Er stutzte sich auf die Tischplatte und erhob die Stimme, sodass ihn alle horen konnten. »Helfen Sie mir auf die Sprunge, junge Frau – arbeitet Dr. Siri fur das Justizministerium?«

»Ja, Richter Haeng.«

»Und bin ich der Leiter des Justizministeriums?«

Manivone rief sich ins Gedachtnis, dass sie drei Kinder zu ernahren hatte. »Ja, Richter Haeng.«

»Und tut er, was ich ihm sage, oder tue ich, was er mir sagt?«

»Also, wenn Sie mich so direkt fragen. Weder noch, Genosse.« Eine ebenso unbesonnene wie zutreffende Bemerkung. Die umgehend mit einer Parteilosung bestraft wurde.

»Jetzt werden Sie mal nicht frech, Genossin Manivone. Im sozialistischen Bienenstock ist eine Biene so wichtig wie die andere. Aber wenn die Drohne der Konigin gegenuber den notigen Respekt vermissen lasst, flie?t der Honig nicht halb so su?. Merken Sie sich das.«

»Jawohl, Richter Haeng.«

Er blickte zu den Schreibern, die sich eilends wieder ihrer Arbeit widmeten. Mit einem blasierten Lacheln auf den Lippen stolzierte er zu seinem Buro. Er hatte einen buhnenreifen Abgang hingelegt, ware die verklemmte Tur nicht gewesen. Er warf sich laut fluchend dagegen, bis sie schlie?lich nachgab und er in sein Buro stolperte. Die Tur flog hinter ihm ins Schloss.

»Gott schutze die Konigin«, kommentierte ein Schreiber das verdruckste Gelachter seiner Kollegen.

Herrn Geungs Angst wuchs mit jedem Kilometer, den sich der Transporter weiter von Vientiane entfernte. Einige der Soldaten befurchteten, er konne jeden Moment durchdrehen. Er kam ihnen vor wie ein Tier in der Falle, das sich glatt den eigenen Fu? abbei?en wurde, um sich zu befreien. Selbst dem Feldwebel kamen leise Bedenken, als er Geung schlotternd und bibbernd auf der Holzbank sitzen sah. Aber seine Anweisung war klar und deutlich: Er sollte ihn bei einem Arbeitstrupp im Norden abliefern. Und da der Befehl direkt aus dem Justizministerium kam, konnte er ihn unmoglich verweigern. Seit Einbruch der Dunkelheit reagierte der Gefangene nicht mehr auf die Fragen der Soldaten, und ihre Versuche, ihn aufzuheitern, zeitigten nicht die geringste Wirkung. Sie begriffen weder, wie sehr ihn sein Gewissen qualte, weil er seine Freunde im Stich gelassen hatte, noch wie furchtbar einsam und traurig er war.

Die Einheit wollte im Lager des Achten Bataillons bei Van Khi ubernachten. Der Transporter fuhr auf das umzaunte Gelande, und als Geung den Kopf hob, sah er, wie sich das Tor hinter ihnen schloss. Jeder Fluchtversuch war zwecklos.

5

EIN DUMMKOPF AUF ABWEGEN

Eine Obduktion dient nur einem Zweck: der Aufklarung eines ratselhaften Todesfalles. Ist das Ratsel auch nach drei Stunden noch nicht gelost oder gibt gar immer neue Ratsel auf, so sollte man sich allmahlich mit dem Gedanken anfreunden, dass die Operation ein Fehlschlag war. Siri und Dtui wechselten bei jeder neuen Frage, auf die es keine Antwort gab, kopfschuttelnde Blicke. Zugegeben, der Zustand der Leiche machte ihnen die Arbeit nicht eben leichter. Der Zement war Ende Januar gegossen worden, der Leichnam hatte also funf Monate Zeit gehabt, in Ruhe zu mumifizieren. Alles war stark geschrumpft, und samtliche Verletzungen oder Anzeichen fur etwaige Krankheiten verbargen sich in dem knotigen Gewebe unter dem dicken Panzer, in den sich die Haut verwandelt hatte.

Immerhin waren sie gleich zu Beginn auf drei geringfugige Unregelma?igkeiten gesto?en. Erstens umklammerte die rechte Faust einen langen, dunnen Schlussel mit kreisrunder Raute und einfachem Bart. Zweitens, aber das war im Grunde nicht weiter verwunderlich, wiesen die Zahne des Leichnams eine rosa Verfarbung auf, was den Schluss nahelegte, dass der Mann eines gewaltsamen Todes gestorben war. Drittens ragte an der Stelle, wo sich der Brustkorb des Opfers befunden hatte, ein langer, abgebrochener Fingernagel aus dem Beton, obwohl die Nagel der Leiche kurzgeschnitten waren. Er war mit einer Art Lack uberzogen und deshalb recht gut erhalten. Woraus sie folgerten, dass der Nagel ursprunglich in der Haut des Opfers gesteckt hatte.

Diese Besonderheiten hatten sich relativ unschwer feststellen lassen. Nicht so die anderen. Das Einschussloch im Brustkorb beispielsweise hatten sie erst sehr viel spater entdeckt, und auch das nur, weil sie die Haut Zentimeter fur Zentimeter mit den Fingerspitzen abgetastet hatten. Es gelang Siri, eine dunne Hakelnadel in die winzige Offnung einzufuhren, doch so bekam er die Kugel nicht zu fassen. Sie beschlossen, damit bis zur inneren Leichenschau zu warten.

Es sprach einiges dafur, dass der Mann kein Asiate war. Die Gesichtsstruktur sowie die vollen Lippen lie?en darauf schlie?en, dass es sich bei dem Toten um einen Negriden handelte. Zwar mochte dies bis zu einem gewissen Grad auf die postmortale Austrocknung zuruckzufuhren sein, aber die Haut war dunkler als bei mumifizierten Leichen ublich. Die Zahne der Leiche bestatigten Siris Hypothese. Dtui hatte sie vorsichtig von Betonresten befreit und so den Umriss des Gaumens freilegen konnen. Zwischen den mittleren Schneidezahnen des Oberkiefers befand sich eine Lucke, ein eindeutiges Indiz fur die afrikanische Herkunft des Toten.

Sehr viel mehr hatte die Sektion der Leiche nicht ergeben. Das Vorhandensein eines sauberen Einschussloches, nicht aber der dazugehorigen Kugel, stellte Siri und Dtui vor ein Ratsel. Obwohl das Projektil den Korper nicht durchschlagen hatte, war es ihnen trotz grundlicher Suche nicht gelungen, es zu finden. Und das war nur eine von vielen ungelosten Fragen.

Lit war gekommen, um sich nach dem Obduktionsbefund zu erkundigen. Sie setzten sich mit einer Thermoskanne Tee und drei Blechtassen auf die Veranda des Gastehauses. Es war vier Uhr nachmittags und fur diese Tageszeit erstaunlich still. Sie hatten noch nicht uber den Toten gesprochen.

»Sieht ganz so aus, als hatten die Polizisten sich verlaufen«, sagte Dtui, als ihr auffiel, dass die Transporter noch nicht zuruck waren. Siri hatte ihr seinen Verdacht hinsichtlich ihres Schicksals wohlweislich verschwiegen.

Genosse Lit zeigte sich weitaus mitteilsamer. »Die Lakaien der Amerikaner kommen nicht wieder«, erklarte er ihr ganz nebenbei. Siri kannte die Schmahungen, mit denen die Partei die Funktionstrager des alten Regimes zu belegen pflegte, nur zu gut, doch Dtui hob bei den Worten des Sicherheitschefs verdutzt die Augenbrauen, als habe sie soeben eine ganz neue Seite an ihm entdeckt. Sie hatte sich nicht zu wundern brauchen. Ein Kader, der schon in so jungen Jahren in eine so wichtige Stellung aufgestiegen war, wusste genau, wie man sich moglichst elegant an der Parteilinie entlangbewegte. Eine Gratwanderung, die jederzeit mit einem todlichen Absturz enden konnte.

»Warum nicht?«, fragte Dtui.

»Weil sie in ein Lager uberstellt worden sind«, antwortete Lit.

»Ach wirklich? Ich kann mich nicht entsinnen, dass sie heute Morgen mit Gepack auf den Transporter gestiegen waren.«

»Nein.«

Offenbar glaubte Lit, der leidigen Fragerei mit diesem Nein ein jahes Ende gemacht zu haben, aber da kannte er Dtui schlecht.

»Und warum sind sie ohne ihre Sachen uberstellt worden?«

Siri wusste, dass sie damit hart am Abgrund balancierte. Lit war den ganzen Tag von ausgesuchter Hoflichkeit gewesen, doch auf solche Fragen reagierten treue Parteisoldaten wie er normalerweise hochst allergisch; sie waren keinen Widerspruch gewohnt.

»Ich finde, wir sollten uns jetzt unserer Zementleiche zuwenden«, sagte der Doktor.

Aber Lit lie? nicht locker. »Weil sie ihre Sachen da, wo sie jetzt sind, nicht mehr brauchen, Schwester Dtui.«

»Keine Sachen?« Dtui stand am brockelnden Rand der Klippe. »Keine Kleider? Keine Seife? Keine Andenken an daheim?«

»Nein.«

»Und warum nicht?« Plotzlich herrschte zwischen den beiden ein Vakuum.

»Weil sie lernen mussen, ohne all das auszukommen.«

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