»Nimmt deine Radkappen unter die Lupe, Charley«, sagte ich.
»Mmmm.« Er klang unglucklich, und dazu hatte er auch allen Grund. Wenn der Schwarm den Wagen grundlich erkundete, konnte es sein, dass er per Zufall einen Weg ins Innere entdeckte. Charley sagte: »Jetzt lautet wohl die entscheidende Frage, wie gro? ist ihre SO-Komponente, nicht wahr?«
»Stimmt«, erwiderte ich.
Mae sagte: »Fur den Laien?«
Ich erklarte es. Die Schwarme hatten keine Fuhrung und keine zentrale Intelligenz. Ihre Intelligenz war die Summe der einzelnen Partikel. Die Partikel organisierten sich selbst zu einem Schwarm, und ihre Neigung zur Selbstorganisation brachte unberechenbare Resultate. Man wusste einfach nicht, was sie machen wurden. Es war moglich, dass sie weiterhin so ineffektiv waren wie bisher. Sie konnten aber auch per Zufall auf die Losung sto?en. Und sie konnten sich auf organisierte Art und Weise auf die Suche machen.
Aber das hatten sie bislang nicht getan.
Meine Kleidung fuhlte sich schwer an, sie war schwei?durchtrankt. Schwei? tropfte mir von Nase und Kinn. Ich wischte mir mit dem Arm die Stirn ab. Ich sah Mae an. Auch sie schwitzte.
Ricky sagte: »He, Jack?«
»Was?«
»Julia hat vorhin angerufen. Sie ist nicht mehr im Krankenhaus und .«
»Nicht jetzt, Ricky.«
»Sie kommt heute Abend her.« »Wir reden spater, Ricky.«
»Ich dachte blo?, du wurdest das gern wissen.«
»Herrgott«, entfuhr es Charley. »Sag doch einer dem Arschloch mal, er soll die Klappe halten. Wir haben zu
Bobby Lembeck sagte: »Jetzt acht Knoten Wind. Nein, Tschuldigung ... sieben.«
Charley sagte: »Mann, die Spannung bringt mich noch um. Wo ist mein Schwarm jetzt, Jack?«
»Unter dem Wagen. Ich kann nicht sehen, was er macht . Nein, Moment ... Er kommt hinter dir raus, Charley. Sieht aus, als wurde er sich deine Rucklichter vornehmen.«
»Ein richtiger Autonarr«, sagte er. »Na, soll er so viel rumschnuffeln, wie er will.«
Ich blickte noch uber die Schulter auf Charleys Schwarm, als Mae sagte: »Jack, schau doch mal.«
Der Schwarm vor ihrem Fenster auf der Beifahrerseite hatte sich verandert. Er war jetzt fast ganzlich silbern, schimmernd, aber ziemlich stabil, und ich sah, dass sich Maes Kopf und Schultern in dieser silbernen Flache spiegelten. Das Bild war nicht perfekt, weil Augen und Mund etwas verschwommen waren, aber im Gro?en und Ganzen war es genau.
Ich runzelte die Stirn. »Er ist ein Spiegel ...«
»Nein«, sagte sie. »Ist er nicht.« Sie wandte sich vom Fenster ab und sah mich an. Ihr Bild auf der Silberoberflache veranderte sich nicht. Das Gesicht blickte weiter in den Wagen. Dann, nach ein oder zwei Sekunden, erbebte das Bild, loste sich auf und setzte sich neu zusammen: Diesmal zeigte es Maes Hinterkopf.
»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Mae.
»Ich hab da so eine Ahnung, aber .«
Der Schwarm auf der Frontscheibe tat genau das Gleiche, nur dass seine Silberoberflache uns beide nebeneinander im Wagen sitzend zeigte, mit sehr verangstigten Mienen. Auch dieses Bild war etwas verschwommen. Und jetzt wurde mir klar, der Schwarm war kein Spiegel. Der Schwarm selbst erzeugte das Bild durch die genaue Position individueller Partikel, was bedeutete .
»Schlechte Nachrichten«, sagte Charley.
»Ich wei?«, sagte ich. »Sie innovieren.«
»Was meinst du, ist das eine von den Voreinstellungen?«
»Musste eigentlich. Ich tippe auf Imitation.«
Mae schuttelte den Kopf, verstand kein Wort.
»Das Programm hat gewisse voreingestellte Strategien, die helfen sollen, das Ziel zu erreichen. Die Strategien simulieren, wie richtige Rauber sich verhalten.
Sie sagte: »Du glaubst, das da ist Imitation?«
»Ich glaube, es ist eine Form von Imitation, ja.«
»Er versucht, so auszusehen wie wir?«
»Ja.«
»Ist das emergentes Verhalten? Hat es sich von allein entwickelt?«
»Ja«, erwiderte ich.
»Schlechte Nachrichten«, sagte Charley traurig. »Sehr schlechte Nachrichten.«
Wahrend ich im Auto sa?, spurte ich Wut in mir aufsteigen. Dieses Spiegelbild machte mir namlich klar, dass ich die eigentliche Struktur der Nanopartikel gar nicht kannte. Mir war gesagt worden, es gebe eine Piezo- Scheibe, die das Licht reflektierte. Es war daher nicht verwunderlich, dass der Schwarm ab und zu silbern in der Sonne glitzerte. Das musste nicht unbedingt eine hoch entwickelte Partikelorientierung bedeuten. Eher fasste man so ein silbernes Wogen als Zufallseffekt auf, ebenso wie es auf stark befahrenen Autobahnen zu Staus kam, die sich dann wieder auflosten. Da mussten nur ein oder zwei Autofahrer willkurlich das Tempo verandern, und schon konnte der nachfolgende Verkehr kilometerweit in Mitleidenschaft gezogen werden: Die Wirkung setzte sich wellenartig nach hinten fort. Das Gleiche musste auf die Schwarme zutreffen. Ein Zufallseffekt wurde sich wie eine Welle durch den Schwarm fortsetzen. Und genau das hatten wir gesehen.
Doch dieses Spiegelverhalten war etwas grundsatzlich anderes. Die Schwarme produzierten jetzt Bilder in Farbe und hielten sie einigerma?en konstant. Eine solche Komplexitat konnte das einfache Nanopartikel, das mir gezeigt worden war, unmoglich aufweisen. Ich bezweifelte, dass sich aus einer Silberschicht ein volles Farbspektrum erzeugen lie?. Theoretisch war es moglich, das Silber haargenau so zu neigen, dass es Regenbogenfarben erzeugte, aber das setzte eine enorm nuancierte Beweglichkeit voraus.
Logischer erschien mir daher, dass die Partikel die Farben anders erzeugten. Und das hie?, auch diesbezuglich war mir nicht die Wahrheit gesagt worden. Ricky hatte mich erneut belogen. Deshalb war ich wutend.
Ich war bereits zu dem Schluss gelangt, dass irgendetwas mit Ricky nicht stimmte, und im Nachhinein betrachtet, lag das Problem bei mir, nicht bei ihm. Selbst nach der Katastrophe im Depot begriff ich noch immer nicht, dass die Schwarme sich rascher entwickelten, als wir mit ihnen Schritt halten konnten. Ich hatte erkennen mussen, mit welchem Gegner ich es zu tun hatte, als die Schwarme eine neue Strategie demonstrierten -den Fu?boden rutschig machten, um ihre Beute au?er Gefecht zu setzen und sie von der Stelle zu bewegen. Bei Ameisen wurde man das kollektiven Transport nennen; das Phanomen war allseits bekannt. Bei diesen Schwarmen jedoch war es noch nicht da gewesenes, neu evolviertes Verhalten. Doch zu diesem Zeitpunkt war ich zu entsetzt, um die wahre Bedeutung zu erkennen. Jetzt, als ich in dem hei?en Wagen sa?, brachte es zwar nichts, Ricky die Schuld zu geben, aber ich hatte schreckliche Angst, und ich war mude, und ich konnte keinen klaren Gedanken fassen.
»Jack.« Mae stie? mich an der Schulter an und deutete auf Charleys Wagen.
Sie blickte grimmig.
Der Schwarm am Rucklicht von Charleys Wagen war jetzt ein schwarzer Strom, der sich hoch in die Luft bog und dann in der Nahtstelle zwischen dem roten Plastik und dem Metall verschwand.
Uber das Headset sagte ich: »He, Charley ... Sie haben einen Weg gefunden.«
»Ja, ich seh's. Schone Schei?e.«
Charley kroch auf den Rucksitz. Schon fullte sich das Wageninnere mit Partikeln, die einen grauen, rasch dunkler werdenden Nebel bildeten. Charley hustete. Ich konnte nicht sehen, was er tat, er war jetzt unterhalb des Fensters. Er hustete wieder.
»Charley?«
Er gab keine Antwort. Aber ich horte ihn fluchen.
»Charley, mach, dass du da rauskommst.«