»Ohne Kleider? Nachts ist es hier oben eisig kalt. Sie werden sich den Tod holen.«
»Schon moglich. Aber wer nicht im Stande ist, sich neuen Gegebenheiten anzupassen, wird ihnen fruher oder spater naturgema? zum Opfer fallen.«
Siri unternahm einen zweiten Versuch. »Ich finde, wir …«
»Wie bitte? Anpassen? Was sollen sie denn machen? Sich uber Nacht einen dichten Pelz wachsen lassen?« Sie hatte sich kopfuber in die Schlucht gesturzt und war rettungslos verloren.
Lit richtete sich zu voller Sitzgro?e auf und sagte laut: »Wir sind keine Unmenschen, Genossin Dtui. Selbstverstandlich versorgen wir sie mit einer Decke und einer einfachen Mahlzeit. Aber die ersten Tage im Seminar sind so eine Art Hartetest fur die korrupten Lakaien der Amerikaner, die wie die Maden im Speck gelebt und die Massen ausgeblutet haben. Ihre eigenen Exzesse haben sie weich gemacht. Wir geben ihnen Gelegenheit, wertvolle Mitglieder dieser Gesellschaft zu werden.«
»Durch Zwangsarbeit und Grausamkeit?«
»Dtui!«, herrschte Siri sie an. Er wurde langsam wutend, nicht wegen ihrer Fragen, die er fur durchaus berechtigt hielt, sondern weil sie nicht wusste, wann sie den Mund zu halten hatte.
Lit ging zum Angriff uber. »Leute wie Sie wollen einfach nicht begreifen.«
»Leute wie ich? Und wer, bitte, sind ….«
»Schluss jetzt!« Siri knallte seine Blechtasse auf den Tisch. Der Tee schwappte uber den Rand und ergoss sich auf das lackierte Holz. »Das gilt fur Sie beide. Ich bin keine vierhundert Kilometer gereist, um ideologische Grundsatzdiskussionen zu fuhren. Wir sind hier, um ein grausiges Verbrechen aufzuklaren. Ein wenig mehr Disziplin, wenn ich bitten darf!«
Derart in Rage hatte Dtui ihren Chef noch nie erlebt. Obwohl er vermutlich bluffte, wusste sie, dass sie die Grenzen des Erlaubten uberschritten hatte. »’tschuldigung, Doc. Sie haben ja Recht.«
Mit einem Seufzer der Erleichterung schilderte Siri den Zustand der Leiche und die Unregelma?igkeiten, auf die sie bei der Obduktion gesto?en waren. Dtui schwieg.
»Letztlich«, sagte Siri, »deutet alles darauf hin, dass der gute Mann erst angeschossen und dann, noch lebend, in den nassen Zement getaucht wurde, bis er darin buchstablich ertrank. Was ihn das Leben gekostet hat, war ohne Zweifel der Zement, auch wenn ihn die Schusswunde erheblich geschwacht haben durfte. Die Kugel hat einen Lungenflugel durchbohrt.«
»Und Sie glauben, er war schwarz«, setzte Lit hinzu, nun wieder ganz der nuchterne Ermittler.
»Ich wurde nicht unbedingt mein Leben darauf verwetten, aber der Verdacht liegt nahe. Sprich, es handelt sich mit ziemlicher Sicherheit um einen Kubaner.«
Dtui brach ihr Schweigen. »Warum?«
»Die einzigen dunkelhautigen Auslander, denen Sie hier oben begegnen werden, sind Kubaner«, sagte Siri. »Was finanzielle und personelle Unterstutzung angeht, war Senor Castro schon immer sehr spendabel. Gab es hier in der Nahe nicht ein von Kubanern und Vietnamesen gemeinschaftlich betriebenes Krankenhaus?«
»Das gibt es immer noch«, sagte Lit.
»Wirklich? Und wird es auch immer noch von Dr. Santiago geleitet?«
»Wenn mich nicht alles tauscht, verwaltet er die Fordergelder fur die Klinik. Von leiten kann nicht die Rede sein.«
»Ah, ausgezeichnet. Wir kennen uns gut, jedenfalls so gut, wie es zwei Mannern moglich ist, die nicht dieselbe Sprache sprechen. Es ware vielleicht keine schlechte Idee, dem Herrn Doktor einen privaten Besuch abzustatten und nachzuhorchen, ob zu der Zeit, als der Betonweg angelegt wurde, vielleicht der eine oder andere Kubaner verschuttgegangen ist.«
»Dann, ah, darf ich diesen Teil der Ermittlungen Ihnen uberlassen, Doktor?«
Siri fand es merkwurdig, dass der Sicherheitsbeamte die Untersuchung bereitwillig an einen einfachen Gerichtsmediziner delegierte, fragte jedoch nicht weiter nach. Ein wenig Detektivarbeit konnte schlie?lich nicht schaden. »Aber gern.«
»Gut«, sagte Lit. »Dann fahre ich jetzt zuruck in mein Buro. Ich schaue morgen um die gleiche Zeit wieder vorbei. Ich habe die Leute in der Kuche angewiesen, Ihnen drei Mahlzeiten taglich zu servieren. Viel mehr werden sie die nachsten acht Tage ohnehin nicht zu tun haben.« Er stand auf und nickte ihnen zu.
»Bis die nachste Ladung von Lakaien eintrifft«, raunte Dtui dem Doktor zu. Falls Lit sie gehort hatte, lie? er sich das nicht anmerken und ging wortlos davon. Als sein Jeep auf den Feldweg abgebogen war, funkelte Siri seine Assistentin wutend an und schuttelte den Kopf.
»Was ist?«, fragte sie.
»Sie kennen nicht allzu viele Kommunisten, was?«
»Aber Sie sind doch Kommunist.«
»Zwischen einem eingetragenen Parteimitglied und einem
»
»Und ich gebe zu, ich habe lange Zeit an sie geglaubt. Offen gestanden, bin ich eigentlich noch immer davon uberzeugt, dass ein gut funktionierendes sozialistisches System die Welt von ihrer Lethargie und ihrem Egoismus heilen konnte. Aber zu dieser Einsicht mussen die Menschen aus eigenem Antrieb gelangen, durch Klarsicht und Vernunft …«
»Und nicht durch Folter.«
»Genau. Dieses Problem werden Sie allerdings kaum losen, indem Sie Leute wie den Genossen Lit niederbrullen. Niemand brullt lauter als ein Roter.«
»Und wie lasst sich das Problem dann losen?«
»Fruher oder spater lost es sich ganz von allein.«
»Aber bis dahin werden noch viele Menschen leiden.«
»Und da ich Sie nur ungern leiden sahe, ware ich Ihnen sehr verbunden, wenn Sie Ihren hubschen Mund fortan fest geschlossen halten konnten. Das ist ein Befehl. Damit bewirken Sie rein gar nichts. Sie wissen ja, was man uber lose Zungen sagt.«
»Sie werden ausfallend?«
Siri lachte. Die Rolle des gestrengen Zuchtmeisters lag ihm nicht. Dtui schmollte, zeigte jedoch Verstandnis. Sie wusste, dass Siri nur wegen der Frau, die er liebte und der er vierzig Jahre lang die Treue gehalten hatte, in die Partei eingetreten war. Auch heute noch war er Mitglied, besa? allerdings genugend Abstand, um zu erkennen, dass die Pathet Lao sich von den Vietnamesen zu Scho?hundchen hatten abrichten lassen, ebenso wie seinerzeit die Royalisten um die Franzosen und Amerikaner herumscharwenzelt waren. Er hatte sich damit abgefunden, dass seine laotischen Bruder und Schwestern dazu verurteilt schienen, sich stets von noch gro?eren Narren zum Narren halten zu lassen. Zwar war er nicht eben das Paradebeispiel eines Mannes, der wusste, wann er den Mund zu halten hatte, doch Dtuis Erfahrung sagte ihr, dass er mit guten Ratschlagen gewohnlich nicht hausieren ging.
Obwohl er zu Tode erschopft war, walzte er sich auf seiner klumpigen Matratze auch in dieser Nacht schlaflos hin und her. Die Geister auf den Feldern riefen ihn. Unter ihnen befanden sich auch viele treuherzige junge Kader. Nach ihren Kampfen mit den Hmong-Rebellen hatte er sie zu Hunderten zusammengeflickt. Und alle sagten sie dasselbe: »Schau uns an. Das haben wir nun davon. Und was hast du getan? Uns verarztet, damit wir von Neuem in die Schlacht ziehen konnten. Weiter nichts.« Sie hatten Recht. Aber das wollte er nicht horen. Er wollte schlafen, obgleich er wusste, dass er sich im Schlaf den bosen Geistern wurde stellen mussen, die in den dunklen Gassen seiner Albtraume lauerten.
Die kalte, sternenlose Nacht war so finster, dass er selbst mit weit aufgerissenen Lidern weder das zusammengewurfelte Mobiliar noch die eigene Hand vor Augen sehen konnte. Ein unsichtbares Insekt flatterte gegen das Moskitonetz, und er konzentrierte sich auf das Summen seiner winzigen Flugel. Indem er sich einbildete, es sehen zu konnen, und wie hypnotisiert dem Summen lauschte, hoffte er, sich in den Schlaf wiegen zu konnen. Und fast ware ihm das auch gelungen. Die Stimmen waren verstummt, er doste immer wieder ein, doch just in dem Moment, als er endgultig in tiefen Schlummer sank, larmte die infernalische Diskothek von Neuem los. Obwohl es von weither zu kommen schien, breitete sich das Wummern der Basse aus wie ein Erdbeben und drang bis in den ersten Stock des Gastehauses. Es brachte die Bettpfosten – und Siri – zum Vibrieren.
Was war nur mit der Jugend dieses Landes geschehen? Wie hatte sie einen derart grasslichen