Sie waren zu viert. Und wir nur zu zweit - das hei?t, wenn sie Mae nicht auch schon hatten.
Mae war nicht im Biologielabor. Ich schaute mich um und sah, dass eine Seitentur angelehnt war. Sie fuhrte nach unten in den unterirdischen Bereich, wo die Fermentierkessel standen. Aus der Nahe waren sie viel gro?er, als ich gedacht hatte, riesige Stahlkugeln von fast zwei Metern Durchmesser. Drum herum ein Gewirr von Rohren und Ventilen und Temperaturreglern. Es war warm hier und sehr laut.
Mae stand an der dritten Einheit, machte sich auf einem Klemmbrett Notizen und schloss ein Ventil. Vor ihren Fu?en stand ein Gestell mit Reagenzrohrchen. Ich stieg nach unten und stellte mich neben sie. Sie sah mich an, warf dann einen Blick zur Decke, wo eine Uberwachungskamera montiert war. Sie ging auf die andere Seite des Tanks, und ich folgte ihr. Hier konnte uns die Kamera nicht erfassen.
Sie sagte: »Alle haben bei eingeschaltetem Licht geschlafen.«
Ich nickte. Ich wusste jetzt, was das bedeutete.
»Sie sind alle befallen«, sagte sie.
»Ja.«
»Und es bringt sie nicht um.«
»Nein«, stimmte ich ihr zu, »aber ich verstehe nicht, war-um.«
»Der Schwarm muss sich entwickelt haben«, sagte sie, »er toleriert sie jetzt.«
»So schnell?«
»Evolution kann schnell gehen«, bemerkte sie. »Du kennst die Ewald-Studien.«
Allerdings. Paul Ewald hatte uber die Cholera geforscht. Er fand heraus, dass das Cholera-Bakterium sich rasch veranderte, um eine Epidemie in Gang zu halten. Dort, wo schlechte sanitare Bedingungen herrschten, wo es vielleicht im Dorf nur einen Graben gab, war die Cholera extrem virulent. Sie streckte ihr Opfer nieder und totete es rasch durch massiven Durchfall, der Millionen von Cholera-Bakterien enthielt, die in den Wassergraben gelangten und andere Dorfbewohner ansteckten. Auf diese Weise verbreitete sich die Cholera, und die Epidemie dauerte lange an.
Doch bei guten hygienischen Bedingungen konnte sich der aktive Stamm nicht vermehren. Das Opfer starb zwar rasch, aber sein Durchfall gelangte nicht ins Trinkwasser. Andere wurden nicht infiziert, und die Epidemie klang ab. Unter solchen Bedingungen brachte die Epidemie eine mildere Form hervor, bei der das Opfer den Erreger in sich trug, aber noch herumlaufen konnte, sodass die Bakterien sich uber Hautkontakt, schmutzige Bettwasche und so weiter verbreiteten.
Mae hielt es fur moglich, dass das Gleiche mit den Schwarmen passiert war. Sie hatten sich zu einer milderen Form entwickelt, die von einer Person zur nachsten ubertragen werden konnte.
»Das ist unheimlich«, sagte ich.
Sie nickte. »Aber was konnen wir machen?«
Und dann begann sie lautlos zu weinen, Tranen liefen ihr uber die Wangen. Mae war immer so stark. Es entmutigte mich, sie jetzt so aufgelost zu sehen. Sie schuttelte den Kopf. »Jack, wir sind machtlos. Sie sind zu viert. Sie sind starker als wir. Sie werden uns umbringen, so wie sie Charley umgebracht haben.«
Sie druckte ihren Kopf an meine Schulter. Ich legte den Arm um sie. Aber ich konnte sie nicht trosten. Ich wusste, dass sie Recht hatte.
Es gab keinen Ausweg.
Winston Churchill sagte einmal sinngema?, beschossen zu werden steigere die Konzentrationsfahigkeit ins Unermessliche. Mein Verstand arbeitete jetzt sehr schnell. Ich dachte, dass ich einen Fehler begangen hatte und dass ich ihn beheben musste. Obgleich es ein typisch menschlicher Fehler war.
Zwar ist der Begriff Evolution heutzutage gro? in Mode -Evolutionsbiologie, Evolutionsmedizin, Evolutionsokologie, Evolutionspsychologie, Evolutionsokonomie, Evolutionsrechner -, doch uberraschend wenige Leute denken in evolutionaren Kategorien. Das ist sozusagen ein blinder Fleck auf der menschlichen Netzhaut. Wir sehen die Welt um uns herum als Schnappschuss, wo sie doch eigentlich ein Film ist und sich standig verandert. Naturlich wissen wir, dass sie nicht gleich bleibt, aber wir tun so, als ware das nicht der Fall. Wir leugnen die Realitat der Veranderung. Daher sind wir stets verwundert, wenn sich etwas wandelt. Eltern sind uberrascht, wenn ihre Kinder gro? werden. Sie behandeln sie jedoch weiterhin, als waren sie junger - ganz entgegen der Wirklichkeit.
Und mich hatte die Veranderung in der Evolution der Schwarme uberrascht. Es gab keinen Grund, warum die Schwarme sich nicht gleichzeitig in zwei Richtungen entwik-keln sollten. Oder auch in drei oder vier oder zehn verschiedene Richtungen. Das hatte ich voraussehen mussen. Ich hatte es erwarten, damit rechnen mussen. Denn dann ware ich besser auf die jetzige Situation vorbereitet gewesen.
Doch stattdessen hatte ich die Schwarme als ein einziges Problem behandelt - ein Problem da drau?en, in der Wuste -, und ich hatte andere Moglichkeiten au?er Acht gelassen.
Allmahlich fragte ich mich, was ich noch alles verleugnete. Was hatte ich noch alles nicht wahrgenommen? Wo lag mein Fehler? Was hatte ich als Erstes ubersehen? Wahrscheinlich die Tatsache, dass mein erster Kontakt mit einem Schwarm eine allergische Reaktion ausgelost hatte - eine Reaktion, die mich fast umgebracht hatte. Mae hatte von einer Coliform-Reaktion gesprochen. Verursacht durch ein Toxin von den Bakterien im Schwarm. Das Toxin war offenbar das Resultat einer evolutionaren Veranderung in den E. coli, aus denen der Schwarm bestand. Tja, genau genommen war allein schon das Vorhandensein von Phagen im Tank eine evolutionare Veranderung, eine virose Reaktion auf die Bakterien, die .
»Mae«, sagte ich. »Moment mal.«
»Was?«
Ich sagte: »Vielleicht gibt es ja doch eine Moglichkeit, sie aufzuhalten.«
Sie war skeptisch, das las ich in ihrem Gesicht. Doch sie wischte sich uber die Augen und horte zu.
Ich sagte: »Der Schwarm besteht aus Partikeln und Bakterien, richtig?«
»Ja .«
»Die Bakterien liefern die Rohzutaten fur die Partikel, damit sie sich vermehren konnen. Ja? Okay. Also, wenn die Bakterien sterben, stirbt der Schwarm dann auch?«
»Wahrscheinlich.« Ihre Miene verfinsterte sich. »Denkst du an ein Antibiotikum? Willst du allen ein Antibiotikum geben? Um eine E. coli-Infektion zu stoppen, brauchst du einen Haufen Antibiotika, sie mussten mehrere Tage Tabletten einnehmen, und ich wei? nicht .«
»Nein. Ich denke nicht an Antibiotika.« Ich klopfte auf den Tank vor mir. »Ich denke da dran.«
»Phagen?«
»Wieso nicht?«
»Ich wei? nicht, ob das funktioniert«, sagte sie. Sie runzelte die Stirn. »Konnte klappen. Blo? ... wie willst du die Phagen in sie reinkriegen? Sie werden sie bestimmt nicht einfach trinken.«
»Uber die Luft«, sagte ich. »Sie atmen sie ein, ohne es zu merken.«
»Aha. Und wie willst du das anstellen?«
»Ganz einfach. Schalt den Tank hier nicht ab. Futtere das System mit den Bakterien. Ich mochte, dass die Anlage Viren produziert - haufenweise Viren. Dann geben wir sie in die Luft.«
Mae seufzte. »Das funktioniert nicht, Jack«, sagte sie.
»Wieso nicht?«
»Weil die Anlage nicht haufenweise Viren produzieren wird.«
»Wieso nicht?«
»Wegen der Art und Weise, wie Viren sich vermehren. Du wei?t doch - das Virus schwimmt herum, verbindet sich mit einer Zellwand und dringt in die Zelle ein. Dann ubernimmt es die RNS der Zelle und wandelt sie um zur Erzeugung von noch mehr Viren. Die Zelle stellt ihre normalen Stoffwechselfunktionen ein und produziert nur noch Viren wie am Flie?band. Es dauert nicht lange, und die Zelle ist voller Viren und platzt wie ein Ballon. Samtliche Viren werden freigesetzt, sie schwimmen zu anderen Zellen, und das Ganze fangt von vorn an.«
»Ja . und?«
»Wenn du Phagen in die Produktionskette gibst, wird sich das Virus rasch vermehren - eine Weile. Doch es wird jede Menge Zellmembrane aufbrechen, und von diesen Membranen bleibt ein Brei aus Lipiden ubrig, also aus Fetten. Der Brei wird die Zwischenfilter verstopfen. Nach ein bis zwei Stunden wird sich die Anlage uberhitzen, und die Sicherheitssysteme schalten alles ab. Die ganze Produktion steht still. Keine Viren.«
»Lassen sich die Sicherheitssysteme nicht ausschalten?«