bevor du dich auf deinen langen Marsch machst. Vielleicht finde ich ja auch noch ein Topfchen von meiner selbst gemachten Paste, die halt dir die Mucken todsicher vom Leib. Sie reicht fur eine Woche, solange du dich zwischendurch nicht waschst.«

»Danke, Madame«, sagte er, legte die Handflachen aneinander und deutete einen hoflichen nop an.

»Also, ich wei? ja nicht, woher du kommst und was du im Schilde fuhrst, aber Manieren haben sie dir beigebracht.« Sie betraten ihre aus massivem Holz gebaute Hutte. Hier wohnte der Verwalter der Kiefernschonung, durch die Geung am ersten Tag seiner Flucht gewandert war. »Setz dich erst mal und zieh deine Plastikschuhe aus. Wenn du damit bis nach Vientiane laufst, bist du namlich nicht nur ein Dummkopf, sondern auch ein Kruppel.«

»Danke, M… M…«

»MADAME!«, schrien die Kinder, als sei der Zirkus in der Stadt.

»Mutter«, sagte Geung und grinste die Madchen mit schiefen Zahnen an.

Dtuis erster Arbeitstag im Krankenhaus bei Kilometer 8 verlief chaotisch. Sie konnte nichts dafur. Chaos war dort der Normalzustand. Schon nach einer Stunde hatte sie alle Hoffnung fahren lassen. Von den sechs Pflegern und Schwestern hatten zwei keinerlei medizinische Kenntnisse. Der erfahrenste Pfleger hatte ein halbes Jahr in einem Feldlazarett in Vietnam gearbeitet. Mit ihrer zweijahrigen Schwesternausbildung avancierte Dtui im Nu zu ihrer Generalstabsarztin. Sie uberlie?en ihr samtliche Entscheidungen und fugten sich gehorsam ihrem Urteil. Dtuis Vertrauen in ihre Entscheidungsfahigkeit war nicht allzu gro?. Sie hatte sich noch nie in einer so aussichtslosen Lage befunden.

Die meisten der rund funfzig Patienten waren bombi-Opfer. Die bombi war mit das grausamste aller heimtuckischen Kriegswerkzeuge. Flieger warfen mit baseballgro?en bombis gefullte Behalter ab. In der Luft offneten sich die Behalter, und die bombis regneten auf das Angriffsziel herab. Beim Aufprall explodierten sie, und zweihundertfunfzig gluhend hei?e Kugellager flogen nach allen Seiten und zerfetzten Menschen und Gebaude gleicherma?en. Manche bombis waren mit einem Verzogerungszunder ausgestattet und toteten die Uberlebenden, die ihre Lieben retten wollten. Wieder andere lauerten Tage, Wochen, Monate oder gar Jahre im Verborgenen, bis sie den Unschuldigen und Unwissenden eine todliche Uberraschung bereiteten. Die bombi kummerte es nicht, wer ihnen zum Opfer fiel. Ob es einen Buffel oder ein Schwein, ein Kind oder eine junge Mutter beim Reispflanzen erwischte, spielte keine Rolle. Die bombi rissen sie alle in den Tod.

Jeden Tag wurden neue Opfer eingeliefert, denen man die verstummelten Glieder abgebunden hatte, um den Blutfluss zu hemmen. Sie kamen auf Ochsenkarren, auf Ponys, auf Tragen, die ihre Verwandten kilometerweit gezogen hatten. Das Krankenhauspersonal verabreichte ihnen Unmengen von Opium, um alle, gute wie schlechte, Empfindungen zu unterdrucken. Und es versorgte die Wunden, so gut es ging. Den meisten Patienten konnte nicht geholfen werden. Sie hatten zu viel Blut verloren oder waren zu schwer verletzt, um sie am Leben zu erhalten. Viele andere bewahrte allein ihr eiserner Uberlebenswille vor dem sicheren Tod. Alle paar Tage kam Dr. Santiago vorbei, amputierte, was nicht mehr zu retten war, und vollbrachte wahre Wunder, um den Menschen eine zweite Lebenschance zu schenken.

Im Kilometer 8 gab es keine Schichten. Es wurde Tag und Nacht gearbeitet, und die Schwestern und Pfleger schliefen nur, wenn ausnahmsweise einmal Ruhe einkehrte. Sie kochten fur diejenigen Patienten, deren Verwandte nicht auf der Station campierten. Sie pumpten sie mit einem Schmerzmittel voll, von dem sie wussten, dass es suchtig machte, und schleppten die Verstorbenen die Boschung hinauf zur Totenhohle, einem Krematorium am Fu? des Berges. Am Ende ihres schier endlosen ersten Tages hatte Dtui nach eigener Schatzung gut vier Kilo abgenommen. Singsai, der dienstalteste Sanitater, meinte, in spatestens vier Wochen werde sie so dunn sein, dass man sie problemlos bei den Mopps in der Besenkammer unterbringen konne. Diese Vorstellung gefiel ihr.

Es war ein verhaltnisma?ig guter Tag gewesen. Nur eine Frau hatte die Reise in die Totenhohle angetreten. Dtui war es gelungen, einem zehnjahrigen Kind – vorerst – das Leben zu retten, und um zwei Uhr morgens sanken die Insassen von Kilometer 8 vom Opium berauscht in hoffentlich erholsamen Schlaf. Dtui und Singsai sa?en vor dem Hauptkrankensaal, der das Gebaude der Lange nach durchzog. Da sie zum Schlafen zu erschopft waren, sahen sie zu den Sternen hinauf, die sich so selten am Nordosthimmel zeigten, dass der Sanitater ihr jetziges Erscheinen als Omen sah.

»An Tagen wie heute wird einem bewusst, wie dumm man eigentlich ist«, sagte Dtui.

»Sie sind ganz und gar nicht dumm, Schwester«, versicherte Singsai. Er war ein kleiner Mann mit einer Haut von derart dunklem Braun, dass seine Stimme aus einem strahlend wei?en Gebiss zu kommen schien, das schwerelos in der Dunkelheit schwebte. Er erinnerte Dtui an die Mumie im Haus des Prasidenten.

»Na schon, vielleicht nicht dumm, aber doch … unbedarft.«

»Sie haben heute viel Gutes getan.«

»Dafur hatte ich in vielen anderen Fallen keinen Schimmer, was ich tun sollte. Es ist frustrierend. Jetzt erst wird mir klar, was Leute wie mein Chef und Dr. Santiago leisten. Tagaus, tagein, Jahr um Jahr retten sie Menschenleben, als ware es das Naturlichste von der Welt.«

»Eines Tages bin ich hoffentlich auch Chirurg«, sagte Singsai und richtete den Blick gen Himmel, als konne der ihm diesen Wunsch erfullen. Er war Mitte funfzig und hatte keinerlei Beziehungen, darum standen seine Chancen nicht besonders gut.

Dtui wechselte eilig das Thema. »Behandeln Sie hier eigentlich nur Notfalle?«

»Nein, wir haben auch ein oder zwei Malariapatienten«, sagte er. »Und einen kleinen Jungen mit chronischem Durchfall. Die bei Weitem gefahrlichste Kinderkrankheit in ganz Sudostasien. Die meisten sterben daran, aber der Kleine halt sich wacker. Er hat gro?es Gluck gehabt. Ach, und dann ist da noch Frau Duaning.«

»Und was fehlt ihr?«

»Das wussten wir auch gern. Sie liegt seit zwei Wochen im Koma. Wir haben sie auf der Stra?e gefunden.«

»Und sie wird von niemandem vermisst?«

»Nein.«

»Woher wissen Sie dann, wie sie hei?t?«

»Wissen wir ja gar nicht, aber sie ist ohne Zweifel eine Hmong. Also hat einer unserer Hmong-Pfleger sie ›Duaning‹ getauft. Was so viel wie ›wunderlich‹ bedeutet.«

Sie statteten Frau Wunderlich einen Besuch ab. Sie lag in einem kleineren, separaten Raum, wo die nicht lebensbedrohlichen Falle untergebracht waren. Sie lag auf dem Rucken, starrte mit weit aufgerissenen Augen an die Decke und murmelte irgendetwas vor sich hin.

»Was redet sie denn da?«, fragte Dtui.

»Sie spricht erst seit vorgestern. Sie sagt immer wieder dasselbe.«

Dtui beugte sich uber sie und horchte. Die Stimme der alten Frau klang nicht halb so rau, wie man es bei einem siechen alten Weib hatte vermuten konnen. Ihr Atem roch modrig. »Panoy muss essen«, sagte sie. »Panoy muss essen.«

»Konnte es nicht sein, dass sie Panoy hei?t?«

»Die Alte? Nein. Das ware ein sehr untypischer Name fur eine Hmong.« Als er ihr die dunne Decke unters Kinn zog, kamen ihre Fu?e darunter zum Vorschein. »Heiliger …«

Die Fu?sohlen der Frau waren mit einer verkrusteten kastanienbraunen Masse uberzogen. »Ist sie drau?en herumgelaufen?«

»Nein. Soviel ich wei?, hat sie sich nicht vom Fleck geruhrt. Und das sieht mir auch nicht nach Erde aus.«

Dtui kratzte mit dem Fingernagel an einer Sohle. Sie wusste sofort, womit sie es zu tun hatte. »Das ist geronnenes Blut.«

»Und woher …? Hat sie irgendwelche Verletzungen?«

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