Sie lachelte. »Ich habe mir den Mund fusselig geredet.«
»Dann wollen wir ihr doch noch einmal unsere Aufwartung machen und unserem Protest gegen alberne Vorschriften wie diese gebuhrend Ausdruck verleihen.«
Die Leiterin stand, noch immer in Tarnanzug und Schurze, mit verschrankten Armen oben an der Treppe. Sie schien mit diesem zweiten Uberfall gerechnet zu haben. Siri hielt einen Augenblick inne und musterte den Feind. Die Frau hatte sich Siri nie vorgestellt, obwohl sie bei jeder Mahlzeit, Besprechung oder anderweitigen Zusammenkunft im Hintergrund zu lauern schien. Sie war um die vierzig und von furchteinflo?ender Korperfulle, aber Siri hatte schon machtigeren Gegnern die Stirn geboten.
»Guten Abend, Genossin«, sagte Siri lachelnd.
Die Frau antwortete mit einer offenbar sorgfaltig zurechtgelegten kleinen Rede. »Es tut mir leid, Doktor. Ich kann sie nicht ins Haus lassen. Die Vorschriften verbieten das ausdrucklich. Den gestrigen Versto? habe ich bereits gemeldet.«
»Sie braucht kein eigenes Zimmer«, versuchte er sie zu uberreden.
»Sie ist nicht registriert. Und hat deshalb auch keinen Zutritt.«
»Aber ich dachte, das hier sei ein Gastehaus.«
»Nicht diese Sorte Gastehaus.«
»Sie meinen, die Sorte, die Gaste aufnimmt?«
»Nur, sofern diese Gaste auch auf der Liste stehen.« Sie war ein unbewegliches Objekt. »Vorschriften sind Vorschriften. Wo kamen wir denn hin, wenn jeder tun und lassen wurde, was er will?«
»Ganz recht. Und wie verhalt es sich mit Beweisen?«, fragte die unaufhaltsame Kraft namens Dr. Siri.
»Ich … was?«
»Beweise, Genossin. Ich bin der staatliche Leichenbeschauer. Ich bin im Auftrag des Prasidenten in den Norden gekommen, um Beweise zu sammeln.«
»Sind Beweise nicht in aller Regel Gegenstande?«
»Durchaus, jawohl. Aber auch ein Foto oder eine Aussage kann ein Beweisstuck sein. Oder eine Person, die Beweise am Korper tragt.«
»Ich glaube, ich verstehe nicht ganz, worauf Sie hinauswollen.«
»Dieses kleine Madchen« – er zerrte Dtui, die Panoy im Arm hielt, hinter seinem Rucken hervor – »ist mit Fingerabdrucken formlich ubersat.«
»Fingerabdrucke an einem Menschen? Das soll wohl ein Witz sein?«
»Mir scheint, Sie sind mit den jungsten Entwicklungen auf dem Gebiet der Forensik nur unzureichend vertraut. Was glauben Sie wohl, warum wir sie gestern Abend nicht haben duschen lassen? Nach dem Gesetz – und ich bin nicht nur Leichenbeschauer, sondern auch Jurist, ich wei? also, wovon ich spreche – ist dieses Madchen gar keine Person im eigentlichen Sinne. Sie ist ein Corpus Delicti. Kurz gesagt, sie ist mein Beweisstuck. Wenn es eine Moglichkeit gabe, die Fingerabdrucke von ihr zu entfernen und ins Justizministerium zu bringen, wurde ich das selbstverstandlich tun. Aber das ware eine recht blutige und ethisch kaum zu vertretende Angelegenheit. Sie ist das Beweisstuck, an dem sich die Fingerabdrucke befinden. Sie brauchen sich also weiter keine Sorgen zu machen, weil das Madchen nicht auf Ihrer Liste steht.«
»Ach … nein?«
»Nein. Denn da sie rechtlich gesehen keine Person ist, kann sie auch kein Gast sein.« Lachelnd zwinkerte er ihr zu. Er bezweifelte, dass sie dumm genug war, ihm diesen Unsinn abzukaufen, aber er hatte ihr die Moglichkeit gegeben, die Vorschriften halbwegs elegant zu umgehen.
»Hm.«
»Genosse Lit von der Staatssicherheit wird Ihnen das sicherlich bestatigen.«
Das linke Auge der Frau musterte erst Siri, dann das Madchen. Das rechte Auge tat es ihm einen Sekundenbruchteil spater nach. Schlie?lich richteten sich beide Augen auf Dtui. »Warum haben Sie mir das nicht gleich gesagt?«
Dtui zuckte die Achseln. »Ich bin Krankenschwester. Mit Gesetzen kenne ich mich nicht aus. Ich hatte gar nicht gewusst, wo ich anfangen soll. Au?erdem dachte ich, in seiner Eigenschaft als Rechtsberater des Prasidenten kann Genosse Siri Ihnen die Sache sehr viel besser erklaren.«
»Ahm, ja. Meine Gute. Ich hatte ja keine Ahnung.«
Panoy lag in Dtuis Zimmer und schlief tief und fest. Siri und Dtui sa?en auf dem Balkon und hatten die Fu?e auf die Brustung gelegt. Dtui hatte dem Doktor soeben ihr Dilemma geschildert. Siri grunzte.
»Also, eigentlich ist es ja ein wunderbares Kompliment«, sagte sie und blickte zu der Felswand hinauf, die vor ihnen aufragte wie eine teuflische Schwiegermutter. »Schlie?lich kann er sich die Frauen aussuchen. In seiner Position. Er wird die Treppe vermutlich immer weiter rauffallen, bis er eines Tages Premierminister ist. Wenn nicht gar Prasident. Frauen haben eine Schwache fur machtige Manner. Aber wenn er es tatsachlich einmal so weit bringt, wird er sich von mir wohl kaum in seine Politik reinreden lassen wollen. Ich wurde ihm wahrscheinlich furchtbar auf die Nerven gehen. Und wenn ich mich ein wenig am Riemen rei?en wurde? Ich konnte den Haushalt machen und die Regierungsgeschafte ihm uberlassen.«
Siri trank einen Schluck Tee und lachelte.
»Ich meine«, fuhr sie fort, »er musste sich naturlich auch andern. Ohne Kompromisse keine gute Ehe. Stimmt’s? Sie und Boua mussten doch bestimmt auch jede Menge Kompromisse schlie?en. Und Sie waren immerhin hundertsoundsoviel Jahre zusammen. Von nichts kommt nichts.« Auch sie nippte an ihrem Tee.
Sie beobachteten einen Reiher, der im Licht des Balkons von einem Felsvorsprung herabstie? und einen nahezu perfekten Looping vollfuhrte, bevor er seinen gleitenden Sinkflug fortsetzte. Siri lag eine Bemerkung auf der Zunge, doch Dtui war mit ihren Gedanken ganz woanders. »Ich meine, wie viele solcher Antrage wird eine Frau wie ich wohl bekommen? Vielleicht sollte ich mir die Sache doch noch mal durch den Kopf gehen lassen. Wenn ich sein Angebot ausschlage, ende ich womoglich als alte Jungfer mit Krampfadern und Damenbart, die dieser vergebenen Chance bis in alle Ewigkeit nachtrauert.«
Im Traum entfuhr Panoy ein leiser, madchenhafter Seufzer. Dtui wartete, bis er verklungen war, und fuhr dann fort. »Heiraten oder nicht heiraten? Bleibt die Frage, welche Entscheidung ich mehr bereuen wurde. Meine Mutter sagt immer, ein Mann ist nie wieder so lieb und nett wie am Tag des Heiratsantrags. Besser wird es nicht. Denn ist man erst mal unter der Haube, braucht er sich nie wieder so viel Muhe zu geben. Seine Rede hat mich schier umgehauen. Es wurde mich allerdings nicht wundern, wenn er sie sich von einem Unterausschuss hatte schreiben lassen. Von Gefuhlen war darin jedenfalls nicht die Rede. Er hat sie heruntergeleiert wie ein Referat vor der Generalversammlung.«
Sie nahm die Fu?e herunter, stand auf und stutzte sich mit den Handen auf die Balkonbrustung, als wurde sie zu einer riesigen Menschenmenge sprechen. »Und dann dieses verdammte Antragsformular«, spuckte sie verachtlich aus. »Was fur ein arroganter, ruckgratloser Schnosel. Lasst der sich eigentlich jede Entscheidung von der Partei absegnen? Das ganze Bezirksamt wusste, dass er mir einen Antrag machen wollte, nur ich nicht. Ob er so wohl auch in seinem Privatleben verfahrt? ›Dtui, Schatzchen. Ich fande es schon, wenn wir heute Abend eine kleine Nummer schieben konnten. Ich muss vorher nur rasch bei der Kommission fur Partnerschaften und Beziehungen vorbeischauen und ein F27b ausfullen.‹« Sie errotete. »Ups, Verzeihung, Doc.« Siri hob gnadig die Augenbrauen.
»Ich meine« – sie schien zum Endspurt anzusetzen -, »was ist das eigentlich fur ein angepasster Trottel, der sich von Burokraten diktieren lasst, was er zu tun und zu lassen hat? Und wofur halt der Kerl sich eigentlich – besitzt er doch tatsachlich die Frechheit, um meine Hand anzuhalten, ohne auch nur mit mir geflirtet, geschweige denn mir den Hof gemacht zu haben? Das ist doch wohl nicht zu viel verlangt? Wahrscheinlich wusste er, dass er bei mir auf Granit bei?en wurde. Ich hatte ihn beim leisesten Annaherungsversuch aus den Latschen gehauen. Da blieb nur der Uberraschungsangriff.
Aber das ist naturlich alles graue Theorie, Doc.« Sie wandte den Kopf, um sich zu vergewissern, dass er noch da war. »Wissen Sie, warum? Weil ich mein Lebtag keinen Mann heiraten werde, nur weil er etwas darstellt, vermogend ist oder in einer Uniform eine halbwegs stattliche Figur macht. Nein, wenn ich jemals heirate, dann einen Mann, der mein Innerstes in Sojapaste verwandelt. Einen Mann, den ich so sehr liebe, dass ich morgens nicht zur Arbeit gehen mochte, weil ich wei?, dass er mir den ganzen Tag lang schrecklich fehlen wird. Nicht mehr und nicht weniger. Eher verliebe ich mich in diesen grauenhaften Kasten als in den Genossen Lit. Nein, du aufgeblasene Parteimaschine – such dir eine andere Frau, die zu dir