. Die phallischen Raketen sollten sie zu einer himmlischen Orgie animieren, auf dass ihre Lendensafte das Land befruchteten und reiche Ernte brachten.
Das war der feste Glaube der Dorfbewohner. In den kalten Sozialistenherzen der neuen Machthaber war fur solch mythologischen Unfug naturgema? kein Platz. Die marxistisch-leninistische Lehre hatte keine Zeit fur Marchen. Buddhismus und Animismus waren Sunden wider das rationale Denken, und dem kommunistischen System ging Logik uber alles. Sie wurden schon sehen, diese Einfaltspinsel. Im Mai wurde wie immer der Regen kommen und den Glauben des Volkes an die sozialistische Ordnung starken.
Die muden Feierlichkeiten zum 1. Mai trafen auf denselben gebremsten Enthusiasmus wie das Raketenfest. Aus Mai wurde Juni, und die Fruchtbarkeitsgotter lagen immer noch in tiefem Schlummer. Kein Wolkchen trubte den Himmel, die Reisfelder verdorrten, und im Erdboden taten sich tiefe Risse auf. Als der Juli kam, hatten die Leute keinen Zweifel mehr, dass diese noch nie da gewesene Durre auf das Konto der neuen Regierung ging. Der Sozialismus war schlecht furs Wetter. So viel war selbst dem schlichtesten aller schlichten Gemuter klar. Samtliche Versuche der Regierung, den Widerstand in der Bevolkerung zu brechen, hatten das genaue Gegenteil bewirkt.
Herr Geung wusste von all dem weiter nichts, als dass die Reisstoppeln unter seinen Fu?en knirschten, doch in seinen neuen Stiefeln kam er gut voran. Sie hatten dem Mann der alten Dame gehort, der in seiner Urne damit vermutlich wenig anfangen konnte. Ihrem Sohn waren sie zu klein, Geung hingegen passten sie wie angegossen, und er trug sie voller Stolz. Sie hatte ihm ein gro?es Paket Trockenproviant mitgegeben und ihn mit einer stinkenden Salbe eingerieben, die ihm die bosartigen, mit dem Dengue-Bazillus infizierten Stechmucken vom Leibe halten sollte, die das Land unsicher machten.
»W… wir sollen der St… St… Stra?e folgen«, erklarte er Dtui, die neben ihm her ging. »A… aber so, dass uns k… keiner sieht.« Beim Fruhstuck hatte die alte Frau ihm seine Geschichte aus der Nase gezogen und ihn gewarnt, dass die Soldaten, denen er entwischt war, todsicher nach ihm suchen wurden.
»Bleib in der Nahe der Stra?e, aber pass auf, dass dich niemand sieht«, hatte sie ihm eingescharft. »Wenn von hinten ein Auto kommt, das nicht grun ist wie ein Militarfahrzeug, lass dich mitnehmen. Halte dich von allem fern, was grun ist. Kapiert?«
Die Worte hatten sich in sein Gedachtnis eingebrannt, doch ganz begriffen hatte er sie nicht. »Von hinten« fand er besonders verwirrend, denn was hinter ihm lag, hing schlie?lich davon ab, in welche Richtung er sich drehte. Und da er standig durch das Laub der Baume spahte, war entlang der Stra?e praktisch alles grun.
Geung war den ganzen Tag marschiert. Er musste schnellstmoglich ins Leichenschauhaus zuruck, und das hielt ihn auf den Beinen. Er achzte. Er keuchte. Samtliche Knochen taten ihm weh. Seine Angst kam und ging, und der Boden schwankte unter ihm, als ritte er auf dem Rucken eines Drachen nach Vientiane. Doch als er einen lauten Knall horte und sah, wie ein Blutfleck an seinem Hemd erschien, blieb er erstaunlich ruhig.
»Eine Sch… Sch… Schusswunde«, sagte er, als wurde er einem Pathologen seinen Zustand schildern. Er ruhrte sich nicht von der Stelle und sah zu, wie der rote Fleck sich in ein Land verwandelte, eines der Lander in Dtuis Atlas, in dem angeblich Millionen von Menschen lebten. Was mussten das fur klitzekleine Menschen sein. Fasziniert beobachtete Geung, wie der Fleck die ungefahren Umrisse der UdSSR annahm. Dann wurde er leichenblass und fiel zu Boden wie ein Zaunpfahl.
Chaos. Panik. Immer neue Notfalle und Katastrophen. Bald schon schalten sich drei Kategorien von Notfallen heraus: Alles-stehen-und-liegen-lassen-Notfalle, Tun-wasman-kann-Notfalle und Abwarten-und-Tee-trinken- Notfalle. Auch fur Katastrophen gab es eine Bewertungsskala: unvermeidlich, wir-haben-alles-Menschenmogliche- getan, meine Schuld/Ihre Schuld. Daruber hinaus galt es, gottgleiche Entscheidungen zu treffen, etwa welcher Patient am ehesten den Tod verdiente. Am Nachmittag ihres zweiten Tages fragte sich Dtui allen Ernstes, ob ihr Herz verkummert war. Sie spurte nichts mehr. Sie nahm die Menschen nicht mehr als Menschen wahr. Und den Tod nicht mehr als Tragodie. Ihre Patienten waren keine Hufschmiede oder Hausfrauen mehr, sondern nur noch Prozentsatze. »Mit ein wenig Geschick und ein wenig medikamentoser Unterstutzung hat diese Patientin – nennen wir sie Nummer sieben – eine vierzigprozentige Uberlebenschance.«
Wenn sie ordentliche Arbeit leisten wollte, durfte sie keinen Anteil nehmen, und diese Erkenntnis fand sie ebenso verbluffend wie betrublich. Ihr wurde klar, dass Dr. Siri nach all den Jahren als Feldchirurg vermutlich schon lange in Prozentsatzen dachte. Es hatte ihn nicht gefuhllos werden lassen, nur nachdenklich, philosophisch. Wenn er einen Patienten verlor, war das leichter zu ertragen, wenn die Chancen ohnehin schlecht standen. Daran wollte sich Dtui bei Kilometer 8 ein Beispiel nehmen.
Gegen Abend lie? der Andrang langsam nach. Zwei hatten sie den Hang hinaufschicken mussen. Drei hatten sie stabilisiert. Dtui war vom Adrenalin derart berauscht, dass sie wie auf einem fliegenden Teppich dahinschwebte. Obwohl sie todmude war, hatte sie nicht einmal ein Hieb mit dem Vorschlaghammer in Schlaf versetzen konnen. Sie durchstreifte die Krankensale mit stierem Blick, wie ein gro?er, unerschrockener Eisbar. Sie notigte Patienten, am Leben zu bleiben, und befahl Medikamenten zu wirken. In einer Ecke des Saals suchte Meej, der Hmong-Pfleger, den stabchendurren Arm eines Patienten vergeblich nach einer Vene ab. Meej war ein stammmiger, gut aussehender Mann von Mitte zwanzig. Wie Dtui hatte er stets ein Lacheln auf den Lippen.
Dtui massierte den Arm des Patienten, bis sich ein schwacher blaulicher Schatten unter der Haut abzeichnete. Sie rammte die Nadel hinein. In Sekundenschnelle hing der Patient an seinem Tropf, und sie lotste den Pfleger nach drau?en.
»Wie fuhlen Sie sich?«, fragte sie.
»Wie erschlagen«, gestand er.
»Da geht’s Ihnen wie mir. Zahlen Sie nur diejenigen, die Sie retten konnten. So mache ich das. Vergessen Sie die anderen. Sie waren so oder so gestorben.«
»Ist gut. Danke.«
»Ich hatte da eine Frage zu Frau Duaning.«
»Ist sie tot?«
»Sie ist schwach, aber noch am Leben. Ich habe mich uber das Blut an ihren Fu?en gewundert.«
»Ach, das. Das ist ein alter Aberglaube. Wenn jemand schwer krank ist, bestreichen die Verwandten seine Fu?e mit Blut.«
»Korperlich oder geistig?«
»Sowohl als auch. Es soll die bosen Geister fernhalten.«