kam, merkte ich, dass er mich stattdessen kussen wollte. Auf den Mund, leidenschaftlich. Er hatte ihn geoffnet. Seine Zunge leckte seine Lippen. Ich war vollig durcheinander, ich wusste nicht, was ich machen sollte, doch in diesem Augenblick kam Julia herein und fragte: »Was ist hier los?«, und Ricky wich hastig zuruck und machte irgendeine ausweichende Bemerkung. Julia war sehr zornig und sagte: »Nicht jetzt, du Idiot«, woraufhin Ricky erneut etwas Ausweichendes erwiderte. Und dann sagte Julia: »Das ist vollig unnotig, das erledigt sich von ganz allein.« Und Ricky sagte: »Bei intervallgesteuerter globaler Optimierung gibt es Konstriktionskoeffizienten fur deterministische Algorithmen.« Und sie sagte:
Dann war ich plotzlich wieder auf meiner Monterey-Hochzeit; Julia stand in Wei? neben mir, und ich drehte mich zum Publikum um, und ich erblickte meine drei Kinder in der ersten Reihe, lachelnd und glucklich. Und wahrend ich sie ansah, bildeten sich um ihre Munder schwarze Linien und breiteten sich nach unten uber ihre Korper aus, bis sie ganz in Schwarz gehullt waren. Sie lachelten weiter, aber ich war entsetzt. Ich lief zu ihnen, doch ich konnte den schwarzen Umhang nicht abreiben. Und Nicole sagte seelenruhig: »Vergiss die Rasensprenger nicht, Dad.«
Ich wachte auf. Ich hatte die Laken zerwuhlt und war in Schwei? gebadet. Die Tur meines Zimmers stand offen. Ein Lichtrechteck fiel vom Flur auf mein Bett. Ich schaute zum PC-Monitor. Er zeigte »4.55«. Ich schloss die Augen und blieb einen Moment liegen, aber ich konnte nicht wieder einschlafen. Ich war schwei?nass und fuhlte mich unwohl. Ich beschloss, unter die Dusche zu gehen.
Kurz vor funf Uhr morgens stand ich auf.
Im Flur war alles still. Ich ging Richtung Waschraume. Die Turen zu allen Schlafzimmern waren offen, was ich seltsam fand. Im Vorbeigehen konnte ich sie alle schlafen sehen. Au?erdem brannte in jedem Zimmer Licht. Ich sah Ricky schlafen, und ich sah Bobby und Julia und Vince. Maes Bett war leer. Und naturlich war Charleys Bett leer.
Ich ging kurz in die Kuche, um mir ein Gingerale aus dem Kuhlschrank zu nehmen. Ich war unglaublich durstig, die Kehle tat mir weh, so ausgetrocknet war sie. Und im Magen hatte ich ein flaues Gefuhl. Ich blickte auf die Champagnerflasche. Plotzlich hatte ich das komische Gefuhl, dass sich vielleicht jemand an der Flasche zu schaffen gemacht hatte. Ich nahm sie heraus und sah mir den Verschluss genau an, die Metallfolie, die den Korken verdeckte. Sie kam mir ganz normal vor. Keine Auffalligkeit, keine Nadelstiche, rein gar nichts.
Blo? eine Flasche Champagner.
Ich stellte sie zuruck und schloss den Kuhlschrank.
Ich fragte mich, ob ich Julia unrecht getan hatte. Vielleicht glaubte sie ja wirklich, dass sie einen Fehler gemacht hatte, und wollte manches wieder gutmachen. Vielleicht wollte sie auch blo? ihre Dankbarkeit zum Ausdruck bringen. Vielleicht war ich zu hart zu ihr. Zu nachtragend.
Denn was hatte sie schon Verdachtiges oder Falsches getan, wenn man mal richtig druber nachdachte? Sie hatte sich gefreut, mich zu sehen, wenn auch etwas ubertrieben. Sie hatte die Verantwortung fur das Experiment ubernommen, und sie hatte sich dafur entschuldigt. Sie hatte sich unverzuglich bereit erklart, das Pentagon anzurufen. Sie hatte meinem Plan zugestimmt, den Schwarm im Technikraum zu vernichten. Sie hatte mir so gut sie konnte gezeigt, dass sie mich unterstutzte und auf meiner Seite stand.
Trotzdem hatte ich ein ungutes Gefuhl.
Und naturlich war da noch die Sache mit Charley und dem Schwarm. Rickys Erklarung, dass Charley den Schwarm irgendwo im oder am Korper gehabt hatte, im Mund oder in den Achselhohlen oder sonst wo, fand ich nicht gerade einleuchtend. Diese Schwarme toteten in Sekundenschnelle. Also blieb die Frage offen: Wie war der Schwarm denn nun in den Technikraum zu Charley gelangt? War er von drau?en reingekommen? Wieso hatte er nicht Julia und Ricky und Vince angegriffen?
Ich verga?, dass ich duschen wollte.
Ich beschloss, zum Wartungsbereich zu gehen und mir die Tur des Technikraumes noch einmal genauer anzusehen. Vielleicht hatte ich irgendetwas ubersehen. Julia hatte viel geredet, meine Konzentration gestort. Fast so, als hatte sie verhindern wollen, dass ich einen klaren Gedanken fasste ...
Da, schon wieder unterstellte ich Julia Boses.
Ich ging durch die Luftschleuse, den Korridor hinunter, wieder durch eine Luftschleuse. In mudem Zustand war es ausgesprochen unangenehm, von diesem Wind angeblasen zu werden. Ich gelangte in den Wartungsbereich und ging zur Tur des Technikraumes. Mir fiel nichts Ungewohnliches auf.
Ich horte das Klicken einer Tastatur und schaute ins Biologielabor. Mae sa? an ihrem Computer.
Ich sagte: »Was machst du?«
»Ich seh mir das Videoband von den Uberwachungskameras an.«
»Ich dachte, das geht nicht, weil Charley die Drahte rausgerissen hat.«
»Das hat Ricky gesagt. Aber es stimmt nicht.«
Ich wollte um den gro?en Arbeitstisch herum zu ihr gehen und ihr uber die Schulter blicken. Sie hielt eine Hand hoch.
»Jack«, sagte sie. »Vielleicht ist es besser, du schaust dir das nicht an.«
»Was? Wieso nicht?«
»Tja, ahm ... Vielleicht solltest du dir das jetzt nicht zumuten. Jedenfalls im Moment noch nicht. Vielleicht morgen.«
Aber naturlich kam ich nach dieser Au?erung praktisch um den Tisch herumgelaufen, ich wollte doch wissen, was es auf dem Monitor zu sehen gab. Und ich blieb abrupt stehen. Der Bildschirm zeigte einen leeren Korridor. Mit der Zeitangabe am unteren Bildrand. »Das ist alles?«, sagte ich. »Und das sollte ich mir nicht zumuten?« »Nein.« Sie drehte sich auf dem Stuhl um. »Es ist so, Jack, man muss alle Uberwachungskameras der Reihe nach durchgehen, und jede nimmt immer nur zehn Bilder pro Minute auf, daher kann man nie so genau sagen, was .«
»Zeig's mir einfach, Mae.«
»Ich muss ein Stuck zuruckgehen ...« Sie druckte mehrmals die Zuruck-Taste. Wie viele moderne Uberwachungsanlagen arbeitete die Xymos-Anlage nach dem Prinzip der InternetBrowser-Technologie. Man konnte die eigene Arbeit somit Schritt fur Schritt verfolgen.
Die Bilder sprangen zuruck, bis Mae die gesuchte Stelle fand. Dann lie? sie die Aufnahme laufen, und die Bilder der einzelnen Kameras kamen in rascher Folge. Ein Korridor. Die Fertigungshalle. Ein anderer Blick in die Fertigungshalle. Eine Luftschleuse. Wieder ein Korridor. Der Wartungsbereich. Ein Korridor. Die Kuche. Der Freizeitraum. Der Flur des Wohntrakts. Eine Au?enaufnahme vom Dach, mit Blick auf die in Flutlicht getauchte Wuste. Korridor. Energieraum. Au?enaufnahme, ebenerdig. Wieder ein Korridor.
Ich blinzelte. »Wie lange guckst du dir das schon an?«
»Eine knappe Stunde.«
»Meine Gute.«
Als Nachstes sah ich einen Korridor. Ricky ging ihn hinunter. Energiestation. Au?enaufnahme von oben, Julia, die in das Flutlicht trat. Ein Korridor. Julia und Ricky zusammen, sie umarmten sich, und dann ein Korridor, und .
»Moment«, sagte ich.
Mae druckte eine Taste. Sie sah mich an, sagte nichts. Sie druckte eine andere Taste, lie? die Bilder langsam vorlaufen. Sie stoppte bei der Kamera, die Ricky und Julia zeigte.
»Zehn Bilder.«
Die Bewegung war unscharf und ruckartig. Ricky und Julia gingen aufeinander zu. Sie umarmten sich. Die Unbefangenheit, Vertrautheit zwischen ihnen war deutlich zu spuren. Und dann kussten sie sich leidenschaftlich.
»Ach, Schei?e«, sagte ich und wandte mich vom Bildschirm ab. »Schei?e, Schei?e, Schei?e.«
»Tut mir Leid, Jack«, sagte Mae. »Ich wei? nicht, was ich sagen soll.«
Mir wurde kurz schwindelig, fast so, als wurde ich gleich ohnmachtig. Ich setzte mich auf den Arbeitstisch, den Korper vom Bildschirm weggedreht. Ich konnte einfach nicht hinsehen. Ich holte tief Luft. Mae sagte noch etwas, aber ich horte ihre Worte nicht. Ich holte wieder Luft. Ich fuhr mir mit einer Hand durchs Haar.
Ich sagte: »Hast du davon gewusst?«
»Nein. Bis vor ein paar Minuten hatte ich keine Ahnung.«
»Wei? es sonst jemand?«