ein ungeheuer komplexes Gebilde, das in der Luft zu hangen schien und wie ein Edelstein funkelte.

6. Tag, 9.12 Uhr

Zuerst begriff ich gar nicht, was ich da vor mir hatte - es sah aus wie ein riesiger, gluhender Krake, der sich uber mir erhob, mit glitzernden, geschliffenen Armen, die sich in alle Richtungen ausstreckten und vielfaltige Spiegelungen und Farbbander auf die Wande warfen. Doch dieser Krake hatte gleich mehrere Armschichten. Eine Schicht war weit unten, knapp drei?ig Zentimeter uber dem Boden. Eine zweite befand sich in Brusthohe; die dritte und die vierte Schicht waren hoher, uber meinem Kopf. Und sie alle gluhten, funkelten hell.

Ich blinzelte, war geblendet. Langsam erkannte ich die Einzelheiten. Der Krake befand sich in einer unregelma?igen, dreigeschossigen Rahmenkonstruktion, die ganzlich aus modularen Glaswurfeln bestand. Boden, Wande, Decken, Treppenaufgange - alles aus Wurfeln. Doch es wirkte alles willkurlich, als hatte jemand einen Berg riesiger, transparenter Zuckerwurfel mitten im Raum abgeladen. Innerhalb dieser Anhaufung von Wurfeln schlangelten sich die Arme des Kraken in alle Richtungen. Das Ganze wurde von einem Netz eloxierter Streben und Verbindungsstucke gestutzt, aber sie waren wegen der Spiegelungen kaum zu erkennen, es sah deshalb aus, als wurde der Krake in der Luft hangen.

Ricky grinste. »Konvergente Montage. Die Architektur ist fraktal. Nicht schlecht, was?«

Ich nickte langsam. Allmahlich realisierte ich mehr Details. Was ich als Krake gesehen hatte, war in Wahrheit eine sich verastelnde Baumstruktur. Eine zentrale viereckige Leitung ragte mitten im Raum auf, und von allen Seiten zweigten kleinere Rohre ab. Von diesen »Asten« gingen wiederum noch kleinere Rohre weg und davon noch kleinere. Die kleinsten waren bleistiftdunn. Alles glanzte, als ware es verspiegelt.

»Warum ist es so hell?«

»Das Glas hat eine Diamantbeschichtung«, sagte er. »Auf der molekularen Ebene ist Glas wie Schweizer Kase, voller Locher. Und naturlich ist es flussig, die Atome gehen einfach durch.«

»Also beschichtet ihr das Glas.«

»Genau. Geht nicht anders.«

In diesem strahlenden Wald aus Glaszweigen bewegten sich David und Rosie, machten Notizen, stellten Ventile ein, schauten auf ihre Handhelds. Ich begriff, dass ich ein hochst parallel arbeitendes Flie?band vor Augen hatte. Kleine Molekulfragmente wurden in die kleinsten Rohre eingefuhrt und Atome hinzugefugt. Wenn das erledigt war, ging es weiter in die nachstgro?eren Rohre, wo noch mehr Atome beigegeben wurden. Auf diese Weise bewegten sich Molekule nach und nach zum Zentrum des Gebildes, bis die Montage fertig war, und das Endprodukt wurde in das Rohr in der Mitte ausgesto?en.

»Ganz genau«, sagte Ricky. »Es funktioniert nach dem gleichen Prinzip wie ein Flie?band in der Automobilherstellung, nur eben in molekularer Gro?enordnung. Die Molekule fangen an den Seiten an und werden mit dem Band zur Mitte befordert. Wir fugen hier eine Proteinsequenz, da eine Methylgruppe hinzu, genau wie Turen und Rader an ein Auto montiert werden. Am Ende rollt eine neue, ma?gefertigte Molekulstruktur vom Band. Genau wie wir sie haben wollen.«

»Und die verschiedenen Arme?«

»Bauen verschiedene Molekule. Deshalb sehen sie auch unterschiedlich aus.« An mehreren Stellen reichten die Krakenarme durch einen Stahltunnel, der mit dicken Bolzen verstarkt war, zur Ableitung des Unterdrucks. An anderen Stellen war ein Wurfel mit mehrschichtigem Silbermaterial isoliert, und in der Nahe sah ich Tanks mit Flussignitrogen; in dem Abschnitt wurden extrem niedrige Temperaturen erzeugt.

»Das sind unsere Kryogenikraume«, sagte Ricky. »Wir gehen nicht sehr niedrig, bis hochstens minus siebzig Grad etwa. Komm, ich zeig's dir.« Er fuhrte mich durch den Komplex, uber glaserne Laufstege, die sich zwischen diesen Asten hindurchwanden. An manchen Stellen fuhrten kurze Treppen uber die untersten Aste.

Ricky plapperte ununterbrochen uber technische Details: vakuumumhullte Schlauche, Metallphasentrenner, KugelRuckschlagventile. Als wir den isolierten Wurfel erreichten, offnete er die dicke Tur, und zum Vorschein kam ein kleiner Raum, an den ein zweiter Raum grenzte. Sie sahen aus wie zwei Kuhlraume fur Fleisch. Jede Tur hatte ein kleines Glasfenster. Im Augenblick herrschte Raumtemperatur. »Man kann hier gleichzeitig zwei verschiedene Temperaturen erzeugen. Einen Raum vom anderen aus steuern, wenn man will, aber normalerweise lauft alles automatisch.«

Ricky fuhrte mich wieder nach drau?en und blickte dabei auf die Uhr. Ich sagte: »Haben wir noch einen Termin?«

»Was? Nein, nein. Nichts dergleichen.« Ganz in der Nahe waren zwei Wurfel, bei denen es sich eigentlich um wuchtige Metallraume handelte, in die dicke Elektrokabel liefen. Ich sagte: »Sind das eure Magnetraume?«

»Richtig«, sagte Ricky. »Wir haben Pulsfeldmagnete, die im Kern sechzig Tesla erzeugen. Das ist etwa eine Million Mal so viel wie das Magnetfeld der Erde.«

Mit einem Achzen druckte er die Stahltur des ersten Magnetraumes auf. Ich sah ein gro?es donutformiges Objekt von gut einem Meter achtzig Durchmesser, mit einem zweieinhalb Zentimeter breiten Loch in der Mitte. Dieser »Donut« war vollig mit Rohrleitungen und einer Kunststoffisolierung umhullt. Die Ummantelung war von oben bis unten mit dicken Stahlschrauben befestigt.

»Unser Schatzchen hier braucht jede Menge Kuhlung, das kann ich dir sagen. Und jede Menge Strom: funfzehn Kilovolt.

Die Ladezeit der Kondensatoren betragt eine volle Minute. Und naturlich konnen wir ihn nur takten. Wenn wir ihn auf Dauer anmachen wurden, wurde er explodieren - von dem Feld in Stucke gerissen, das er erzeugt.« Er deutete auf den unteren Teil des Magneten, wo in Kniehohe ein runder Druckknopf war. »Das ist die Notabschaltung«, sagte er. »Fur alle Falle. Mit dem Knie draufdrucken, wenn du die Hande voll hast.«

Ich sagte: »Ihr verwendet also hohe Magnetfelder fur einen Teil eurer Fertig«

Aber Ricky hatte sich bereits abgewandt und strebte zur Tur hinaus, schaute wieder auf seine Uhr. Ich eilte hinterher.

»Ricky ...«

»Ich muss dir noch was zeigen«, sagte er. »Wir haben es gleich geschafft.«

»Ricky, das ist alles sehr eindrucksvoll«, sagte ich und deutete mit einer Handbewegung auf die leuchtenden Arme. »Aber eure Montage lauft uberwiegend bei Raumtemperatur - kein Unterdruck, keine Tiefsttemperaturen, kein Magnetfeld.«

»Richtig. Keine besonderen Bedingungen.«

»Wie ist das moglich?«

Er zuckte die Achseln. »Die Assembler brauchen das nicht.«

»Die Assembler?«, fragte ich. »Willst du damit sagen, ihr habt molekulare Assembler an diesem Flie?band?«

»Ja. Naturlich.«

»Assembler machen die Montage fur euch?«

»Naturlich. Ich dachte, das ware dir klar.«

»Nein, Ricky«, sagte ich, »das war mir ganz und gar nicht klar. Und ich lasse mich nicht gern anlugen.«

Er setzte eine gekrankte Miene auf. »Ich luge nicht.«

Aber ich war mir ganz sicher, dass er log.

Als Wissenschaftler anfingen, sich mit molekularer Herstellung zu beschaftigen, erkannten sie schon zu Anfang, wie unglaub-lich schwer die Verwirklichung sein wurde. Im Jahre 1990 schoben IBM-Forscher Xenonatome auf einem Nickelkristall hin und her, bis sie die Buchstaben »IBM« in Form des Firmenlogos ergaben. Das ganze Logo war ein Milliardstel von einem Millimeter lang und nur durch ein Elektronenmikroskop zu sehen. Es machte optisch einiges her und erhielt gro?es Medieninteresse. IBM erweckte die Vorstellung, es ware der Beweis fur eine Idee, als ware damit die Tur zur molekularen Fertigung aufgesto?en worden. Aber es war im Grunde nicht mehr als ein hubsches Bravourstuck.

Einzelne Atome in eine bestimmte Anordnung zu bringen war namlich eine langsame, muhselige und teure Angelegenheit. Die IBM-Forscher benotigten einen ganzen Tag, um funfunddrei?ig Atome zu bewegen. Kein Mensch glaubte, dass man auf diesem Wege eine vollig neue Technologie schaffen konnte. Stattdessen gingen die meisten davon aus, dass es den Nanotechnologen irgendwann gelingen wurde, »Assembler« zu bauen - winzige molekulare Maschinen, die bestimmte Molekule produzierten, so wie Kugellagermaschinen Kugellager. Die neue Technologie wurde molekulare Maschinen benotigen, um molekulare Produkte herzustellen.

Es war eine ansprechende Idee, die praktischen Probleme waren jedoch entmutigend. Da Assembler um ein

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