Stamm. Wir hatten ihn kurz nach unserem Einzug gepflanzt, damals war er noch wesentlich kleiner gewesen. Naturlich hatten die Manner von der Baumschule ihn eingegraben, aber wir waren alle dabei. Nicole war mit ihrem Plastikeimerchen und der Schaufel ausgerustet. Eric kroch in seinen Windeln auf dem Rasen herum. Julia hatte die Manner mit ihrem Charme um den Finger gewickelt, sodass sie sogar Uberstunden machten, um die Arbeit fertig zu bekommen. Als alle fort waren, kusste ich meine Frau und wischte ihr Erde von der Nase. Sie sagte: »Irgendwann wird er unser ganzes Haus bedecken.«

Aber leider kam es anders. Bei einem Unwetter war ein Ast abgebrochen, sodass der Baum fortan ein wenig schief wuchs. Korallenholz ist Weichholz; die Aste bersten leicht. Der Baum wurde nie so gro?, dass er unser Haus bedeckte.

Aber ich erinnerte mich an alles noch lebhaft. Wahrend ich zum Fenster hinausschaute, sah ich uns alle wieder drau?en auf dem Rasen. Aber es war nur eine Erinnerung. Und ich hatte gro?e Angst, dass sie mit der Gegenwart nicht mehr viel zu tun hatte.

Wer jahrelang mit Multi-Agenten-Systemen gearbeitet hat, fangt irgendwann an, das Leben im Sinne solcher Programme zu betrachten.

Im Grunde kann man sich ein Multi-Agenten-Umfeld in etwa wie ein Schachbrett vorstellen und die Agenten wie Schachfiguren. Sie interagieren auf dem Brett, um ein Ziel zu erreichen, genau wie die Schachfiguren, um eine Partie zu gewinnen. Der Unterschied besteht darin, dass niemand die Agenten bewegt. Sie interagieren selbsttatig, um das Ergebnis zu erzielen.

Wenn man die Agenten so konstruiert, dass sie ein Gedachtnis haben, konnen sie Dinge uber ihr Umfeld lernen. Sie erinnern sich, wo sie auf dem Brett gewesen sind und was da passiert ist. Sie konnen zu gewissen Orten zuruckgehen, gewisse Erwartungen hegend. Schlie?lich, so behaupten Programmierer, haben Agenten Vorstellungen von ihrer Umgebung und handeln dementsprechend. Das stimmt naturlich nicht im wortlichen Sinne, aber es konnte stimmen. Es sieht namlich ganz so aus.

Interessant ist allerdings, dass einige Agenten mit der Zeit irrigen Annahmen folgen. Ob nun aufgrund eines Motivationskonfliktes oder aus irgendeinem anderen Grund, sie fangen jedenfalls an, sich unangemessen zu verhalten. Die Umgebung hat sich verandert, aber sie scheinen es nicht zu wissen. Sie wiederholen veraltete Muster. Ihr Verhalten spiegelt nicht mehr die Realitat des Schachbretts. Es ist, als steckten sie in der Vergangenheit fest.

In Evolutionsprogrammen sterben solche Agenten aus. Sie haben keine Kinder. In anderen Multi-Agenten- Programmen werden sie einfach ubergangen, an den Rand gedrangt, wahrend der Strom der Hauptagenten weiterzieht. Manche Programme haben ein »Sensenmann«-Modul, das sie von Zeit zu Zeit aussiebt und vom Brett zieht.

Aber der springende Punkt ist, dass sie in ihrer eigenen Vergangenheit verankert bleiben. Manchmal rei?en sie sich am Riemen und schaffen es, wieder auf den richtigen Weg zu kommen. Manchmal nicht.

Derlei Gedanken bedruckten mich sehr. Ich rutschte auf meinem Stuhl hin und her, blickte auf die Uhr. Erleichtert sah ich, dass es Zeit war, die Kinder abzuholen.

Eric machte im Auto schon seine Hausaufgaben, wahrend wir auf Nicole warteten, die noch Theaterprobe hatte. Sie kam schlecht gelaunt heraus; sie hatte gedacht, sie wurde eine Hauptrolle kriegen, doch stattdessen hatte der Lehrer ihr nur einen kleinen Part gegeben. »Blo? zwei Satze!«, sagte sie und knallte die Wagentur zu. »Wollt ihr wissen, was ich sage? Ich sage: >Seht, da kommt John.< Und im zweiten Akt sage ich: >Das hort sich ziemlich ernst an.< Zwei kurze Satzchen!« Sie lehnte sich zuruck und schloss die Augen. »Ich versteh nicht, was Mr. Blakey fur ein Problem hat!«

»Vielleicht halt er dich fur 'ne totale Niete«, sagte Eric.

»Rattengesicht!« Sie gab ihm einen Schlag auf den Kopf. »Affenarsch!«

»Das reicht«, sagte ich und lie? den Motor an. »Anschnallen.«

»Dieser kleine, saublode Stinker, was wei? der denn schon«, sagte Nicole und legte den Sicherheitsgurt an.

»Ich hab gesagt, es reicht.«

»Ich wei?, dass du stinkst«, sagte Eric. »Pissnelke.«

»Das reicht, Eric.«

»Genau, Eric, hor auf deinen Vater und halt die Klappe.«

»Nicole ...« Ich warf ihr einen bosen Blick im Ruckspiegel zu.

»Tschul-di-gung.«

Sie war den Tranen nahe. Ich sagte zu ihr: »Schatzchen, tut mir Leid, dass du nicht die Rolle bekommen hast, die du wolltest. Ich wei?, wie sehr du sie dir gewunscht hast, das ist wirklich eine Riesenenttauschung.«

»Nein. Ist mir egal.«

»Tja, tut mir jedenfalls Leid.«

»Im Ernst, Dad, es ist mir wirklich egal. Das ist vergessen. Ich schau nach vorn.« Und einen Moment spater dann: »Wei?t du, wer sie gekriegt hat? Diese kleine Schleimschei?erin Katie Richards! Mr. Blakey ist so ein damlicher Sack!« Und bevor ich irgendetwas sagen konnte, brach sie in Tranen aus, schluchzte laut und theatralisch. Eric blickte zu mir heruber und verdrehte die Augen.

Ich fuhr nach Hause, nahm mir fest vor, nach dem Abendessen, wenn sie sich wieder beruhigt hatte, mit Nicole uber ihre Wortwahl zu sprechen.

Ich war gerade dabei, grune Bohnen zu schneiden, damit sie in den Topf passten, als Eric kam und an der Kuchentur stehen blieb. »He, Dad, wo ist mein MP3?«

»Keine Ahnung.« Ich konnte mich einfach nicht daran gewohnen, dass ich standig wissen sollte, wo sich die personlichen Habseligkeiten der Kinder befanden. Erics Gameboy, sein Baseball-Handschuh, Nicoles ruckenfreie T-Shirts, ihr Armband .

»Aber ich kann ihn nicht finden.« Eric blieb in der Tur stehen, kam nicht naher, damit ich ihn ja nicht zum Tischdecken verdonnerte.

»Hast du richtig gesucht?«

»Uberall, Dad.«

»Mhm. Hast du in deinem Zimmer nachgesehen?«

»In allen Ecken.«

»Wohnzimmer?«

»Uberall.«

»Im Auto? Vielleicht hast du ihn im Auto liegen lassen?«

»Hab ich nicht, Dad.«

»Vielleicht in deinem Spind in der Schule?«

»Wir haben keine Spinde, wir haben Facher.«

»Hast du in deinen Jackentaschen nachgesehen?«

»Dad. Manno. Ich hab uberall gesucht. Ich brauch ihn.«

»Wenn du ihn schon uberall gesucht hast, werde ich ihn wohl auch nicht finden, oder?«

»Dad. Wurdest du mir bitte helfen?«

Der Schmorbraten brauchte noch eine gute halbe Stunde. Ich legte das Messer hin und ging in Erics Zimmer. Ich sah an den ublichen Stellen nach, hinten in seinem Kleiderschrank, wo Sachen auf einem Haufen lagen (daruber wurde ich mit Maria reden mussen), unter dem Bett, hinter dem Nachttisch, in der unteren Schublade im Bad und unter den Bergen von Zeug auf seinem Schreibtisch. Eric hatte Recht. Der MP3-Player war nicht in seinem Zimmer. Wir gingen Richtung Wohnzimmer. Auf dem Weg dorthin warf ich einen Blick in Amandas Zimmer. Und ich sah ihn auf der Stelle. Er lag auf dem Regal neben der Wickelkommode, genau neben den Tuben mit Babysalbe. Eric nahm ihn sich. »He, danke, Dad!« Und weg war er.

Es hatte nichts gebracht, ihn zu fragen, warum der Player im Babyzimmer war. Ich ging zuruck in die Kuche und schnippelte weiter meine grunen Bohnen. Fast im selben Augenblick:

»Daa-ad!«

»Was denn jetzt?«, rief ich.

»Er funktioniert nicht!«

»Schrei nicht so.«

Er kam wieder in die Kuche, mit Schmollmiene. »Sie hat ihn kaputtgemacht.«

»Wer hat ihn kaputtgemacht?«

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