Schwarm.

Weil Schwarmbilden aus solchen einfachen Regeln resultierte, wurde es emergentes Verhalten genannt. Es war demnach ein Verhalten, das innerhalb einer Gruppe auftrat, aber nicht in die einzelnen Mitglieder der Gruppe einprogrammiert war. Es konnte in jeder Population auftreten, auch in einer ComputerPopulation. Oder in einer Roboter-Population. Oder in einem Nanoschwarm.

Ich sagte zu Ricky: »Euer Problem war emergentes Verhalten im Schwarm?«

»Genau.«

»Es war nicht vorhersehbar?«

»Gelinde gesagt.«

In den vergangenen Jahrzehnten hatte die Idee des emergen-ten Verhaltens in der Informatik eine kleine Revolution ausgelost. Fur Programmierer bedeutete sie namlich, dass man fur einzelne Agenten Verhaltensregeln festlegen konnte, nicht aber fur die Agenten als Gruppe.

Einzelne Agenten - ob nun Programm-Module oder Prozessoren oder, wie in diesem Fall, richtige Mikroroboter - konnten so programmiert werden, dass sie unter bestimmten Umstanden kooperierten und unter anderen konkurrierten. Man konnte ihnen Ziele einimpfen. Sie konnten angewiesen werden, diese rucksichtslos zu verfolgen oder gegebenenfalls anderen Agenten zu helfen. Doch das Ergebnis dieser Interaktionen lie? sich nicht programmieren. Es emergierte einfach, haufig mit uberraschenden Folgen.

In gewisser Weise war das Ganze ungemein spannend; zum ersten Mal konnte ein Programm Ergebnisse erzielen, die der Programmierer absolut nicht vorhersagen konnte. Die Programme verhielten sich eher wie lebende Organismen denn wie von Menschen geschaffene Roboter. Das fanden Programmierer aufregend - aber es frustrierte sie auch.

Das emergente Verhalten des Programms war namlich regellos. Manchmal bekampften sich konkurrierende Agenten so heftig, dass gar nichts mehr lief und das Programm nichts zu Stande brachte. Manchmal beeinflussten sich Agenten gegenseitig so stark, dass sie ihr Ziel aus den Augen verloren und stattdessen irgendetwas anderes taten. In dieser Hinsicht war das Programm ausgesprochen kindlich - unberechenbar und leicht abzulenken. Wie es einmal ein Programmierer ausdruckte: »Verteilte Intelligenz zu entwickeln ist genauso, als wurde man einem funfjahrigen Kind sagen, es soll in sein Zimmer gehen und sich umziehen. Es kann sein, dass das Kind sich tatsachlich umzieht, es kann aber genauso gut sein, dass es etwas anderes macht und nicht wiederkommt.«

Weil diese Programme sich lebensecht verhielten, fingen Programmierer an, Parallelen zum Verhalten realer Organismen in der realen Welt zu ziehen. Sie bildeten sogar das Verhalten von tatsachlichen Organismen nach, um so eine gewisse Kontrolle uber die Resultate zu erlangen.

So kam es, dass Programmierer auf einmal Ameisenkolonien und Termitenhugel und den Bienentanz studierten, um Programme fur die Steuerung von Flugzeuglandeplanen oder die Paketbeforderung oder das Ubersetzen von Sprachen zu schreiben. Diese Programme funktionierten oft wunderbar, aber sie konnten sich dennoch verrennen, vor allem, wenn sich die Umstande drastisch veranderten. Dann verloren sie ihre Ziele.

Aus diesem Grund begann ich vor funf Jahren mit der Simulation von Rauber-Beute-Beziehungen, um Ziele zu fixieren. Hungrige Rauber lie?en sich namlich nicht ablenken. Es konnte sein, dass sie durch die Umstande gezwungen wurden, ihre Methoden abzuwandeln, und dass bis zum Erfolg viele Versuche erforderlich waren - aber sie verloren ihr Ziel nicht aus den Augen.

So wurde ich Experte fur Rauber-Beute-Beziehungen. Ich kannte mich aus mit Rudeln von Hyanen, afrikanischen Jagdhunden, sich anpirschenden Lowinnen und angreifenden Kolonnen von Wanderameisen. Mein Team hatte die Fachliteratur der Feldbiologie gelesen, wir hatten die Erkenntnisse verallgemeinert und in ein Programm-Modul namens predprey eingebaut, das Agentensysteme steuern und deren Verhalten auf ein Ziel lenken konnte. Es konnte das Programm dazu bringen, ein Ziel zu suchen.

Als ich jetzt auf Rickys Bildschirm sah, wie die koordinierten Einheiten sich flie?end bewegten, wahrend sie durch die Luft kreisten, sagte ich: »Ihr habt predprey eingesetzt, um eure individuellen Einheiten zu programmieren?«

»Genau. Wir haben diese Regeln verwendet.«

»Tja, das Verhalten macht auf mich einen ganz guten Eindruck«, sagte ich mit Blick auf den Bildschirm. »Wieso gibt es ein Problem?«

»Wir wissen es nicht genau.«

»Was hei?t das?«

»Das hei?t, wir wissen, dass es ein Problem gibt, aber wir wissen nicht genau, was die Ursache dafur ist. Ob es ein Programmproblem ist - oder was anderes.«

»Was anderes? Was denn zum Beispiel?« Ich runzelte die Stirn. »Ich kann dir nicht ganz folgen, Ricky. Das da ist blo? ein Schwarm Nanoroboter. Die machen doch genau das, was ihr wollt. Wenn die Programmierung nicht stimmt, dann andert ihr sie eben. Oder verstehe ich da was nicht?«

Ricky sah mich bedruckt an. Er schob seinen Stuhl vom Schreibtisch weg und stand auf. »Ich zeig dir, wie wir die Agenten herstellen«, sagte er. »Dann verstehst du die Situation besser.«

Da ich Julias Prasentation auf Band gesehen hatte, war ich ungemein neugierig auf das, was er mir als Nachstes zeigen wurde. Viele Leute, die ich sehr ernst nahm, hielten namlich molekulare Herstellung fur unmoglich. Einer der starksten theoretischen Einwande war die Zeit, die es dauern wurde, ein funktionierendes Molekul zu bauen. Damit es uberhaupt moglich war, musste das Flie?band, das die Nanoteilchen herstellte, bedeutend effizienter sein als alles, was die mensch-liche Produktion bisher gekannt hatte. Im Grunde liefen alle vom Menschen geschaffenen Flie?bander in etwa mit der gleichen Geschwindigkeit: Sie konnten ein Teil pro Sekunde hinzufugen. Ein Auto zum Beispiel bestand aus ein paar Tausend Teilen. Und man konnte ein Auto in wenigen Stunden zusammenbauen. Ein Passagierflugzeug hatte sechs Millionen Teile, und es dauerte mehrere Monate, bis es fertig war. Doch ein hergestelltes Molekul bestand im Durchschnitt aus 1025 Teilen. Das waren 10 000 000 000 000 000 000 000 000 Teile. Eine unvorstellbar gro?e Zahl. Das menschliche Gehirn konnte sie nicht erfassen. Berechnungen hatten jedoch ergeben, dass es, selbst wenn man pro Sekunde eine Million Teile zusammenbauen konnte, immer noch dreitausend Billionen Jahre dauern wurde - langer als das bekannte Alter des Universums -, um ein einziges Molekul fertig zu stellen. Und das war ein Problem. Es war bekannt als das Bau-Zeit-Problem.

Ich sagte zu Ricky: »Wenn ihr industriell produziert ...«

»Tun wir.«

»Dann musst ihr das Bau-Zeit-Problem gelost haben.«

»Haben wir.«

»Wie?«

»Wart's ab.«

Die meisten Wissenschaftler sahen die Losung des Problems darin, mit gro?eren Untereinheiten zu bauen, also mit Molekularfragmenten, die aus Milliarden Atomen bestanden. Dadurch wurde sich die Montagezeit auf zwei Jahre reduzieren. Dann, mit teilweiser Selbstmontage, konnte man die erforderliche Zeit auf einige Stunden runterdrucken, vielleicht sogar auf nur eine Stunde. Doch selbst mit weiteren Verbesserungen blieb es eine gro?e theoretische Herausforderung, Produkte in gro?en Mengen zu erzeugen. Das Ziel bestand namlich nicht darin, ein einziges Molekul in einer Stunde zu produzieren. Das Ziel bestand darin, mehrere Pfund Molekule in einer Stunde herzustellen.

Niemand hatte bisher einen Weg gefunden, das moglich zu machen.

Wir kamen an einigen Labors vorbei, darunter eins, das aussah wie ein herkommliches Mikrobiologielabor. Ich sah Mae darin herumwerkeln. Ich fragte Ricky, warum er hier ein mikrobiologisches Labor habe, doch er ging nicht auf meine Frage ein. Er war jetzt ungeduldig, in Eile. Ich sah, wie er verstohlen auf seine Uhr schaute. Direkt vor uns war eine letzte glaserne Luftschleuse. Auf der Glastur stand: »mikroproduktion«. Ricky winkte mich hinein. »Immer nur einzeln«, sagte er. »Mehr lasst das System nicht zu.«

Ich ging hinein. Die Turen schlossen sich zischend hinter mir, die Druckkissen rasteten ein. Wieder kam Wind: von unten, von den Seiten, von oben. Aber inzwischen war ich daran gewohnt. Die zweite Tur offnete sich, und ich ging wieder einen kurzen Korridor hinunter, der in einen gro?en Raum dahinter fuhrte. Ich sah strahlend helles, wei?es Licht -so hell, dass mir die Augen wehtaten.

Ricky kam mir nach, redete, wahrend wir weitergingen, aber ich wei? nicht mehr, was er sagte. Ich konnte mich nicht auf seine Worte konzentrieren. Ich starrte blo?. Denn jetzt war ich in der Hauptmontagehalle - ein gewaltiger, fensterloser Raum, wie ein riesiger, drei Stockwerke hoher Hangar. Und in diesem Hangar befand sich

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