»Nein. Wir haben manchmal druber gewitzelt, dass sie was miteinander hatten, aber keiner von uns hat dran geglaubt.«
»Gott.« Ich fuhr mir wieder durchs Haar. »Sag mir die Wahrheit, Mae. Ich muss die Wahrheit wissen. Hast du davon gewusst oder nicht?«
»Nein, Jack. Hab ich nicht.«
Schweigen. Ich holte Luft. Ich versuchte, mir uber meine Gefuhle klar zu werden. »Wei?t du, was komisch ist?«, sagte ich. »Komisch ist, dass ich schon eine Weile den Verdacht hatte. Ich meine, ich war mir ziemlich sicher, dass da irgendwas lief, ich wusste blo? nicht, mit wem . Ich meine . Ich hab es mir zwar gedacht, aber es ist trotzdem ein ganz schoner Schock.«
»Das kann ich mir vorstellen.«
»Auf Ricky ware ich nie gekommen«, sagte ich. »Er ist so ein ... wie soll ich sagen ... schleimiger Typ. Und so eine gro?e Nummer ist er auch nicht. Irgendwie hatte ich gedacht, sie sucht sich einen, der mehr Einfluss hat.« Wahrend ich das sagte, musste ich an mein Gesprach mit Ellen nach dem Abendessen denken.
Das war, nachdem ich den Typen in ihrem Wagen gesehen hatte. Der Typ, dessen Gesicht ich nicht genau hatte erkennen konnen ...
Ellen:
»Herrgott«, sagte ich kopfschuttelnd. Ich war zornig, beschamt, verwirrt, wutend. Es wechselte im Sekundentakt.
Mae wartete. Sie ruhrte sich nicht, und sie sagte nichts. Sie war vollig still. Schlie?lich fragte sie: »Willst du noch mehr sehen?«
»Gibt's denn noch mehr?«
»Ja.«
»Ich wei? nicht, ob ich, ahm . Nein, ich mochte nicht noch mehr sehen.«
»Ware aber vielleicht besser.«
»Nein.«
»Ich meine, vielleicht fuhlst du dich dann besser.«
»Ich glaube nicht«, sagte ich. »Ich glaube, das verkrafte ich nicht.«
Sie sagte: »Vielleicht ist es ja nicht so, wie du denkst, Jack. Es ist zumindest moglich, dass es nicht genau so ist, wie du denkst.«
»Tut mir Leid, Mae«, sagte ich. »Aber ich will mir nichts mehr vormachen. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Ich wei?, was es bedeutet.«
Ich hatte geglaubt, ich wurde fur immer mit Julia zusammen sein. Ich hatte geglaubt, wir wurden beide die Kinder lieben, wir waren eine Familie, hatten ein Haus, ein gemeinsames Leben. Und Ricky hatte selbst ein Baby zu Hause. Es war einfach verruckt. Es ergab fur mich keinen Sinn. Aber andererseits laufen die Dinge nie so, wie man denkt.
Ich horte Mae rasch auf der Tastatur tippen. Ich drehte mich um, sodass ich sie sehen konnte, aber nicht den Bildschirm. »Was machst du da?«
»Ich suche Charley. Vielleicht finde ich ja raus, was in den letzten paar Stunden mit ihm passiert ist.«
Sie tippte weiter. Ich holte Luft. Sie hatte Recht. Was immer da in meinem Privatleben im Gange war, es war schon ziemlich weit fortgeschritten. Dagegen konnte ich nichts tun, zumindest nicht jetzt.
»Okay«, sagte ich. »Suchen wir nach Charley.«
Es war verwirrend, die Bilder vorbeiblitzen zu sehen, die die Kameras in immer derselben Reihenfolge einblendeten. Standig tauchten Personen auf und waren gleich wieder verschwunden. Ich sah Julia in der Kuche. Danach sie und Ricky in der Kuche. Die Kuhlschranktur war auf, dann zu. Ich sah Vince in der Fertigungshalle, dann war er weg. Vince im Korridor, schwups war er nicht mehr da.
»Charley sehe ich nirgends.«
»Vielleicht schlaft er noch«, sagte Mae.
»Kannst du in die Schlafzimmer gucken?«
»Ja, da sind Kameras angebracht, aber dann muss ich in eine andere Uberwachungsschleife. Die Schlafzimmer gehoren nicht in die normale Schleife.«
»Ist es aufwandig, die Uberwachungsschleife zu wechseln?«
»Keine Ahnung. Das ist Rickys Ressort. Das System ist ziemlich kompliziert. Ricky ist der Einzige, der sich richtig damit auskennt. Aber vielleicht finden wir Charley ja doch noch in der regularen Schleife.«
Also warteten wir ab, ob er auf einem der Kamerabilder auftauchte. Gut zehn Minuten hielten wir nach ihm Ausschau. Hin und wieder musste ich den Blick von den Bildern abwenden, Mae dagegen schien es nichts auszumachen. Und plotzlich sahen wir Charley im Wohntrakt, er ging den Korridor hinunter und rieb sich die Augen. Er war gerade aufgewacht.
»Okay«, sagte Mae. »Wir haben ihn.«
»Wie spat war das?«
Sie fror das Bild ein, damit wir die Zeit ablesen konnten. Es war 0.10 Uhr.
Ich sagte: »Das ist nur etwa eine halbe Stunde, bevor wir zuruckgekommen sind.«
»Ja.« Sie lie? die Bilder vorlaufen. Charley verschwand aus dem Flur, aber wir sahen ihn kurz, wie er gerade Richtung Bad ging. Dann erschienen Ricky und Julia in der Kuche. Ich spurte, dass sich mein ganzer Korper verkrampfte. Aber sie unterhielten sich blo?. Dann stellte Julia den Champagner in den Kuhlschrank, und Ricky reichte ihr Glaser, die sie neben die Flasche stellte.
Aufgrund der Bildfrequenz war schwer zu erkennen, was als Nachstes passierte. Zehn Videostandbilder pro Minute, das bedeutete, dass wir nur alle sechs Sekunden ein Bild hatten, schnelle Bewegungen waren also unscharf und ruckartig, weil zwischen den Einzelbildern zu viel passierte.
Aber ich nahm an, es war Folgendes geschehen:
Charley trat ein und unterhielt sich mit den beiden. Er lachelte gut gelaunt. Er deutete auf die Glaser. Julia und Ricky stellten die Glaser in den Kuhlschrank, wahrend sie mit ihm sprachen. Dann hob er eine Hand, um Julia aufzuhalten.
Er deutete auf das Glas, das Julia in der Hand hatte und gerade in den Kuhlschrank stellen wollte. Er sagte etwas.
Julia schuttelte den Kopf und stellte das Glas in den Kuhlschrank.
Charley wirkte verwirrt. Er deutete auf ein anderes Glas. Julia schuttelte den Kopf. Dann zog Charley die Schultern hoch und schob das Kinn vor, als ob er wutend wurde. Er klopfte mehrmals mit dem Finger auf den Tisch, sagte irgendwas mit Nachdruck.
Ricky trat zwischen Julia und Charley. Er verhielt sich wie jemand, der einen Streit beenden will. Er hielt beschwichtigend die Hande vor Charley hoch: Reg dich ab.
Charley regte sich nicht ab. Er deutete auf die Spule, in der sich schmutziges Geschirr turmte.
Ricky schuttelte den Kopf und legte Charley eine Hand auf die Schulter.
Charley fegte sie runter.
Die beiden Manner begannen zu streiten. Julia stellte derweil seelenruhig die restlichen Glaser in den Kuhlschrank. Sie machte den Eindruck, als wurde sie der Streit direkt neben ihr gleichgultig lassen, fast so, als wurde sie ihn gar nicht mitkriegen. Charley versuchte, an Ricky vorbei zum Kuhlschrank zu gelangen, aber Ricky stellte sich ihm immer wieder in den Weg und hob jedes Mal die Hande.
Rickys ganzes Verhalten suggerierte, dass er Charley fur nicht ganz zurechnungsfahig hielt. Er behandelte Charley behutsam, wie man mit jemandem umgeht, der vollig die Beherrschung verloren hat.
Mae sagte: »Ist Charley schon vom Schwarm befallen? Fuhrt er sich deshalb so auf?«
»Kann ich nicht sagen.« Ich sah genauer hin. »Ich sehe keinen Schwarm.«
»Nein«, sagte sie. »Aber er ist ganz schon wutend.«
»Was will er wohl von ihnen?«, sagte ich.
Mae schuttelte den Kopf. »Dass sie die Glaser zuruckstellen? Sie spulen? Andere Glaser nehmen? Ich wei? nicht.«
Ich sagte: »So was ist Charley doch total egal. Der isst doch von einem schmutzigen Teller, den schon jemand anders benutzt hat.« Ich lachelte. »Hab ich selbst gesehen.«