verlegt hat. »Alles in Ordnung, Onkel?«

Siri riss die Steppdecke vom Extrabett und schlang sie um seinen nackten Korper. »Mir fehlt nichts. Vielen Dank.«

Eine Stunde spater war er – anstandig gekleidet, aber nicht minder beschamt – zuruck im Haus des Prasidenten. Wieder beugte er sich uber die Mumie. Er hatte sich noch nie so oft mit ein und derselben Leiche befasst, doch je mehr er uber sie in Erfahrung brachte, desto rastelhafter schien sie zu werden. Zweierlei machte Siri nach wie vor Sorgen. Wenn die beiden Kubaner tatsachlich nach Hause geflogen waren, was hatte Odon dann einen Monat spater in der Prasidentenhohle gesucht? Und wenn er tatsachlich brutal misshandelt und in Zement ertrankt worden war, warum hatte er sich dann so sehr an einen Schlussel geklammert, statt sich mit beiden Handen zur Wehr zu setzen?

Siri fischte den Schlussel aus der Hosentasche und trat hinaus auf den Balkon des neuen Hauses. Erst genoss er den grandiosen Blick uber das Tal. Dann ging er in den Garten, reckte den Hals und sah zum Karstgipfel hinauf. Von dort oben war der Felsblock herabgesturzt, der zum Fund der Leiche gefuhrt hatte. Komisch, dass er zehn Tage vor dem Konzert ausgerechnet dort gelandet war. Er naherte sich dem schmalen Weg, der zu der alten Hohle hinauffuhrte. Der Aufschlagpunkt befand sich genau auf halber Strecke zwischen Haus und Hohleneingang. Was hast du dort gemacht, Senor?

Nachdem die Hauser der fruheren Hohlenbewohner fertig gestellt und ihre Akten und personlichen Habseligkeiten dorthin verbracht worden waren, hatten die ranghohen Kader keinerlei Veranlassung mehr, in die Hohlen zuruckzukehren. Ebenso gut hatte der Graf von Monte Christo dem Chateau d’If einen Besuch abstatten konnen, um sich der glucklichen Zeiten zu erinnern, die er dort hatte verbringen durfen. Also waren die Hohlen versiegelt worden, um Tiere fernzuhalten und sie als historische Sehenswurdigkeiten zu bewahren. Gab es einen besseren Ort als diesen?, uberlegte Siri. Gab es ein geeigneteres Versteck als die leer stehende Prasidentenhohle?

Er folgte dem Betonweg, machte einen kleinen Bogen um die Bruchstelle und stand vor dem Hohleneingang. Eine richtige Tur in einem rechteckigen Rahmen war in die Felswand eingelassen. Da Siri von jeher zum Absurden neigte, stellte er sich vor, wie er die Klingel druckte, durch den Briefschlitz spahte und die Fu?e an einer Eselshaarmatte abstreifte. Doch die Tur war verrammelt und verschlossen, und um sie aufzubrechen, hatte es schon einer kleinen Brigade hartnackiger Feuerwehrleute bedurft. Er lie? die Tur links liegen und kletterte ein Stuck bergauf, aber der Pfad endete schon nach wenigen Metern in einer Sackgasse. Auf dem Weg nach unten kam er ein zweites Mal an der Tur vorbei, umrundete einen kleinen Felsauslaufer und stand vor einer Art Hintertur.

Auf den ersten Blick schien auch sie verrammelt und verschlossen. Ein Nachtwachter hatte bei fluchtiger Uberprufung wohl nichts Verdachtiges festgestellt. Siri inspizierte die Bretter, die quer uber das Turblatt genagelt waren. Eine dicke Eisenkette mit Vorhangeschloss schlang sich durch zwei Bugel, die den Rahmen mit der Tur verbanden. Sie wirkte stabil. Er trat einen Schritt zuruck und starrte sie an. Als er des Ratsels Losung gefunden hatte, huschte ein Lacheln uber sein Gesicht. Das Ganze war eine geschickte optische Tauschung. Er umfasste den Griff und zog daran. Die geolten Scharniere offneten sich, und die Tur schwang auf, samt Brettern, Rahmen und Eisenkette.

Bevor er hineinging, kramte Siri die Taschenlampe aus seiner Umhangetasche. Er hielt kurz inne, um die raffinierte Attrappe zu bewundern, und lie? sie dann lautlos hinter sich ins Schloss fallen. Die PL-Hohlen waren teils naturlich, teils von Menschenhand geschaffen. Wo es keine Felsnischen gab, dienten Sperrholzverschlage als Zimmer, sodass man sich vorkam wie in einem engen, kleinen Motel. In jeder Hohle gab es einen luftdichten Raum mit Schutzturen fur den Fall eines Chemiewaffenangriffs. Aus irgendeinem Grunde – und sei es, weil die Amerikaner tatsachlich nicht gewusst hatten, wo sie steckten – waren die Pathet Lao in den Hohlen von Vieng Xai von solch gemeinen Attacken verschont geblieben.

Er folgte dem Lichtstrahl seiner Taschenlampe durch die Steinzeitwohnung. Er war nur ein einziges Mal hierherzitiert worden, um einen erkrankten Sohn des Prasidenten zu behandeln. Damals war die Hohle wohnlich eingerichtet gewesen, mit Bildern, Teppichen und Nippes. Mit ein wenig Generatorlicht und Fantasie hatte man meinen konnen, man befinde sich in einem Bungalow am Schwarzen Meer. Jetzt war es weiter nichts als eine Hohle. Siri offnete die letzte Tur zu einem Nebenraum des alten Konferenzsaals, der vermutlich ebenso leer war wie die anderen Zimmer, als die Tur zu seinem Erstaunen gegen ein Hindernis stie?. Er leuchtete mit der Taschenlampe durch den Spalt und sah hinein. Der Raum war bis unter die Decke mit allerlei Gegenstanden vollgestopft, wie der geheime Vorratsspeicher einer Elster.

Er ahnte, worauf er gesto?en war. Hier hatte Odon nach seiner Ruckkehr aus Hanoi gewohnt. Siri stellte sich vor, wie er hier gehaust hatte, unter den wachsamen Augen der LVBA. Auf dem steinernen Feuerrost direkt unter dem Luftungsschacht stand ein ru?geschwarzter Topf. Ein Lager aus Stroh hatte ihm als Bett gedient. Ein gruner Plastikeimer ohne Griff enthielt Trinkwasser, und an der Wand stand das einzige Mobelstuck im Raum: ein hoher Kleiderschrank aus Holz. Noch bevor Siri sich ihm naherte und an der Tur zog, wusste er, dass sie verschlossen war und der Schlussel in seiner Hand sie offnen wurde. Trotzdem zerrte er erst einmal am Turgriff, als er im Innern ein Gerausch zu horen glaubte. Der Schlussel passte, und die Tur schwang auf. Obwohl der Schrank auf den ersten Blick leer zu sein schien, schoss etwas blitzschnell aus der Dunkelheit hervor und verfehlte sein Ohr nur um Haaresbreite. Er war zu langsam, um es mit dem Lichtstrahl der Taschenlampe zu verfolgen, aber er hatte das leise Flugelschlagen wenn schon nicht gehort, so doch deutlich gespurt. Vermutlich eine Fledermaus, aber das lie? sich nicht mit Gewissheit sagen, denn sie war schon aus dem Zimmer. Er sah noch einmal in den Schrank – ein einfaches Rechteck mit einem Ablagefach und einer Garderobenstange. Das war alles – keine Kleider, nichts. Nicht einmal ein Spiegel an der Turinnenseite. Er fragte sich, weshalb jemand einen leeren Schrank verschloss und den Schlussel nicht einmal im Angesicht des Todes aus der Hand gab.

Siri tastete samtliche Ritzen und Winkel des alten Schrankes ab, um das Loch oder den Spalt zu finden, durch den die Fledermaus eingedrungen war. Doch seine Suche blieb erfolglos, und so begann er noch einmal von vorn, etwas grundlicher diesmal. Er druckte von innen gegen die Wande, in der Hoffnung, dass sie nachgeben wurden. Er klopfte das massive Teakholz systematisch ab, trat einen Schritt zuruck und kratzte sich am Kopf. Nichts. Die Fledermaus konnte unmoglich von au?en in den Schrank gelangt sein. Unter keinen Umstanden. Aber das verstie? gegen samtliche Regeln der Logik. Der Schlussel stammte aus der Hand eines Mannes, der funf Monate zuvor in Zement gegossen worden war. In dieser Zeit hatte die Fledermaus Berge von Futter benotigt. Doch selbst wenn der Schrank mit Futter vollgestopft gewesen ware, hatte sie im Laufe von funf Monaten Unmengen von Schei?e produzieren mussen, und davon war weder etwas zu sehen noch zu riechen. Siri stand vor einem Ratsel.

»Also gut«, sagte er laut, und seine Stimme hallte von den Hohlenwanden wider. »Dann muss jemand einen Zweitschlussel besitzen. Und dieser Jemand – nennen wir ihn der Einfachheit halber Isandro – hat den Schrank ausgeraumt und die Fledermaus darin eingesperrt. Vielleicht war es aber auch ein Versehen, und er hat das Tier gar nicht bemerkt. Aber warum hatte er den leeren Schrank dann wieder verschlie?en sollen?« Siri war beileibe kein Experte fur die Fressgewohnheiten von Fledermausen. Er wusste nur, dass sie wie Ente schmeckten und sehr gesund waren. Trotzdem konnte er sich nicht vorstellen, dass eine Fledermaus langer als zwei Wochen ohne Nahrung oder Flussigkeit auskommen konnte. Was wiederum bedeutete, dass Isandro noch Monate nach der Ermordung seines Freundes in der Hohle gewesen sein musste.

Er wusste, dass diese Theorie mehr Locher hatte als ein Schweizer Kase, auch wenn er den nur vom Horensagen kannte. Aber wenigstens hatte er jetzt eine leidlich plausible Hypothese. Die nachste halbe Stunde verbrachte er damit, das Zimmer grundlich zu durchsuchen. Alles war mit schimmernden Spinnweben bedeckt, die im Schein der Taschenlampe wie Raureif glitzerten. Er fand einen Rucksack, mehrere Haufen achtlos zuruckgelassener Kleider, Wasch- und Rasierzeug, eine Handvoll spanischer Bucher, Kerzen, zwei nicht geladene Makarow-Pistolen aus sowjetischen Armeebestanden, ein kleines Paket mit Trockenrationen – Tee, Kaffee, Milchpulver -, ein Tablett mit den versteinerten Uberresten verschiedener Gemuse, Streichholzer sowie eine alte Taschenlampe, deren Batterien ausgelaufen waren und ringsum alles mit einer sproden wei?en Kruste uberzogen hatten.

Falls bei Kilometer 8 tatsachlich Opfergegenstande verschwunden waren, so befanden sie sich weder in diesem Zimmer noch anderswo in der Prasidentenhohle. Und wenn Odon nach seiner Ruckkehr auch weiterhin schwarze Magie praktiziert hatte, dann ganz gewiss nicht hier.

Zu seinem Erstaunen entdeckte Siri die Reisepasse der beiden Kubaner in einer alten Konservendose auf einem provisorischen Regal, zusammen mit mehreren, von Gummibandern zusammengehaltenen Bundeln

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