Schon ein paar Kilometer au?erhalb Vientianes bestanden die Stra?en nur noch aus Schlaglochern und Steinen. Folglich wurde man bei der Uberlandfahrt in einem Lastwagen ahnlich heftig durchgeschuttelt, als wurde man in einem Sarg eine holprige Treppe hinunterpurzeln. Sie waren an der Abzweigung bei Kilometer 6 vorbeigefahren, wo man einen alten US-Militarkomplex zu einem Erholungszentrum fur kommunistische Politiker umfunktioniert hatte. Kurz vor der Gabelung, die zum Nationalen Padagogischen Institut in Dong Dok fuhrte, kam Herr Geung wieder zu sich. Der Nebel in seinem Hirn lichtete sich jah, als das Vorderrad in eine tiefe Furche krachte. Statt im Leichenschauhaus fand er sich plotzlich ganz woanders wieder: auf einer Decke auf der holzernen Pritsche eines alten Lasters. Uber sich sah er den weiten Himmel, die brennende Junisonne und zwei Reihen mannlicher Knie. Er lag in einem Spalier aus schwarzen Stiefeln, die nach Schuhwichse stanken. Die Stahlkappen bohrten sich in seine Seiten und machten jede Bewegung unmoglich, deshalb blieb ihm nichts anderes ubrig, als still zu liegen und sich zu fragen, wo er war und wem diese an den Knien abgeschnittenen Beine gehorten. Er hob den Arm und winkte. Die Reaktion lie? nicht lange auf sich warten.

»Herr Feldwebel, der Mongoloide ist wach.«

Er horte lauten Jubel und Gelachter, und eine Stimme, die gegen den Motorenlarm anbrullte. »Hoch mit ihm.« Manner beugten sich uber ihn, streckten die Hande nach ihm aus und setzten ihn auf. Verwundert starrte er in zwei Reihen lachelnder Soldatengesichter. Er lachelte zuruck. Der Feldwebel sa? am Ende einer der beiden Reihen.

»Du hei?t Geung, stimmt’s?«

Zwar war Herr Geung bislang kaum mit dem Militar in Beruhrung gekommen, aber er hatte sich Paraden angesehen und als Kind Soldat gespielt, und so wusste er genau, was zu tun war. Er salutierte. Wieder erhob sich lauter Jubel, und die Halfte der Manner erwiderte den Gru?. Zwei von ihnen ruckten beiseite und zerrten ihn zwischen sich auf die Bank. Sie schaukelten vorbei an ihm unbekannten Feldern und Buffeln ohne Matsch, in dem sie sich hatten walzen konnen. Alles war braun in braun.

»Mensch, Junge. Ich dachte schon, du warst tot«, brullte der Feldwebel. »Ich wusste gar nicht, dass man auch mit einer ungeladenen Waffe jemanden erschie?en kann.«

»Sie h… haben mich erschreckt.«

»War doch nur Spa?, Jungchen. Nur ein kleiner Scherz.«

»Ich bin ohnmachtig geworden.«

»Allerdings.«

»W… w… wo fahren wir hin?«

»Nam Bak.«

Der Name sagte Geung nichts. »Warum?«

»Streng geheime Mission.« Der Feldwebel legte den Zeigefinger an die Lippen: Unbedingtes Stillschweigen war oberstes Gebot. Zwar erfullte es Geung mit Stolz, an einer streng geheimen Mission teilnehmen zu durfen, aber er musste sein Versprechen halten. Etwas unbeholfen stand er auf und ging zur Ladeklappe, wobei er sich an den Schultern und Knien der Soldaten festhielt. Der Feldwebel bekam ihn gerade noch zu fassen, bevor er abspringen konnte. »Wohin so eilig, junger Mann?«, fragte der alte Soldat.

»I… i… i… ich muss das Leichenschauhaus bewachen.«

»Nein, Jungchen. Das musst du nicht.«

»Doch. M… muss ich wohl. Ich habe es Genosse Dr. Siri versprochen. U… und Genossin Schwester Dtui.«

»Du arbeitest nicht mehr im Leichenschauhaus.«

Geung war besturzt. »Nein?«

»Nein.«

»Wo a… a… arbeite ich denn dann?«

»Das wirst du noch fruh genug erfahren.«

»A… a… aber ich ha… ha… hab’s doch verspr… verspro…« Wieder prallten Worter und Gedanken aufeinander und uberschlugen sich in seinem Kopf.

»Geung, kleiner Bruder, mach mir blo? keinen Arger. Sonst passiert was. Verstanden?«

»I… i…«

»Und jetzt setz dich wieder hin, und genie? die Fahrt. Du wirst se-« Aber bevor der Feldwebel ausreden konnte, war Geung auch schon wieder ohnmachtig geworden, diesmal in den Armen der Dritten Infanteriedivision der Laotischen Volksbefreiungsarmee, die in den Norden unterwegs war, um Rebellen aufzuspuren.

4

EINE LEICHE IN BETON

Der Jeep hielt vor dem Anwesen des Prasidenten, und Siri sah die Boschung hinauf zu der schmucken, rosa und grun getunchten Villa, die sich sanft an die turmhohe Felswand schmiegte. Gegenuber befand sich eine in den Stein gehauene Garage, die anderthalb Autos Platz bot. Dort, wo die Treppe nach oben fuhrte, hatte jemand einen Bombenkrater liebevoll zu einem herzformigen Zierbecken umgestaltet. Ein Ensemble von geradezu beangstigender Putzigkeit.

»Wissen Sie was, Doc?«, fragte Dtui, als sie die betonierten Stufen erklommen. »Ich dachte eigentlich immer, ihr hattet hier oben gehaust wie die Hohlenmenschen, in modische Barenfelle gewandet. Ich ware nie darauf gekommen, dass es hier so … zivilisiert zugeht.«

»Was haben Sie denn erwartet? Dass der Prasident der Republik sein Fruhstuck mit Pfeil und Bogen erlegen muss?«

»Wundern wurde es mich jedenfalls nicht, so schwer, wie man in diesen Breitengraden an ein Fruhstuck kommt.«

Lit fuhrte sie zu einem schmalen Pfad, der sich zum Hohleneingang hinaufschlangelte. Auf halber Strecke sahen sie einen Felsbrocken von der Gro?e eines aufgedunsenen Buffels, der auf einem Bett aus plattgedruckten Juckfruchtbluten und Poinsettien ruhte. Er musste mit ziemlichem Karacho auf dem Beton gelandet und dann in den Garten geschleudert worden sein. Unter der Wucht des Aufpralls war ein langer, gerader Abschnitt des Weges geborsten und gleich an mehreren Stellen aufgebrochen. Die Einzelteile lagen da wie Waggons nach einem Zugungluck.

An einer Bruchstelle uberspannte ein kleines Stoffzelt den knapp einen Meter breiten Weg. Lit hob die Tuchbahn an, und darunter kam ein mumifizierter Arm zum Vorschein, der schrag aus einem breiten Spalt in der Betondecke ragte. Er steckte in einer transparenten, am Handgelenk verschnurten Plastiktute. Die Handflache war nach oben gekehrt, und die Finger waren zu Klauen verkrummt. Woraus Siri schloss, dass der dazugehorige Leichnam, falls vorhanden, mit dem Gesicht nach oben in dem unversehrten Betonblock lag.

»Tja, dann wollen wir die Nuss mal knacken«, sagte Siri zu den beiden mit Hammer und Mei?el bewaffneten Arbeitern, die ihnen gefolgt waren.

»Wie hatten Sie’s denn gern, Doktor?«, fragte der eine.

Das vor ihnen liegende Teilstuck war rund ein Meter achtzig lang und um die funfundsiebzig Zentimeter breit. Siri dachte einen Augenblick nach. »Ich glaube, wir sollten uns von den Randern vorsichtig zur Mitte vorarbeiten. Warten Sie, ich markiere die entsprechenden Stellen.« Er hob ein Stuck Kalkstein auf und zog damit rechts und links der Bruchstelle je eine wei?e Linie.

»Ahm, Dr. Siri«, fragte Lit, »ware es nicht einfacher, an dem Ende anzufangen, wo die Hand aus dem Beton ragt, oder den Block gleich von oben aufzustemmen?«

»Einfacher schon, Genosse Lit. Aber nicht unbedingt ratsam.«

»Ich glaube, ich verstehe nicht ganz.«

»Schwester Dtui wird es Ihnen sicher gern erklaren.«

Dtui schrak aus ihren Traumereien. »Ach ja?«

»Gewiss.« Das war typisch fur den Doktor. Siri stie? Dtui oft und gern ins kalte Wasser und kam ihr erst

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