Vielfaches komplizierter waren als die Molekule, die sie fertigten, gestaltete es sich von Anfang an sehr schwierig, sie zu entwickeln und zu bauen. Meines Wissens war es noch keinem Labor irgendwo auf der Welt tatsachlich gelungen. Aber jetzt erzahlte Ricky mir, so ganz nebenbei, dass Xymos molekulare Assembler bauen konnte, die jetzt Molekule fur die Firma herstellten.
Und ich glaubte ihm nicht.
Ich arbeitete seit einer Ewigkeit in der Technologiebranche, und ich hatte ein Gespur dafur entwickelt, was moglich war. Einen solch gigantischen Sprung nach vorn gab es einfach nicht. Hatte es noch nie gegeben. Technologien waren eine Form von Wissen, und sie wuchsen, evolvierten, reiften heran, wie jedes Wissen. Wer das anders sah, konnte genauso gut glauben, dass die Bruder Wright in der Lage gewesen waren, eine Rakete zu bauen und zum Mond zu fliegen statt nur die hundert Meter uber die Sanddunen von Kitty Hawk.
Die Nanotechnologie befand sich noch immer im Kitty-Hawk-Stadium.
»Komm schon, Ricky«, sagte ich. »Wie macht ihr das wirklich?«
»Die technischen Einzelheiten sind nicht so wichtig, Jack.«
»Was redest du fur einen Stuss? Naturlich sind sie wichtig.«
»Jack«, sagte er und schenkte mir sein gewinnendstes Lacheln. »Glaubst du wirklich, ich luge dich an?«
»Ja, Ricky«, erwiderte ich. »Das glaube ich.«
Ich blickte hoch zu den Krakenarmen um mich herum. Ich war umgeben von Glas und sah mein Spiegelbild Dutzende Male in den Flachen. Es war verwirrend, desorientierend. Um meine Gedanken zu sammeln, sah ich nach unten auf meine Fu?e.
Und mir fiel auf, dass nicht nur die Laufstege, auf denen wir gegangen waren, sondern auch Teile des eigentlichen Bodens glasern waren. Ein Abschnitt aus Glas war ganz in der Nahe. Ich ging darauf zu. Durch das Glas konnte ich sehen, dass auch darunter Stahlrohre und -leitungen verliefen. Eine Reihe von Leitungen weckte meine Aufmerksamkeit, weil sie vom Lagerraum zu einem Glaswurfel in der Nahe verliefen, wo sie dann aus dem Boden auftauchten und nach oben strebten, um in die kleineren Rohrchen uberzugehen.
Das, so nahm ich an, war die Materialzufuhr - der Brei aus organischem Rohmaterial, der auf dem Flie?band in fertige Molekule verwandelt wurde.
Ich blickte wieder nach unten und folgte den Rohren zuruck zu der Stelle, wo sie vom angrenzenden Raum hereinkamen. Auch diese Anschlussstelle war aus Glas. Ich konnte die geschwungenen Stahlbauche der gro?en Kessel sehen, die mir zuvor aufgefallen waren. Die Tanks, die ich fur eine Mikrobrauerei gehalten hatte. Denn so hatte es wirklich ausgesehen, eine kleine Brauerei. Maschinen fur kontrollierte Garung, fur kontrolliertes Mikrobenwachstum.
Und dann begriff ich, was es wirklich war.
Ich sagte: »Du verdammter Mistkerl.«
Ricky lachelte wieder und zuckte die Achseln. »Was willst du«, sagte er. »Hauptsache, die Arbeit wird gemacht.«
Die Kessel im nachsten Raum waren tatsachlich Tanks fur kontrolliertes Mikrobenwachstum. Aber Ricky stellte kein Bier her - er stellte Mikroben her, und ich hatte keinen Zweifel an dem Grund dafur. Da Xymos nicht fahig war, echte Nanoas-sembler zu bauen, erzeugten sie ihre Molekule mithilfe von Bakterien. Das war Gentechnologie, nicht Nanotechnologie.
»Na ja, nicht direkt«, erwiderte Ricky, nachdem ich ihm gesagt hatte, was ich dachte. »Aber ich gebe zu, dass wir eine hybride Technologie anwenden. Aber das ist doch wohl keine gro?e Uberraschung, oder?«
Das stimmte. Seit mindestens zehn Jahren prophezeiten Experten, dass Gentechnologie, Informatik und Nanotechnologie irgendwann miteinander verschmelzen wurden. Alle drei beschaftigten sich mit ahnlichen - und miteinander verzahnten - Dingen. Es war kein allzu gro?er Unterschied, ob per Computer Teile eines bakteriellen Genoms decodiert wurden oder ob ein Computer dabei half, neue Gene in die Bakterien einzufuhren, um neue Proteine herzustellen. Und es war auch kein gro?er Unterschied, ob neue Bakterien erzeugt wurden, um beispielsweise Insulinmolekule zu gewinnen, oder ob ein kunstlicher, mikromechanischer Assembler hergestellt wurde, um Molekule zusammenzufugen. Es geschah alles auf molekularer Ebene. Die Herausforderung war in jedem Fall gleich: Menschliches Design sollte au?erst komplexen Systemen aufgezwungen werden. Und Molekulardesign war ungeheuer kompliziert.
Man konnte sich ein Molekul als eine Reihe von Atomen vorstellen, die wie Legosteine eines nach dem anderen zusammengesteckt wurden. Aber das Bild hinkte. Denn anders als beim Lego lie?en sich Atome nicht in jeder beliebigen Reihenfolge verbinden. Ein eingefugtes Atom war starken lokalen Einflussen ausgesetzt - magnetischen und chemischen - mit haufig unerwunschten Folgen. Es konnte passieren, dass das Atom aus seiner Position befordert wurde, es konnte sein, dass es blieb, wo es war, aber irgendwie schief. Es konnte sogar sein, dass es das gesamte Molekul zu Knoten verhedderte.
Demzufolge war molekulare Herstellung eine Ubung in der Kunst des Moglichen, in der Kunst, Atome und Gruppen von Atomen zu ersetzen, um aquivalente Strukturen zu produzieren, die auf die gewunschte Weise funktionieren wurden. Angesichts der gro?en Schwierigkeiten konnte man jedoch unmoglich daruber hinwegsehen, dass bereits erprobte Molekularfabriken existierten, die in der Lage waren, Molekule in gro?en Mengen zu fertigen: Sie wurden Zellen genannt.
»Leider kann uns die zellulare Herstellung nur bis zu einem gewissen Punkt weiterhelfen«, sagte Ricky. »Wir ernten die Substratmolekule - das Rohmaterial - und verwenden sie dann fur die anschlie?enden nanotechnologischen Verfahren. Wir nutzen also von beidem etwas.«
Ich deutete auf die Tanks. »Was fur Zellen zuchtet ihr?«
»Theta-d 5972«, sagte er.
»Und das ist was?«
»Ein E. coli-Stamm.«
E. coli war ein herkommliches Bakterium, das ziemlich haufig in der naturlichen Umgebung vorkam, sogar im menschlichen Darm. Ich sagte: »Ist denn keiner mal auf den Gedanken gekommen, dass es vielleicht nicht ganz so gut ist, Zellen zu verwenden, die im menschlichen Korper leben konnen?«
»Eigentlich nicht«, sagte er. »Offen gestanden, hat das keine Rolle gespielt. Wir wollten einfach eine Zelle, die hinreichend erforscht und in der Fachliteratur ausfuhrlich behandelt ist. Wir haben einen Industriestandard ausgesucht.«
»Aha ...«
»Jedenfalls«, fuhr Ricky fort, »glaube ich nicht, dass es ein Problem ist, Jack. Es wird nicht im menschlichen Darm bluhen und gedeihen. Theta-d ist fur verschiedene Nahrstoffquellen optimiert worden - damit es preiswert im Labor gezuchtet werden kann. Ich glaube, es kann sogar auf Abfall wachsen.«
»So kriegt ihr also eure Molekule. Bakterien machen sie.«
»Ja«, sagte er, »so kriegen wie die Primarmolekule. Wir ernten siebenundzwanzig Primarmolekule. Sie fugen sich in relativ hoch temperierten Umgebungen zusammen, wo die Atome aktiver sind und sich schnell vermischen.«
»Ist es deshalb hier so hei??«
»Ja. Die maximale Reaktionseffizienz liegt bei vierundsechzig Grad Celsius, also arbeiten wir mit der Temperatur. So erreichen wir die schnellste Kombinationsgeschwindigkeit. Aber die Molekule hier verbinden sich auch bei erheblich niedrigeren Temperaturen. Schon bei zwei bis funf Grad Celsius ist ein gewisses Ma? an Molekularverbindung moglich.«
»Und andere Bedingungen braucht ihr nicht?«, sagte ich. »Vakuum? Druck? Hohe Magnetfelder?«
Ricky schuttelte den Kopf. »Nein, Jack. Wir halten diese Bedingungen aufrecht, um die Produktion zu beschleunigen, aber es ist nicht zwingend erforderlich. Das Design ist recht elegant. Die Komponentenmolekule fugen sich ganz problemlos zusammen.«
»Und die verbinden sich dann, um euren endgultigen Assembler zu bilden?«
»Der dann die Molekule zusammensetzt, die wir haben wollen. Ja.«
Es war eine clevere Losung, die Assembler mithilfe von Bakterien zu schaffen. Aber Ricky erzahlte mir, dass die Komponenten sich fast automatisch selbst zusammensetzten und dass dazu lediglich eine hohe Temperatur erforderlich war. Wozu diente dann diese komplizierte Glaskonstruktion?
»Effizienz und Arbeitsteilung«, sagte Ricky. »In den verschiedenen Armen konnen wir bis zu neun Assembler gleichzeitig bauen.«
»Und wo fertigen die Assembler die endgultigen Molekule?«