»Hat er's geschafft? Wo ist Charley?«

Ich zuckte zusammen, als ein scharfes elektronisches Pfeifen ertonte, und dann sagte Ricky uber die Sprechanlage: »... nicht mehr viel zu machen.«

»Ist er hier?«, fragte ich. »Hat er's geschafft?«

»Nein.«

»Wo ist er?«

»Hinten im Wagen«, sagte Ricky. »Er hat es nicht aus dem Wagen geschafft. Wusstest du das nicht?«

»Ich hatte zu tun«, sagte ich. »Er ist also noch da drau?en?«

»Ja.«

»Ist er tot?«

»Nein, nein. Er lebt.«

Ich atmete noch immer mit Muhe, war noch immer benommen. »Was?«

»Genau ist es auf dem Videomonitor nicht zu erkennen, aber es sieht so aus, als wurde er noch leben .«

»Warum zum Teufel holt ihr ihn dann nicht?«

Rickys Stimme war ruhig. »Wir konnen nicht, Jack. Wir mussen uns um Mae kummern.«

»Es wird doch hier wohl jemanden geben, der das machen kann.«

»Wir konnen niemanden entbehren.«

»Ich kann das nicht«, sagte ich. »Ich bin fix und fertig.«

»Ist doch klar«, sagte Ricky, einen beschwichtigenden Ton anstimmend. Eine Leichenbestatterstimme. »Das alles muss entsetzlich fur dich gewesen sein, Jack, du hast so viel durchgemacht .«

»Sag mir ... endlich ... wer ihn holen geht, Ricky.«

»Um es mal brutal ehrlich zu sagen«, erwiderte Ricky, »ich glaube nicht, dass es was nutzt. Er hatte einen Krampf. Einen schlimmen. Ich denke, er hat nicht mehr viel Kraft.«

Ich sagte: »Es geht keiner zu ihm?«

»Ich furchte, es nutzt nichts, Jack.«

Bobby half Mae jetzt aus der Luftschleuse und fuhrte sie den Korridor hinunter. Ricky stand da. Beobachtete mich durch das Glas.

»Du bist dran, Jack. Rein mit dir.«

Ich ruhrte mich nicht. Ich blieb an die Wand gelehnt stehen und sagte: »Irgendjemand muss ihn holen.«

»Nicht jetzt. Der Wind ist nicht bestandig, Jack. Er kann sich jeden Moment wieder legen.«

»Aber Charley lebt.«

»Nicht mehr lange.«

»Jemand muss ihn holen«, sagte ich.

»Jack, du wei?t so gut wie ich, in was fur einer Lage wir sind«, sagte Ricky. Jetzt sprach er mit der Stimme der Vernunft, ruhig und logisch. »Wir hatten entsetzliche Verluste. Wir konnen es nicht riskieren, noch jemanden zu verlieren. Bis jemand bei Charley ist, ist er langst tot. Vielleicht ist er jetzt schon tot. Los, geh endlich in die Schleuse.«

Ich schatzte meine korperliche Verfassung ein, spurte meinen Atem, meine Brust, meine gro?e Erschopfung. Ich konnte jetzt nicht da raus. Nicht in meinem derzeitigen Zustand.

Also trat ich in die Schleuse.

Mit lautem Brausen druckte das Geblase mir die Haare platt, lie? meine Kleidung flattern und sauberte mich von den schwarzen Partikeln. Augenblicklich konnte ich wieder besser sehen. Ich atmete leichter. Jetzt wehte der Wind von unten. Ich streckte die Hand aus und sah, wie sich das Schwarz in Blassgrau verwandelte, dann die normale Hautfarbe wieder zum Vorschein kam.

Jetzt wurde ich von den Seiten angeblasen. Ich holte tief Luft. Die Nadelstiche auf der Haut waren nicht mehr so schmerzhaft. Entweder spurte ich sie nicht mehr so deutlich, oder sie wurden weggetrieben. Mein Kopf wurde etwas klarer. Ich holte noch mal tief Luft. Ich fuhlte mich nicht gut, aber schon besser.

Die Glasturen offneten sich. Ricky streckte mir die Arme entgegen. »Jack. Gott sei Dank, dass du in Sicherheit bist.«

Ich antwortete nicht. Ich drehte mich auf dem Absatz um und ging den Weg zuruck, den ich gekommen war.

»Jack .«

Die Glasturen zischten zu und rasteten mit einem Plonk ein. »Ich lasse ihn nicht da drau?en«, sagte ich.

»Was hast du denn vor? Du kannst ihn nicht tragen, er ist zu schwer. Wie willst du das anstellen?«

»Ich wei? es nicht. Aber ich lasse ihn nicht einfach da drau?en zuruck, Ricky.«

Und ich ging wieder hinaus.

Naturlich tat ich genau das, was Ricky wollte - genau das, was er von mir erwartet hatte -, aber das war mir damals nicht klar. Und selbst wenn es mir jemand gesagt hatte, so viel psychologisches Feingefuhl hatte ich ihm nicht zugetraut. Ricky war im Umgang mit Menschen ziemlich durchschaubar. Aber diesmal war ich auf ihn reingefallen.

6. Tag, 16.22 Uhr

Der Wind blies kraftig. Von den Schwarmen fehlte jede Spur, und ich gelangte ohne Probleme zu den Wagen. Ich hatte kein Headset mehr, daher blieben mir Rickys Bemerkungen erspart.

Die hintere Tur des Toyota auf der Beifahrerseite stand offen. Charley lag auf dem Rucken, reglos. Ich brauchte einen Moment, um zu sehen, dass er noch atmete, wenn auch flach. Mit gro?er Muhe gelang es mir, ihn in eine sitzende Position zu hieven. Er starrte mich mit stumpfen Augen an. Seine Lippen waren blau, seine Haut kreidig grau. Eine Trane lief ihm uber die Wange. Sein Mund bewegte sich.

»Nicht sprechen«, sagte ich. »Spar dir deine Energie.« Achzend zog ich ihn an den Rand der Ruckbank, zur Tur, und schwang seine Beine herum, sodass er nach drau?en schaute. Charley war ein massiger Kerl, uber einen Meter achtzig gro? und mindestens zwanzig Pfund schwerer als ich. Ich wusste, dass ich ihn nicht wurde zurucktragen konnen. Aber dann sah ich hinten im Laderaum des Toyota Davids Motocross-Maschine. Damit musste es gehen.

»Charley, horst du mich?«

Ein fast unmerkliches Nicken.

»Kannst du aufstehen?«

Nichts. Keine Reaktion. Er blickte mich nicht einmal an; er starrte ins Leere.

»Charley«, sagte ich, »meinst du, du kannst stehen?«

Er nickte wieder, streckte dann seinen Korper, sodass er vom Sitz rutschte und mit den Fu?en auf dem Boden landete. Er stand wackelig da, mit zitternden Beinen, und sackte dann gegen mich, hielt sich an mir fest, damit er nicht hinfiel. Unter seinem Gewicht ging ich in die Knie.

»Okay, Charley ...« Ich schob ihn wieder zum Wagen und setzte ihn auf das Trittbrett. »Nicht weglaufen, ja?«

Ich lie? ihn los, und er blieb sitzen. Er starrte noch immer blicklos vor sich hin.

»Bin gleich wieder da.«

Ich ging zur Ruckseite des Land Cruiser und offnete die Heckklappe. Eine Motocross-Maschine, und was fur eine - die gepflegteste, die ich je gesehen hatte. Sie war in eine dicke Plane gehullt. Und sie war nach dem Gebrauch geputzt worden. Das war typisch David, dachte ich. Er war immer so sauber, so ordentlich gewesen.

Ich schob das Motorrad aus dem Wagen und stellte es auf den Boden. Der Zundschlussel steckte nicht. Ich ging zur Beifahrertur des Toyota und offnete sie. Vorne war alles makellos und ubersichtlich angeordnet. Am Armaturenbrett angebracht waren ein mit Sauggummi haftender Notizblock, eine Handy-Halterung und ein kleiner Haken, an dem ein Telefon-Headset hing. Ich offnete das Handschuhfach und sah, dass auch hier alles akkurat an seinem Platz war. Autopapiere in einer Hulle, unter einer kleinen Plastikablage mit drei Abteilungen fur Lippensalbe, Kleenex, Pflaster. Keine Schlussel. Dann entdeckte ich zwischen den Sitzen einen Kasten fur CDs, und darunter eine verschlossene Kassette. Sie hatte das gleiche Schloss wie die Zundung. Wahrscheinlich lie? es sich mit dem Zundschlussel offnen.

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