ersten Mal vernahmen – ein Spatz, der verzweifelt sich bemuhte, aus einer knisternden Papiertute zu entkommen. Jetzt konnte Dtui alle paar Tage nach ihrer Mutter horen. Was sie ungemein beruhigte. Naturlich musste sie sich die Seele aus dem Leib schreien, damit ihre Mutter sie uberhaupt verstand. Siri war von ihrer Lungenkapazitat derart beeindruckt, dass er sich fragte, ob das Telefon nicht vielleicht doch verzichtbar sei.
Au?erdem lie? die Obduktion ihr keine Ruhe. Sie nahm ihre klobige sowjetische Taschenlampe mit nach unten, und nachdem sie volle zehn Minuten in den Horer gebrullt hatte, stahl sie sich zur Hintertur hinaus und schlich zum Haus des Prasidenten. Es hatte keinen Grund gegeben, die Tur des Konferenzzimmers zu verschlie?en. Die Einzelteile der Leiche lagen noch immer auf dem Plastiktischtuch. Die Geschichte von den kubanischen Krankenpflegern ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Zwar handelte es sich bei der Leiche nie und nimmer um den liebestollen Basketballer, aber was war mit seinem bocksgesichtigen kleinen Freund? Vielleicht war er ja gar nicht abgereist, sondern aus irgendeinem Grunde hiergeblieben und in Schwierigkeiten geraten?
Sie lie? den Strahl der Taschenlampe uber den Torso wandern, und da Siri bei Obduktionen ausgiebige Gesprache mit seinen Leichen zu fuhren pflegte, begann sie ihre Untersuchung mit den Worten: »Entschuldigen Sie, Herr Odon, aber ich frage mich, ob Sie uns nicht vielleicht doch ein wenig mehr mitzuteilen haben, als wir dachten.« Bei der au?eren Leichenschau war ihr etwas aufgefallen, drei Male – nahezu parallele Linien – unterhalb der linken Achselhohle, die sie als interessant, aber nicht weiter bemerkenswert befunden hatte. Bei der Kontraktion der Haut waren viele solcher Rillen entstanden, doch diese drei erschienen ihr erstaunlich regelma?ig. Ihre seltsame Beschaffenheit hatte ihre Neugier geweckt, und die wollte sie nun stillen.
Sie richtete den Lichtstrahl auf die rechte Brusthalfte. Dort war der Zerfall etwas weiter fortgeschritten, deshalb waren sie nicht gleich zu sehen, aber nachdem sie die ledrige Haut mit den Fingern beiseitegeschoben hatte, gab es fur sie keinen Zweifel mehr. Drei Furchen an derselben Stelle wie auf der linken Seite – symmetrisch. Fur diese Male gab es keine biologische Erklarung. Der Leichnam musste im Zuge eines Rituals oder dergleichen verstummelt worden sein. Er hatte ihnen ohne Frage noch das eine oder andere mitzuteilen.
Siri stand kurz davor, den Leiter des Gastehauses aus dem Bett zu holen, um sich uber den verfluchten Krach zu beschweren. Es war nun schon die dritte Nacht, in der um Punkt zwolf diese auslandische Teufelsmusik losplarrte. Wusste die Jugend von Vieng Xai mit ihrer Zeit eigentlich nichts Besseres anzufangen? Und warum duldeten die leitenden Kader der Region diese bourgeoise westliche Dekadenz? War ganz Houaphan in dumpfer Resignation versunken?
Da an Schlaf nicht zu denken war, lie? er das Gesprach mit dem Genossen Lit noch einmal Revue passieren. Sie hatten eine Liste erstellt. Erstens wollten sie das Datum der Abreise von Isandro und Odon uberprufen. Zweitens den vietnamesischen Oberst ausfindig machen, der sich bei Santiago beschwert hatte. Und drittens Erkundigungen uber andere Projekte in der Umgebung einholen, an denen dunkelhautige Auslander beteiligt waren. Siri hatte darauf bestanden, die Suche auf die Angehorigen vietnamesischer Bergvolker auszuweiten, obwohl er ziemlich sicher war, dass es sich bei dem Toten nicht um einen Asiaten handelte.
Auf halber Strecke zwischen Punkt sieben und acht ubermannte ihn der Schlaf. In der Fortsetzung seines Traums sa?en die Krahe und die Spatzin noch immer auf der Hochspannungsleitung und neckten sich. Doch nach und nach gesellten sich weitere Spatzen zu ihnen. Einer von ihnen hockte sich neben die Spatzin und wollte mit ihr flirten. Sie wies seine Annaherungsversuche zuruck und fluchtete sich an die Seite ihrer geliebten Krahe. Dies versetzte die Spatzen in hellen Aufruhr. Sie kreischten flatternd und flugelschlagend um die Wette, und eine Attacke gegen den Feind schien unvermeidlich. Doch bevor sie zum Angriff ubergehen konnten, nahm die Krahe die kleine Spatzin unter ihre schwarzen Fittiche, und die beiden plumpsten von der Leitung. Nein, sie flogen nicht davon. Sie fielen wie Steine ins Tal hinab und landeten im weichen Schlamm der Felder.
Siri wurde nicht etwa von dem truben Morgenlicht, das durch die Vorhange ins Zimmer fiel, sondern vom Wimmern eines Kindes aus dem Schlaf gerissen. Er dachte an das Madchen, das er in einem fruheren Traum gesehen hatte, doch das Bett gegenuber war leer. Dieses Wimmern klang echt und schien ganz nah, so nah, dass er sogar das Moskitonetz anhob und unter das Bett spahte. Er ging zur Tur und sah auf den leeren Flur hinaus. Aber das Gerausch kam zweifellos aus seinem Zimmer. Er beruhrte den Talisman um seinen Hals. Das Amulett spurte, wenn die bosen Geister Siri einen Streich spielen wollten. Doch der wei?e Stein blieb regungslos und kuhl. Hier war keine schwarze Magie im Spiel. Was er da horte, war der aufrichtige Hilfeschrei einer gequalten Seele. Aber da er nicht wusste, woher er kam, konnte er auch nichts dagegen unternehmen, und so blieb ihm wenig anderes ubrig, als sich wieder auf seine Matratze zu legen und dem schwachen Wehklagen zu lauschen. Es wurde immer schriller und hohler, bis es schlie?lich mit den Klangen der Bambus-
7
DIE TOTENHOHLE
Wie schon an den vorangegangenen beiden Tagen schrak Herr Geung in panischem Entsetzen aus dem Schlaf. Doch wahrend er sich die ersten beiden Male im Kreise der Soldaten wiedergefunden hatte, lag er nun in eine Zeltplane gewickelt, wie Schweinefleisch in einer chinesischen Fruhlingsrolle. Er trat und schlug verzweifelt um sich, konnte sich aber nicht daraus befreien. Sein Verstand versagte ihm den Dienst. Er konnte sich beim besten Willen nicht entsinnen, wo er war und wie es ihn dorthin verschlagen hatte. Und obwohl es die Sache auch nicht besser machte, fing er an zu weinen.
»Wurden Sie mir freundlicherweise verraten, was Sie in meiner Abdeckplane treiben?« Die Stimme gehorte einer alten Frau, so viel stand fest. Die er durch die Offnung am oberen Ende seiner Fruhlingsrolle allerdings nicht sehen konnte.
»Ich … ich wei? nicht«, sagte er unter Tranen. Er spurte, wie jemand an seinem Kokon zerrte, dann plotzlich rollte er uber den Boden, bevor er schlie?lich aus der Plane auf die trockene Erde geschleudert wurde. Eine altere Frau und zwei kichernde Kinder sahen auf ihn herab.
»Er ist ein Dummkopf, Gro?mutter.«
»Allerdings«, bestatigte die Alte. »Was willst du hier, Dummkopf?«
»Ich w… wei? nicht«, antwortete Geung wahrheitsgema?.
»Dann rufe ich jetzt die Polizei und lasse dich festnehmen«, sagte sie.
»Ist g… g… gut.«
»Oder soll ich lieber meine Flinte holen und dich vom Hof jagen?«
Geung sann uber ihre Worte nach. »A… a… a… auch keine schlechte Idee.«
Die Alte lachte. Ihr betelnussbefleckter Mund erinnerte ihn stark an diverse ubel zugerichtete Falle aus dem Leichenschauhaus. »Eh. Du bist wirklich verruckt, Junge. Wie soll ich dir drohen, wenn du mit allem einverstanden bist? Woher kommst du?«
»Thangon.«
»Nie gehort.«
»Tut mir leid. Aber ich m… m… muss nach Vientiane.« Er rappelte sich hoch, lachelte den Kindern zu und marschierte wunden Fu?es los.
»Warte. Bleib stehen«, sagte die Alte. »Du willst doch nicht etwa zu Fu? nach Vientiane?«
»Ich ha… ha… hab’s versprochen.«
»Was du nicht sagst. Hast du Hunger, Junge?«
»Ja.«
»Tja, da brauchst du ordentlich was zwischen die Rippen, sonst kommst du dein Lebtag nicht bis nach Vientiane. Und was...«
»Ja. Jetzt wei? ich’s wieder.«
»Was?«
»Die Mu… Mu… Mucken. Ich hab mich eingerollt, damit mich die Mu… Mu… Mucken nicht stechen konnen. D… D… Denguefieber. Genossin Dtui hat gesagt, man muss sich schutzen gegen die Mu… Mu… Mu… Mu…«
»MUCKEN!«, riefen die beiden Madchen im Chor.
»Ja.« Er lachelte ihnen zu, und sie kicherten zuruck.
»Na schon«, meinte die Alte. »Jetzt isst du erst mal was und erzahlst uns in aller Ruhe deine Geschichte,