harrte bereits sehnsuchtig des Umzugs in ein komfortableres Domizil. Die Verwaltung befand sich im selben Gebaude wie die Aufnahme, und Siri und Dtui fanden Dr. Santiago umringt von einem machtigen Gebirgsmassiv aus Buchern und Aktenordnern. Er war etwa so alt wie Siri, ein durres Mannlein mit wirrer Albert-Einstein-Frisur. Seine Brille hatte bullaugengro?e Glaser und war so dick wie der Boden einer Thai-Rum-Flasche. In dem Aschenbecher neben ihm lag eine qualmende Zigarette, und der Rauch umwolkte seinen hageren Schadel. Er war es offenbar gewohnt, dass man in seinem Buro ein und aus ging, denn er blickte nicht von seiner Arbeit auf, als die beiden Besucher hereinkamen.

»Dr. Santiago?«, sagte Siri, als er ihn hinter den Bergen von Papier erspahte.

»Da?« Der alte Kubaner brutete noch immer uber seinen Listen. Dass er Russisch sprach, wunderte Siri nicht. Obwohl Dr. Santiago schon seit fast zehn Jahren als Leiter der medizinischen Entwicklungshilfe in Houaphan tatig war, weigerte er sich beharrlich, Laotisch oder Vietnamesisch zu lernen. Er sprach flie?end Spanisch, Englisch und Russisch und verspurte nicht die geringste Lust, in seinem vorgeruckten Alter noch eine weitere Fremdsprache zu lernen. Er hatte schlie?lich nicht darum gebeten, nach Laos versetzt zu werden und sich mit den Vietnamesen herumschlagen zu mussen, die er auf den Tod nicht ausstehen konnte. Jedenfalls dachte er nicht im Traum daran, kulturelle Graben zu uberwinden. Er war der Experte, also lag die kommunikative Bringschuld bei den anderen. Alles in allem war er wie Siri ein ebenso sturer wie charmanter alter Kauz.

»Dosvidanje«, sagte Siri. Es war das einzige russische Wort, das er kannte, auch wenn er nicht recht wusste, was es zu bedeuten hatte.

Endlich blickte Santiago auf und blinzelte durch seine Brille. Es dauerte ein paar Sekunden, bis er seine Gedanken geordnet und seinen alten Freund wiedererkannt hatte. »Das ist doch nicht etwa … Dr. Siri?«, fragte er auf Englisch. Er sprang von seinem Stuhl und lief um den Schreibtisch, um den hochverehrten Kollegen zu umarmen. Grinsend und lachend fielen sie einander in die Arme, aber Dtui bemerkte rasch, dass sie sich nicht verstandigen konnten. Siri hatte ihr erzahlt, dass er und Dr. Santiago mit Unterbrechungen funf Jahre zusammengearbeitet hatten, obwohl sie uber keine gemeinsame Sprache verfugten. Zwar sprach Siri einigerma?en flie?end Vietnamesisch und Franzosisch, aber auch er hatte sein Sprachpensum erfullt. Wenn gerade kein Englisch-Laotisch-Dolmetscher zur Stelle war, hatten die beiden sich darauf beschrankt, die chirurgischen Fahigkeiten des jeweils anderen zu bestaunen und mittels Skizzen oder Gebarden kommuniziert. Sie hatten sich trotz aller Hindernisse so prachtig verstanden, dass Siri sich manchmal fragte, ob eine gemeinsame Sprache ihrer Beziehung nicht womoglich geschadet hatte.

Siri loste sich aus Santiagos Umarmung und deutete auf seine Assistentin. »Schwester Dtui«, sagte er.

»Hallo, Dr. Santiago. Freut mich sehr«, sagte sie auf Englisch.

Siri und Santiago starrten Dtui ein paar Sekunden verdutzt an, dann schloss der Kubaner auch sie in die Arme. Es war eine fur Laoten ganz und gar deplacierte Geste, die dem Geist des Augenblicks jedoch mehr als angemessen schien. Er lobte ihr vorzugliches Englisch.

»Ich kann es zwar lesen und schreiben«, sagte sie, »aber mit dem Sprechen hapert es noch.« Es stimmte. Sie hatte noch kein einziges Wort Englisch geredet. Die Sprache diente ihr allein zu Studienzwecken. Dtui war selbst ein wenig uberrascht, als die Worte so aus ihr herausgesprudelt kamen.

Er versicherte ihr, es sei in jedem Fall dieselbe Sprache, ganz gleich, ob man sie spreche oder schreibe. Und obwohl sie es nur unzureichend beherrschte, war das Englische von nun an ihre Kommunikationssprache und Dtui ihre frischgebackene Dolmetscherin. Sie wusste, dass ihre Aussprache sehr zu wunschen ubrig lie?, was Santiago jedoch nicht weiter storte, denn sein Akzent war nicht minder schauderhaft. Auch er hatte sein Englisch aus amerikanischen Lehrbuchern. Siri war voll der Bewunderung fur seine begabte Assistentin.

Im Lauf des Vormittags erzahlten sich die beiden alten Manner, wie es ihnen seit ihrer letzten Begegnung ergangen war. Die Verwaltung der kubanischen Hilfsgelder sei derart arbeitsintensiv, erklarte Santiago, dass ihm fur seine eigentliche Tatigkeit kaum noch Zeit bleibe. Und obgleich immer mehr Bauern auf den Feldern in die Luft gesprengt wurden, gab es immer weniger Personal, das sie behandeln konnte. Da es im ganzen Land keine hundert qualifizierten Mediziner gab, mussten die PL-Doktoren doppelte Arbeit leisten, um den Verlust der royalistischen Arzte wettzumachen, die sich beizeiten nach Thailand abgesetzt hatten.

Mit Dtuis Hilfe, deren Selbstvertrauen von Minute zu Minute wuchs, kam Siri schlie?lich auf das Ratsel seiner Zementleiche zu sprechen. Der Kubaner sann einen Augenblick daruber nach und fragte dann, ob er sicher sei, dass sich der Vorfall Anfang des Jahres ereignet habe.

»Am 21. Januar, um genau zu sein«, sagte Siri.

»Dr. Santiago sagt, wenn es ein paar Monate fruher geschehen ware, hatte er uns mit zwei aussichtsreichen Kandidaten dienen konnen«, ubersetzte Dtui. »Falls ich ihn richtig verstanden habe. Aber die beiden sind seines Wissens schon vergangenen Oktober nach Kuba zuruckgekehrt.«

»War ihr Einsatz hier beendet?«

»Nicht direkt. Er sagt, die Sache liege ein wenig komplizierter. Die beiden seien 1971 wegen irgendeines Projekts bei Kilometer 8 hierhergekommen.«

»Xieng Muang«, sagte Siri. »Das ist das Lazarett. Ein kleines Wunderwerk. Sie hohlten zwei Berge aus und bauten zwei komplette Krankenstationen, die aus der Luft nicht zu sehen waren, aber tausend Patienten aufnehmen konnten. Eine beeindruckende Ingenieurleistung. Das vietnamesische Militar lieferte die Arbeitskrafte; die Kubaner stellten Schwestern und Pfleger zur Verfugung.«

»Er meint, Sie erinnern sich vielleicht noch an die beiden. Sie hie?en Isandro und Udon.«

»Odon«, verbesserte Santiago.

»Pardon, Odon. Er sagt, sie waren von Anfang an dabei.«

Siri nickte. Zwar war er nur hin und wieder nach Xieng Muang beordert worden, um als Chirurg auszuhelfen, und hatte dazu stets sein laotisches OP-Team mitgenommen, erinnerte sich jedoch durchaus an die schwarzen Krankenpfleger auf der Station. Auch wenn er mit ihnen nie auch nur ein Wort gewechselt hatte.

»Wahrend der Bauarbeiten«, ubersetzte Dtui weiter, »wurden die Verwundeten hier und da in provisorischen Hohlen verarztet. Isandro und Odon taten dort als Chefkrankenpfleger Dienst. Als das Lazarett bei Kilometer 8 schlie?lich fertig war, wurden samtliche Patienten dorthin verlegt. Nachdem die beiden ihre vier Jahre hinter sich hatten, meldeten sie sich freiwillig zu einem zweiten Einsatz. Das war anscheinend ziemlich ungewohnlich. Die meisten Kubaner wollten so schnell wie moglich zuruck nach Hause. Aber die beiden waren flei?ig und hatten sich mit den Einheimischen angefreundet. Sie hatten Laotisch gelernt und sogar Geschmack an der hiesigen Kuche gefunden«, sagte sie und setzte vorsichtshalber hinzu: »Auch wenn ich dafur nicht die Hand ins Feuer legen wurde.«

Siri ignorierte ihren Warnhinweis. »Und warum wurden sie dann vorzeitig nach Hause geschickt?«, fragte er.

Es dauerte eine Weile, bis sich Dtui und der alte Kubaner einig waren.

»Wie es scheint«, sagte Dtui, »gab es Beschwerden.«

»Von wem?«

»Ein ranghoher Offizier der vietnamesischen Armee behauptete, einer der beiden, Isandro, habe seiner Tochter Avancen gemacht. Er nahm kein Blatt vor den Mund: Wenn er den Mann noch einmal in ihrer Nahe erwische, werde er ihn erschie?en.«

»Und das hat Dr. Santiago ihnen mitgeteilt?«

»Ja. Aber die beiden setzten sich einfach uber ihn hinweg. Sie sagten, sie hatten keine Angst, weder vor ihm noch vor dem Oberst. Er konnte es nicht fassen. Die Lage spitzte sich zu. Und da der Doktor nicht die Absicht hatte, seine Leute von einem wild gewordenen Vietnamesen abknallen zu lassen, nur weil sie mit seiner Tochter geschakert hatten, blieb ihm nichts anders ubrig, als sie nach Hause zu schicken.«

»Und er ist hundertprozentig sicher, dass sie diesem Befehl gefolgt sind?«

»Hundertprozentig.«

»Und es gibt nicht zufallig ein anderes kubanisches Projekt, das dunkelhautige Kubaner als vermisst gemeldet hat?«

»Er sagt, es war das einzige kubanische Projekt in dieser Gegend.«

»Konnten Sie Dr. Santiago vielleicht bitten, mir Isandro zu beschreiben?«

Wieder steckten Dtui und der kubanische Arzt die Kopfe zusammen.

»Wenn ich richtig verstanden habe«, sagte Dtui, »war er ein Mann wie ein Baum – gro? und breitschultrig wie ein amerikanischer Basketballspieler – und barenstark.«

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