»Zeitnahme.«
»Null Komma null.«
»Los geht's.«
Sie druckte den Kolben rasch hinunter. »Wie Sie sehen, mache ich das schnell«, sagte sie. »Unser Verfahren ist in keiner Weise empfindlich. Man kann nichts kaputtmachen. Selbst wenn die Mikroturbulenz, die durch den Fluss durch die Nadel entsteht, die Rohrchen von ein paar tausend Kameras abrei?t, spielt das keine Rolle. Wir haben noch etliche Millionen mehr. Mehr als genug, um die Arbeit zu erledigen.« Sie zog die Nadel heraus. »Okay? Im Allgemeinen dauert es etwa zehn Sekunden, bis sie sich zusammenfugen, und dann mussten wir ein Bild empfangen . Ah, sieht so aus, als kame es jetzt . Und da ist es auch schon.«
Zu sehen war die Kamera, die sich mit betrachtlicher Geschwindigkeit durch etwas hindurchbewegte, was einem Asteroidenfeld ahnelte. Nur dass die Asteroiden rote Blutkorperchen waren, elastische ins Lila spielende Beutel in einer klaren, leicht gelblichen Flussigkeit. Dann und wann schoss eine deutlich gro?ere wei?e Zelle vorbei, fullte den Bildschirm einen Moment lang ganz aus und war schon wieder verschwunden. Was ich da sah, glich eher einem Videospiel denn einem medizinischen Bild.
»Julia«, sagte ich, »das ist ja unglaublich.«
Die Julia neben mir schmiegte sich noch enger an und lachelte. »Wusste ich doch, dass dich das umhaut.«
Die Julia auf dem Bildschirm sagte: »Wir sind in einer Vene, daher sind die roten Blutkorperchen nicht mit Sauerstoff angereichert. Im Augenblick ist unsere Kamera auf dem Weg zum Herzen. Sie werden sehen, dass die Gefa?e gro?er werden, wahrend wir uns durch das Venensystem aufwarts bewegen . Ja, jetzt nahern wir uns dem Herzen ... Sie konnen das Pulsie-ren des Blutstroms erkennen, was auf die ventrikularen Kontraktionen zuruckzufuhren ist .«
Es stimmte, ich sah, wie die Kamera verharrte, sich dann weiterbewegte, wieder verharrte. Julia hatte eine Audioeinspie-lung von dem schlagenden Herzen. Die Versuchsperson auf dem Tisch lag reglos da, die flache Antenne dicht uber dem Korper.
»Wir kommen zum Herzvorhof und mussten gleich die Mitralklappe sehen. Wir aktivieren die Flagellen, um die Kamera zu verlangsamen. Da ist jetzt die Klappe. Wir sind im Herzen.« Ich erkannte die roten Segel, die sich wie ein Mund offneten und schlossen, und dann jagte die Kamera hindurch, in die Herzkammer hinein und wieder hinaus.
»Jetzt kommen wir zur Lunge, wo Sie etwas sehen werden, was noch nie jemand gesehen hat. Die Anreicherung der Blutkorperchen mit Sauerstoff.«
Ich beobachtete, wie sich das Blutgefa? rapide verengte, und dann rundeten sich die Blutkorperchen und farbten sich leuchtend rot, eins nach dem anderen. Es ging rasend schnell; in weniger als einer Sekunde waren alle rot.
»Die roten Blutkorperchen sind nun mit Sauerstoff angereichert«, sagte Julia, »und wir sind wieder auf dem Weg zum Herzen.«
Ich wandte mich auf dem Bett Julia zu. »Das ist absolut fantastisch«, sagte ich.
Aber ihre Augen waren geschlossen, und sie atmete sanft.
»Julia?«
Sie schlief.
Julia war schon immer gerne vor dem Fernseher eingeschlafen. Bei der Vorfuhrung des eigenen Demobandes wegzunicken war durchaus verstandlich, schlie?lich hatte sie es ja schon gesehen. Und es war sehr spat. Ich war auch mude. Ich be-schloss, mir den Rest der Prasentation ein anderes Mal anzu-schauen. Es kam mir ohnehin ziemlich lang dafur vor. Wie lange sa? ich schon davor? Als ich mich zum Fernseher wandte, um ihn auszuschalten, warf ich einen Blick auf den Zeitcode, der unter dem Bild lief. Zahlen rasten dahin, zahlten Hundertstel von Sekunden. Links davon weitere Zahlen, die sich nicht so schnell bewegten. Ich runzelte die Stirn. Eine davon war das Datum. Es war mir vorher nicht aufgefallen, weil es die internationale Schreibweise war, zuerst das Jahr, dann der Tag und der Monat. Da stand 02.21.09.
21. September.
Gestern.
Sie hatte das Band gestern aufgenommen, nicht heute.
Ich machte den Fernseher aus und dann die Nachttischlampe. Ich legte mich aufs Kissen und versuchte zu schlafen.
Wir brauchten Magermilch, Toasties, Pop-Tarts, Pudding, Spulmittel fur die Spulmaschine - und noch etwas, aber ich konnte meine eigene Schrift nicht entziffern. Um neun Uhr morgens stand ich im Supermarkt und versuchte, aus meinen Notizen schlau zu werden. Eine Stimme sagte: »He, Jack. Wie geht's denn so?«
Ich blickte auf und sah Ricky Morse, einen der Abteilungsleiter bei Xymos.
»He, Ricky, wie geht's dir?« Ich schuttelte ihm die Hand, freute mich wirklich, ihn zu sehen. Ich freute mich immer, Ricky zu sehen. Braun gebrannt, mit blondem, kurz geschnittenem Haar und einem breiten Grinsen hatte man ihn leicht fur einen Surfer halten konnen, wenn er nicht sein T-Shirt mit der Aufschrift »SourceForge 3.1« angehabt hatte. Ricky war nur ein paar Jahre junger als ich, aber er hatte die Aura ewiger Jugend. Ich hatte ihm seinen ersten Job verschafft, als er frisch vom College kam, und er hatte sich rasch ins Management hochgearbeitet. Mit seiner frohlichen Art und optimistischen Ausstrahlung gab Ricky einen idealen Projektmanager ab, obwohl er dazu neigte, Probleme herunterzuspielen und bei der Geschaftsfuhrung unrealistische Erwartungen zu wecken hinsichtlich der Fertigstellung eines Projektes.
Laut Julia hatte Letzteres bei Xymos manchmal Anlass zu Unmut gegeben; Ricky versprach gerne Dinge, die er nicht halten konnte. Und mitunter nahm er es mit der Wahrheit nicht ganz so genau. Aber er war so nett und sympathisch, dass alle ihm stets verziehen. Zumindest ich hatte das getan, als er fur mich arbeitete. Er war mir richtig ans Herz gewachsen und mir fast so etwas wie ein kleiner Bruder geworden. Ich hatte ihn fur die Stelle bei Xymos empfohlen.
Ricky schob einen Einkaufswagen voll mit Wegwerfwindeln in gro?en Plastikpaketen vor sich her; auch er hatte ein Baby zu Hause. Ich fragte ihn, warum er im Supermarkt und nicht im Buro war.
»Mary hat die Grippe, und das Dienstmadchen ist in Guatemala. Also geh ich einkaufen.«
»Wie ich sehe, hast du Huggies«, sagte ich. »Ich personlich nehme lieber Pampers.«
»Ich finde, Huggies sind saugfahiger«, erwiderte er. »Und Pampers sitzen zu eng. Sie klemmen dem Baby das Bein ab.«
»Aber Pampers haben eine Schicht, die die Feuchtigkeit aufnimmt, sodass der Hintern trocken bleibt«, sagte ich. »Au?erdem habe ich bei Pampers weniger Probleme mit Hautausschlag.«
»Bei mir rei?en leicht die Klebeverschlusse ab. Und beim gro?en Geschaft lauft schon mal was durch die Beinoffnung raus, dann habe ich ja noch mehr Arbeit. Ich wei? nicht, ich finde einfach, Huggies sind besser.«
Eine Frau, die gerade mit ihrem Einkaufswagen vorbeikam, warf uns einen Blick zu. Wir mussten lachen, horten wir uns doch an wie in einem Werbespot.
Ricky sagte laut: »Und, was sagst du zu den Giants?«, in Richtung der Frau, die weiter den Gang hinunterging.
»Absolute Spitzenklasse, Mann, die Jungs haben echt was drauf«, sagte ich und kratzte mich.
Wir lachten, schoben dann unsere Wagen zusammen den Gang entlang. Ricky sagte: »Willst du die Wahrheit wissen? Mary steht auf Huggies, und damit Ende der Diskussion.«
»Den Spruch kenn ich«, sagte ich.
Ricky warf einen Blick in meinen Wagen und bemerkte: »Ich sehe, du kaufst fettarme Biomilch ...«
»Schluss jetzt«, sagte ich. »Wie lauft's in der Firma?«
»Tja, die sind verdammt gut«, erklarte er. »Die Technologie macht tolle Fortschritte, das muss ich sagen. Neulich haben wir es den Geldgebern prasentiert, und das ist super gelaufen.«
»Und Julia kommt gut zurecht?«, fragte ich so beilaufig wie moglich.
»Und ob, sie kommt hervorragend zurecht. Soweit ich wei?«, sagte Ricky.
Ich warf ihm einen Blick zu. War er plotzlich verhalten? War sein Gesicht reglos, die Muskeln beherrscht? Verbarg er irgendetwas? Ich konnte es nicht sagen.
»Aber eigentlich sehe ich sie kaum«, sagte Ricky. »Sie ist zurzeit nicht so viel da.«
»Ich krieg sie auch nicht viel zu sehen«, sagte ich.