entdecken. Die Seminarteilnehmer waren ausgezogen, sich von Landminen in die Luft jagen zu lassen, und wie es aussah, rechnete die Kuche nicht mit weiteren Gasten. Inzwischen knurrten sich Dtuis und Siris leere Magen uber den Tisch hinweg wutend an. Diese furchterregenden Gerausche waren offenbar bis zu der dicken Frau in Tarnanzug und wei?er Schurze durchgedrungen, die plotzlich in der Tur erschien.

»Was machen Sie hier?«, fragte sie.

»Auf unser Fruhstuck warten«, antwortete Dtui.

Die Frau naherte sich den Uberraschungsgasten. Ihre Sandalen klatschten uber die losen Bodenfliesen. »Warum sind Sie nicht mit auf dem Feld?«

»Wir gehoren zu einer anderen Reisegruppe«, erklarte Siri. »Wir haben das Drei-Tage-, Zwei-Nachte-, Rundumsorglos-Tempeltour-Paket gebucht. Alles inklusive.«

Sie starrte ihn an, mit einem Gesichtsausdruck so leer wie die Tresorraume der Nationalbank.

»Entschuldigung«, lenkte er ein. »Wir sind auf Einladung der Staatssicherheit hier. Wir bleiben ein paar Tage.«

»Hm. Davon hore ich zum ersten Mal.« Sie verschrankte die Arme, als warte sie nur darauf, dass die beiden sie der Luge bezichtigten.

»Bitte um Verzeihung! Das ist meine Schuld«, meldete sich eine Stimme hinter dem Rucken der Frau. Sie mussten sich zurucklehnen, um ihren Besitzer sehen zu konnen. Es war ein hochgewachsener junger Mann mit Brille. Er trug die grune Uniform eines Polizisten der Laotischen Revolutionaren Volkspartei, ohne die ublichen Rangabzeichen oder Schulterstucke. Lachelnd umging er das voluminose Hindernis. »Dr. Siri?«

Siri streckte die Hand aus. »Genosse Lit?«

»Entschuldigen Sie, dass ich Sie habe warten lassen.« Die beiden Manner gaben sich die Hand. Siri und Dtui bemerkten Lits verkummerten rechten Zeigefinger. Er schien sich zusammenzurollen wie eine durstige Pflanze.

»I wo. Wir hatten Sie eigentlich nicht vor neun erwartet.«

Die dicke Frau unterbrach die Begru?ungszeremonie. »So geht das aber nicht, Genosse. Sie wissen doch genau, dass mir spatestens drei Tage vor Ankunft neuer Gaste ein P8.8 vorliegen muss. Von Rechts wegen hatte die Nachtschicht sie gar nicht aufnehmen durfen.«

»Ganz recht, Genossin Sompet. Hier haben Sie das erforderliche Formular. Es handelte sich um eine Art Notfall. Bitte nochmals um Verzeihung.« Er reichte ihr das Dokument, und sie zog maulend von dannen.

Genosse Lit blieb stehen. »Nun denn«, sagte er und blickte uber den Tisch zu Dtui.

»Das«, sagte Siri, »ist meine Assistentin, Schwester Chundee Vongheuan.«

Sie lachelte. »Sie konnen mich ruhig Dtui nennen, Genosse.«

»Wir wollten eben die Blumengestecke verspeisen«, sagte Siri. »Mochten Sie vielleicht ein Happchen mitessen?«

Lit lachte. »Ich furchte, die sind nicht besonders nahrhaft. Sie sind namlich aus Plastik. Kommen Sie, ich lade Sie zum Fruhstuck ein.«

Wahrend sie in seinem chinesischen Jeep durch Vieng Xai fuhren, wies Lit sie auf die gewaltigen, hoch aufragenden Felsen hin, die man in dieser Gegend Karste nannte und die beruhmte Hohlen beherbergten. »Hier wohnte General Khamtay, der militarische Kopf der Revolution«, sagte er. »Und da druben befindet sich das Domizil des Premierministers.«

Die Stadtrundfahrt machten sie Dtui zuliebe. Siri hatte im Laufe seiner langen Jahre im Nordosten samtliche Hohlen von innen gesehen und kannte das verschlungene System von Kammern und Tunnels, das sich durch diese Kalksteinturme zog, genau. Doch fur Dtui war ein Felsturm nicht vom anderen zu unterscheiden. Die amerikanischen Piloten, die jahrelang im Tiefflug uber das Tal hinweggeschossen waren, hatten mit denselben Schwierigkeiten zu kampfen gehabt. Selbst die erst gegen Kriegsende attackierten Karste hatten dem Streuteppich von Funfhundert-Kilo-Bomben problemlos standgehalten. Dtui fand es unglaublich, dass man zwei Millionen Tonnen Sprengstoff uber kommunistisch besetztem Gebiet abwerfen konnte, ohne auch nur einem der Anfuhrer ein Haar zu krummen.

Dass die Parteifuhrung ausgerechnet Vieng Xai zum Regierungssitz des neuen Regimes erkoren hatte, mutete auf den ersten Blick ein wenig seltsam an. Die Stra?en bildeten ein weitlaufiges Gitternetz, umschlossen von den hohen Felsen, unter denen die Soldaten zehn Jahre ihres Lebens verbracht hatten. Dieses Bild hatten sie jeden Tag vor Augen gehabt, und fur sie bedeutete es Freiheit. Bis vor vier Jahren hatten sich hier Reisfelder erstreckt, so weit das Auge reichte. Aus Angst vor Flugangriffen versteckten sich die Einheimischen bei Tag und kamen erst nach Sonnenuntergang hervor, um ihre Felder zu bestellen. Mit dem Waffenstillstand jedoch hatten die Genossen ihre Bergfestung verlassen und sich an die Verwirklichung ihres Traums gemacht: die Errichtung einer prachtigen Stadt zum glorreichen Gedenken an ihren jahrelangen Kampf.

Aber Laos war mehr als die Provinz Houaphan. Es war ein Land mit rund dreieinhalb Millionen Einwohnern. Zwar gab es keine aktuellen Zahlen, und bis zu funfhunderttausend Menschen waren nach Thailand geflohen, doch der Gro?teil der Bevolkerung drangte sich in und um die Hauptstadt. Nachdem die Pathet Lao siegreich in Vientiane einmarschiert waren und die kommunistische Volksrepublik ausgerufen hatten, schien Vieng Xai abgelegen und unzuganglich. Wer ein Land regieren wollte, musste dort sein, wo die Menschen waren. Und die waren nicht in Houaphan und erst recht nicht in Vieng Xai. Zwei weitere Gastehauser und ein Marktplatz befanden sich im Bau, aber die Bambusgeruste setzten bereits Moos an. Alles vermittelte den Eindruck eines aufgegebenen Projekts, eines schon bei Sonnenaufgang halb vergessenen Traums.

Am Marktplatz gab es eine einzige Garkuche, die feu-Reisnudeln servierte, in Schusseln, die so riesig waren, dass man darin bequem ein kleines Baby hatte baden konnen. Siri und Dtui griffen beherzt zu und a?en mit der linken Hand, wahrend sie mit der rechten Fliegen gro? wie Mantelknopfe verscheuchten. Da Lit bereits gefruhstuckt hatte, sah er seinen Gasten beim Essen zu und erklarte ihnen derweil, warum sie hier waren.

»Wir waren wahrscheinlich nie darauf gesto?en«, begann er. »Von Zeit zu Zeit losen sich oben in den Karsten kleinere Felsbrocken und sturzen herab. Manche erst lange nachdem sie von einer Rakete getroffen wurden. So vermutlich auch in diesem Fall. Ein gewaltiger Felsblock krachte auf den frisch angelegten Betonweg, der von der Hohle zu dem neuen Haus fuhrt. Sie werden sehen, Doktor, dass die meisten ranghohen Genossen sich vor ihrer alten Hohle ein Haus gebaut haben.«

»Hm. Sie wollen den Mutterleib partout nicht verlassen. Typisches Primatenverhalten«, sagte Siri. »Und von welcher Hohle reden wir?«

»Von der des Prasidenten. Wir erwarten ihn in gut einer Woche zuruck. Es ware schon, wenn sich die Sache noch vor seiner Ankunft klaren lie?e.«

»Gut«, sagte Siri. »Der Felsblock krachte also auf den Beton …«

»Und plotzlich ragte er aus einem Spalt.«

»Wer?«

»Der Arm.«

»Hangt an dem Arm auch eine Leiche?«, fragte Dtui. Sie wischte sich den Mund mit einer Serviette ab und uberlie? die restliche Bruhe den Fliegen.

»Das wissen wir nicht.«

»Warum nicht?«, fragte Siri.

»Nun ja, der Arm ragt aus dem Beton. Um herauszufinden, ob eine Leiche darunterliegt, mussten wir den Rest des Weges aufstemmen.«

»Und das geht nicht, weil …?«

»Weil die Vorschriften uber Veranderungen an staatlichen Bauvorhaben au?erst streng gehandhabt werden. Wir mussten die Antragsformulare extra aus Vientiane anfordern. Dort wurde uns gesagt, wir sollten auf Sie warten.«

»Verstehe. Ich hoffe doch, Sie haben den Arm bedeckt. Die Fliegen hier oben haben einen gesegneten Appetit.«

»Wir haben eine Plastiktute darubergestulpt. Wenn Sie so weit sind, bringe ich Sie hin. Wir mussen nur noch ein paar Arbeiter und Werkzeug aufladen.«

»Dann wollen wir unseren in Zement gegossenen Freund nicht langer warten lassen. Fertig, teure Schwester Dtui?«

»Wenn Sie es sind, verehrter Dr. Siri.«

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