dann zu Hilfe, wenn er hundertprozentig sicher war, dass sie sich allein nicht mehr zu helfen wusste.
»Na schon.« Sie nahm die sonderbare Szene in Augenschein und spielte die Moglichkeiten in Gedanken durch. »Also«, sagte sie. »Wenn uberhaupt eine Leiche darunter liegt, dann mit dem Gesicht nach oben. Dem Zustand des Arms nach zu urteilen, ist sie mumifiziert; ergo musste sie geschrumpft sein.«
Siris Lacheln verriet ihr, dass sie auf der richtigen Spur war. Mit gestarktem Selbstbewusstsein fuhr sie fort.
»Da der Mann wohl kaum in den Beton gelangt sein durfte, nachdem dieser ausgehartet war, mussen wir davon ausgehen, dass er entweder vorsatzlich in feuchtem Zement begraben wurde – oder aber hineingefallen ist. Das hei?t, der Zement ist um ihn herum erstarrt. Dann schrumpfte der Leichnam, und zuruck blieb ein Abguss des Toten. Dieser Abguss konnte fur uns ebenso aufschlussreich sein wie der Leichnam selbst. Darum sollten wir bei der Bergung moglichst behutsam vorgehen. Tatah«, sang sie. »Wo bleibt der Applaus?«
Lit und einer der beiden Arbeiter klatschten tatsachlich. Der Sicherheitschef musterte sie mit unverhohlener Bewunderung. »Nicht ubel«, sagte er. »Alle Achtung.«
Noch immer lachelnd, beugte Siri sich uber den Arm und betrachtete ihn aus der Nahe. Er entfernte die Plastiktute und inspizierte die verkrummten Finger. Die Haut hatte die Farbe dunkler Schokolade, was bei einer mumifizierten Leiche nicht ungewohnlich war. Er wusste, dass er ihr nicht allzu viele Geheimnisse wurde entlocken konnen. Da fiel ihm etwas auf. Der Handteller schien erheblich heller als der Handrucken.
Vorsichtig wie Archaologen bei einer antiken Ausgrabung setzten die Arbeiter den Mei?el an.
»Meine Herren«, drangelte Siri, »wir haben es hier mit Beton zu tun. Wenn Sie in diesem Tempo weitermachen, stehen wir in drei?ig Jahren noch hier. Also schlagen Sie um Gottes willen zu. Immer feste drauf.«
Und so schlugen sie. Sie arbeiteten sich von beiden Seiten zur Mitte vor, wahrend Lit, Dtui und Siri sich am Fu? des Karstes niederlie?en. Die Sonne hatte mit Muh und Not ein Loch in den Nordostnebel gebrannt, den Erdboden aber noch nicht erwarmt. Dtui und Lit vertrieben sich die folgende Stunde mit zwanglosem Geplauder, wahrend Siri doste. Das junge Paar hatte anscheinend allerhand gemein. Beide hatten die letzten Jahre mit der Pflege eines kranken Elternteils verbracht. Dtui erzahlte Lit von der Zirrhose ihrer Mutter Manoluk und dass sie derzeit bei Siri wohnten. Der Doktor lebe nicht gern allein, erklarte sie, und teile seinen riesigen Parteibungalow mit einer wilden Schar von Herumtreibern und Streunern. Lits Vater hingegen hatte bei einer Bombenexplosion beide Beine und ein Stuck Darm verloren. Vor ein paar Monaten war er seinen Verletzungen erlegen.
Sowohl Lit als auch Dtui hatten jede Gelegenheit zur Fortbildung genutzt. Lit war es dank ausgiebiger Lekture von Gesetzestexten schon in relativ jungen Jahren gelungen, eine Fuhrungsposition zu ergattern. Dtui hatte sich selbst Englisch beigebracht und zahllose medizinische Fachbucher auswendig gelernt. Nach dem Abzug der Amerikaner war sie auf Russisch umgestiegen und hatte dasselbe Feld ein zweites Mal beackert. Sie traumte davon, wie zweitausendvierhundertneunundneunzig andere Laoten im Ostblock studieren zu durfen, und wollte jeden Kip, den sie erubrigen konnte, ihrer Mutter schicken.
Ein lautes Krachen setzte ihrem Gesprach ein jahes Ende. Siri hob schlaftrunken den Kopf. Die Arbeiter hatten die oberste Schicht des Betons mit Brecheisen aufgestemmt. Als sie die Platte herunterhieven wollten, brach sie entzwei.
Eine Mumie lag, wie in Todesqualen erstarrt, runzlig und verschrumpelt in einem Hohlraum aus Beton, den sie einst vollstandig ausgefullt hatte. Der eine Arm war dicht an den Korper gepresst, der andere hoch uber den Kopf gestreckt. Die Knie waren leicht angewinkelt, und sie schien nichts weiter anzuhaben als ein Paar Fu?ballshorts, die ihr inzwischen mehrere Nummern zu gro? waren. Das leuchtende Rot des Nylonstoffs hob sich scharf gegen das schokoladenbraune Au?ere der Leiche ab.
Aber was die Umstehenden – und selbst Siri, der samtliche Spielarten des Todes kannte – am meisten entsetzte, war der gepeinigte Ausdruck auf dem Gesicht der Mumie, in dem statt eines Mundes ein riesiges zahnloses Loch gahnte. Es handelte sich zweifellos um einen qualvollen Tod – und nicht etwa um einen Unfall.
»Was … was ist mit seinem Gesicht passiert?«, fragte Lit erschrocken.
Siri drehte die betonierte Grabplatte herum und betrachtete die Innenseite. Der Abguss war perfekt und bot ein nahezu vollkommenes Negativabbild des Kopfes. An der Stelle, wo dem Mund ein letzter erstickter Schrei entwichen war, schraubte sich ein Zementkegel in die Hohe. Im Fu? dieses Kegels steckten die fehlenden Zahne.
»Damit hatten wir die Erklarung fur das Loch«, sagte Siri, ohne aufzublicken. Die anderen traten naher und spahten ihm uber die Schulter. »Wie es scheint, bestand der letzte Atemzug unseres Freundes aus flussigem Zement. Als der erstarrte und der Leichnam zu schrumpfen anfing, wurden ihm die Zahne buchstablich aus dem Mund gerissen. Es wurde mich nicht wundern, wenn sich in der Lunge noch mehr Zement befande.«
»Mein Gott«, sagte Lit. »Sie meinen, er war noch am Leben, als er in Beton gegossen wurde?«
»Sieht ganz so aus«, bestatigte Dtui.
»Was fur ein grauenhafter Tod. Wer konnte so etwas getan haben?«
»Der Gro?e des Toten nach zu urteilen, durfte der Tater ungemein kraftig gewesen sein«, antwortete Siri.
»Der oder die Tater«, setzte Dtui hinzu.
»Stimmt. Danke fur den Hinweis. Genosse Lit, meinen Sie, der Prasident hat etwas dagegen, wenn wir sein Konferenzzimmer als Sektionssaal zweckentfremden?«
»Ich habe den Schlussel«, sagte Lit. »Aber er reist nachste Woche zum Konzert an.«
»Wenn wir den Fall bis dahin nicht geklart haben, werden wir ihn niemals klaren, junger Mann. Ich bin der Erste, der eine Niederlage eingesteht.«
Richter Haeng kam aus seinem Gerichtssaal, wo er sich wieder einmal den halben Tag mit kleinlichen Familienstreitigkeiten hatte herumschlagen mussen. Eine Stadt, die alle tatsachlichen und potenziellen Verbrecher eingekerkert und die Kriminalitat per Dekret abgeschafft hatte, war ein freudloser Ort fur einen Richter. Er durchquerte das Sekretariat des Justizministeriums, wo die Angestellten an ihren Tischen sa?en und in ihre klobigen Schreibmaschinen schwitzten. Sie nickten ihrem jungen Dienstherrn mit sichtlich gebremstem Enthusiasmus zu. Seit er vor zwolf Monaten die Moskauer Universitat verlassen und sein Richteramt angetreten hatte, wurdigte er sie kaum einer Silbe. Gewohnlich kommunizierte er ausschlie?lich uber die Burovorsteherin Frau Manivone mit ihnen. Als er an ihren Schreibtisch trat, erhob sie sich artig und setzte ein nichtssagendes Lacheln auf. Sie trug eine frisch gebugelte khakifarbene Bluse und dazu einen knochellangen schwarzen
»Wohlsein, Richter Haeng.«
»Ist er weg?«
»Wer?«
»Die Missgeburt aus der Pathologie.«
Sie seufzte. »Falls Sie Herrn Geung meinen, den haben sie gestern Abend abgeholt. Er musste spatestens Mittwoch ankommen.«
»Gut. Ausgezeichnet.« Er hielt schnurstracks auf sein Buro zu.
»Aber …«
Er drehte sich noch einmal um. »Was?«
»Nun ja, ich verstehe das nicht ganz. Herr Geung ist bei allen sehr beliebt.«
»Beliebt? Ich hore wohl nicht recht! Ist das hier ein Ministerium oder ein Asyl fur Sonderlinge und Au?enseiter? Ich liebe meine Gro?mutter hei? und innig« – Frau Manivone glaubte ihm kein Wort -, »trotzdem kame ich nicht im Traum auf die Idee, sie mit einem leitenden Posten in der Gerichtsmedizin zu betrauen. Welchen Eindruck wurden auslandische Besucher wohl mit nach Hause nehmen, wenn sie sahen, dass unser Staat Idioten beschaftigt?«
Obwohl sie diverse Antworten auf diese Frage parat hatte, stie? sie halblaut hervor: »Dass uns an unseren Mitmenschen gelegen ist?«
»Wie war das?«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Dr. Siri davon sehr begeistert sein wird.«
Der Richter schlenderte zuruck zu ihrem Schreibtisch. »Ach nein?«
»Nein.«