Musikgeschmack entwickeln konnen? Und: Lie? sich das schaurige Gejaule qualvoll verendender Amerikaner uberhaupt als Musik bezeichnen? Er wusste nicht mehr, wie viele nervtotende Nummern er uber sich hatte ergehen lassen mussen, als er endlich den ersehnten Schlaf fand.

In seiner Traumwelt herrschte seltene, wohltuende Stille. Eine Krahe und eine Spatzin hockten in luftiger Hohe auf einer Hochspannungsleitung. Diese Leitung konnte nur im Traum existieren, denn eine T-28 flog unter ihr hindurch und nahm das Land aus der Luft unter Beschuss. Bomben sturzten in die Reisfelder und versanken im Schlamm, ohne zu explodieren. Es war ein stummer Traum, nicht einmal von Musik begleitet. Die Krahe putzte die Spatzin, als kummere sie weder ihre Stellung innerhalb der Vogelkaste noch das nahe Schlachtgetummel. Sie waren ganzlich entruckt. Alles andere schien bedeutungslos. Ein beschaulicher Anblick: die neckenden Vogel, die feuernde T-28, die abgeworfenen Bomben, die einfach nicht explodieren wollten.

Zu seinem Entsetzen fand Siri sich plotzlich au?erhalb des Moskitonetzes wieder. Bibbernd stand er da, bekleidet nur mit seiner Unterhose: Ein – wenn auch recht zaher – Festschmaus fur fleischfressende Insekten. Er hatte keinen Schimmer, weshalb er die sichere Zuflucht des Moskitonetzes verlassen hatte oder warum er dort stand. Das matte Licht des Vollmonds quoll durch einen Vorhangspalt, und er sah, dass in dem leeren Bett am anderen Ende seines Zimmers ein Madchen lag. Die Kleine war etwa vier Jahre alt und sichtlich unterernahrt. Als Siri zu ihr trat, blickte sie auf.

»Wie bist denn du hierhergekommen, Schatzchen?«, fragte er. »Und warum hast du kein Moskitonetz?«

Sie lachelte. Als sie zu einer Antwort anhob, klang ihre Stimme wie die einer erwachsenen Frau. »Ich habe nicht viel Zeit, Onkel.«

»Was kann ich fur dich tun?«

»Schau und sieh«, sagte sie.

Plotzlich ertonte ein Grollen, und dann fiel ihnen buchstablich die Decke auf den Kopf. Der Fu?boden gab nach, und sie trudelten langsam in die Tiefe, wie Blatter von einem Baum. Mit ihnen fiel ein junger Gockel. Er blickte Siri in die Augen und stie? ein heiseres Kikeriki hervor.

Fahles Licht sickerte durch die Nylonvorhange ins Zimmer. Auf dem Netz uber Siris Kopf lag ein gutes Dutzend toter Fluginsekten und streckte alle viere von sich. Obwohl die Traumgeister ihn immer wieder an der Nase herumfuhrten, wirkte das zweite Erwachen heute erstaunlich realistisch. Wieder krahte der Hahn, diesmal begleitet vom Klaffen eines Hundes. Irgendwo ganz in der Nahe spielte eine klui, eine aus grunem Bambus geschnitzte Flote, technisch perfekt, doch ohne Herz eine simple Melodie. Wahrend Siri ihr lauschte, reckte und streckte er sich unter der Decke, um festzustellen, welche Knochen und Muskeln ihm heute wehtun wurden. Darauf hatte er keinen Einfluss. Oft uberanstrengte er sich im Traum und musste am nachsten Morgen dafur bu?en. Heute jedoch schien alles in bester Ordnung zu sein. Nicht einmal beim Aufstehen spurte er seine Glieder.

Barfu? trat er an das leere Bett und betrachtete die jungfrauliche Decke. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund schlug er sie zuruck. Es lag nichts darunter. Wie sollte es auch? Die Wirklichkeit hatte ihn wieder. Er wollte die Decke eben sinken lassen, als er auf etwas trat. Er horte das quatschende Gerausch und fragte sich, ob er die fallsuchtige Eidechse vielleicht von ihrem Elend erlost hatte, doch es war nur eine Beere. Sie musste aus der Obstschale auf dem Tisch gekullert sein. Er inspizierte die kleine rote Frucht. Obwohl er die Sorte schon oft gesehen hatte, wusste er nicht, wie sie hie?. Noch vor ein paar Jahren hatte er sie achtlos aus dem Fenster geworfen. Inzwischen jedoch wusste er, dass nichts ohne Bedeutung war, dass alles mit allem zusammenhing. Es gab keine Zufalle. »Schau und sieh.« Er wickelte die Beere in ein Stuck Kuchenpapier von der Rolle auf dem Tisch und verstaute sie in seiner Tasche.

Siri selbst hatte Herrn Geung von seinen Abenteuern in Luang Prabang erzahlt. Es war ein Ort unter vielen, ebenso wie Paris, Frau Kits Besen- und Burstenfabrik oder der Mond. Fur Herrn Geung waren das nichts als Worte. Er verspurte weder den Drang noch die Notwendigkeit, dorthin zu reisen. Er hatte seine eigene kleine Welt und brauchte keine andere. Und so war er auch nicht sonderlich erfreut oder gar beeindruckt, als der Konvoi in der Provinz Luang Prabang eintraf. Die Fahrt in der alten Klapperkiste war fur sie alle, insbesondere jedoch fur Geung, eine Tortur gewesen.

Er hatte jegliche Hoffnung aufgegeben. Die neuen Reize, die unablassig auf ihn einsturmten, uberforderten ihn vollig, und so sa? er wie befohlen auf der schmalen Holzbank und starrte verwirrt auf die vorbeiziehende Landschaft, ein grandioses Gebirgspanorama, wie er es in seinem doch recht reduzierten Leben noch nie zu Gesicht bekommen hatte.

Immer wenn sie haltmachten und die Soldaten vom Transporter kletterten, um ihre schmerzenden Glieder zu dehnen und zu strecken, folgte Geung ihnen zum Wasserlassen in den Wald. Inzwischen war er so wortkarg und gefugig, dass die Soldaten ihn eher wie einen Seesack behandelten denn wie einen Gefangenen. Er hievte sich von der Ladeflache, und sie verfrachteten ihn in eine Ecke. Sie fuhrten ihn zum Messzelt oder zu den Kojen. Wohin sie ihn auch stellten, sie wussten, dass er noch dort sein wurde, wenn sie ihn brauchten. Sie schenkten ihm so wenig Beachtung, dass sie ihn bei ihrer Ankunft in der Kaserne von Xieng Ngeun langst vergessen hatten.

Der Feldwebel sturzte die holzernen Stufen hinauf und klopfte an den Rahmen der offenen Tur des Offizierskasinos. Ohne eine Antwort abzuwarten ging er hinein und trat vor seinen Vorgesetzten, der das Mitteilungsblatt der Lao Huksat studierte.

»Hauptmann Ouan?«

»Was gibt’s?«

»Der Schwachkopf.«

»Was ist mit ihm?«

»Er ist verschwunden.«

»Verschwunden? Wohin?«

»Das, ah, das wissen wir leider nicht genau. Als die Transporter ankamen, war er nirgends zu finden.«

Der Hauptmann warf seine Zeitung beiseite. »Sie sollten doch ein Auge auf ihn haben.«

»Ja. Bitte vielmals um Entschuldigung. Er ist nach jeder Rast auf den erstbesten Transporter gestiegen. Wir hatten uns daran gewohnt, dass er standig woanders herumlungerte.«

»Soso. Gewohnt. Wann wurde er zuletzt gesehen?«

»Kurz vor Xieng Ngeun, als wir anhielten, um Kaninchen zu schie?en.«

Der Hauptmann seufzte. »Nun ja, sehr weit wird er wohl nicht gekommen sein. Unteroffizier? Fahren Sie die Strecke mit dem Jeep ab, und suchen Sie ihn.«

»Jawohl, Herr Hauptmann.« Er salutierte und wandte sich zum Gehen, drehte sich in der Tur aber noch einmal um. »Eigentlich bin ich Feldwebel, Herr Hauptmann.«

»Jetzt nicht mehr.«

6

DIE AMATEURDOLMETSCHERIN

Der Pathet-Lao-Fahrer stand Siri fur die Dauer seines Aufenthalts zur Verfugung. Um acht Uhr morgens hielt der Jeep vor dem neuen Bezirkskrankenhaus in Xam Neua. Noch vor vier Jahren war die Hauptstadt der Provinz Houaphan eine einzige gro?e Schutthalde gewesen. Zwolf Jahre Bombenkrieg hatten kein Haus unversehrt gelassen. Zwar hatten die Fliegerleitoffiziere von Air America die Angriffe ferngesteuert und die Bomber ins Zielgebiet gelotst, doch den Finger am Drucker hatten vor allem laotische und Hmong-Piloten. Es war eine symbolische Geste, weiter nichts. Samtliche Zivilisten waren langst geflohen, als sie die Stadt dem Erdboden gleichmachten.

Inzwischen entstand an ihrer Stelle eine neue Stadt mit protzigen Boulevards so breit wie die Champs- Elysees, die allem Anschein nach zu einer kommunistischen Vorzeigemetropole herausgeputzt werden sollte. Das Krankenhaus war nichts weiter als eine provisorische Ansammlung wei? getunchter Baracken, und das Personal

Вы читаете Totentanz fur Dr. Siri
Добавить отзыв
ВСЕ ОТЗЫВЫ О КНИГЕ В ИЗБРАННОЕ

0

Вы можете отметить интересные вам фрагменты текста, которые будут доступны по уникальной ссылке в адресной строке браузера.

Отметить Добавить цитату
×