Ainslie und Quinn, die erst Stunden spater in der Wohnanlage Pine Terrace eingetroffen waren, stimmten mit Newbold und Greene uberein, hier sei offenbar ein einzelner Serienmorder am Werk gewesen.
Bevor Ainslie den Tatort verlie?, machte er einen weiteren Rundgang und betrachtete dabei nochmals eingehend die Bronzeschale in der Nahe einer Hand der ermordeten Frau. Irgend etwas an diesem Gefa? und seinem Inhalt weckte in ihm einen Gedanken, eine vage Erinnerung, eine verschwommene Vorstellung. Ainslie kam noch zweimal zuruck, um das Objekt zu betrachten, weil er auf einen Ansto? hoffte, der seine Erinnerung auffrischen wurde.
Aber vielleicht steckte doch nichts dahinter, uberlegte er sich, au?er seinem Uberdru? an Szenen tragischer Tode - oder dem heimlichen Wunsch nach neuen Spuren. Bestimmt konnte er nichts Besseres tun, als nach Hause fahren und den Abend mit seiner Familie zu verbringen... beim Abendessen lachen... Jason bei den Hausaufgaben helfen... seine Frau lieben... und morgens vielleicht mit der im Unterbewu?tsein gefundenen Losung dieses Ratsels aufwachen.
Wie sich dann zeigte, war Ainslie auch am nachsten Morgen nicht schlauer. Sein Gedachtnis brauchte vier Tage, um zu einem vollig unerwarteten Zeitpunkt zu einer dramatischen, schockierend eindeutigen Erkenntnis zu gelangen.
Vier Tage nach dem Doppelmord in der Wohnanlage Pine Terrace lud Lieutenant Leo Newbold zu einer offiziellen Besprechung der Mordkommission ein. Teilnehmer waren alle mit den Serienmorden befa?ten Teamleiter, ihre Ermittler, die Spurensicherung, eine Gerichtsmedizinerin und ein Staatsanwalt. Auch die Fuhrungsspitze des Prasidiums war informiert worden; zwei Vorgesetzte Newbolds nahmen daran teil. Bei dieser Besprechung, so sah es Ainslie spater, hatte sich das Drama erweitert; wie bei einem Szenenwechsel nach dem Vorbild Shakespeares hatten neue Personen die Buhne betreten.
Zu den neuen Personen der Handlung - aber nicht der Mordkommission - gehorte Detective Ruby Bowe aus Ainslies Ermittlerteam. Ruby, eine zierliche achtundzwanzigj ahrige Schwarze mit einer Vorliebe fur glitzernde Ohrringe und modische Kleidung, war allgemein beliebt und geachtet, arbeitete so flei?ig wie ihre Kollegen, oft flei?iger, und erwartete keinerlei Konzessionen wegen ihres Geschlechts. Sie konnte hartnackig und zah, sogar skrupellos sein. Aber bei anderen Gelegenheiten bewies sie wieder ausgepragten Sinn fur Humor, den ihre Kollegen zu schatzen wu?ten.
Als jungstes Kind des Ehepaars Erskine und Allyssa Bowe war Ruby mit ihren acht Geschwistern in Overtown aufgewachsen - in dem wegen seiner hohen Kriminalitat beruchtigten Schwarzengetto Miamis. Der Polizeibeamte Erskine Bowe war von einem funfzehnjahrigen Nachbarsjungen, der unter Drogeneinflu? einen dortigen 7-Eleven- Laden uberfallen hatte, angeschossen und todlich verletzt worden. Ruby war damals zwolf gewesen: schrecklich jung, um ihren Vater zu verlieren, aber alt genug, um ihr besonders inniges Verhaltnis zu ihm in Erinnerung zu behalten.
Erskine Bowe hatte seine jungste Tochter stets fur etwas Besonderes gehalten und allen Freunden erklart: »Ruby macht spater mal was ganz Wichtiges. Ihr werdet schon sehen!«
Ruby hatte die Edison High-School besucht, war eine gute Schulerin gewesen und hatte sich schon dort freiwillig im sozialen Bereich engagiert. Sie hatte vor allem gegen Drogenmi?brauch gekampft, weil sie wu?te, da? er der wahre Morder ihres Vaters gewesen war.
Mit Hilfe eines Stipendiums hatte Ruby an der Florida A & M University Psychologie und Soziologie studiert und war nach dem mit Auszeichnung bestandenen Examen sofort zum Miami Police Department gegangen. Ihr Vater war siebzehn Jahre lang bei der Polizei gewesen; vielleicht konnte sie seinen Tod wiedergutmachen, indem sie »die Welt veranderte«. Und wenn nicht gleich die Welt, so wenigstens ihre unmittelbare Umgebung.
Niemand war sonderlich uberrascht, als Ruby Bowe die Polizeiakademie als eine der Jahrgangsbesten verlie?. Hochgezogene Augenbrauen gab es jedoch wegen Lieutenant Newbolds Entscheidung, Ruby sofort als Kriminalbeamtin in die Mordkommission aufzunehmen. Das hatte es noch nie gegeben.
Wie bei jeder Polizei stellte die Mordkommission im Miami Police Department eine Elite dar. Ihre Beamten standen in dem Ruf, besonders intelligent und gewieft zu sein, und ihr Prestige machte die meisten Kollegen neidisch. Deshalb bewirkte Rubys Ernennung, da? einige altere Kriminalbeamte, die auf einen Posten in der Mordkommission gehofft hatten, enttauscht und verbittert waren. Aber Newbold wu?te instinktiv, da? seine Entscheidung richtig gewesen war. »Manchmal«, vertraute er Malcolm Ainslie an, »wittert man einen guten Cop geradezu.«
Ruby Bowe gehorte seit nunmehr vier Jahren der Mordkommission an und war dienstlich nie anders als »uberragend« beurteilt worden.
Als Angehorige von Sergeant Ainslies Team wurde Ruby automatisch an der fur acht Uhr angesetzten Besprechung teilnehmen, aber wahrend die anderen sich bereits im Konferenzraum versammelten, sa? sie noch zwische n Aktenstapeln am Telefon. Newbold rief ihr im Vorbeigehen zu: »Machen Sie Schlu?, Ruby. Wir brauchen Sie dort drinnen.«
»Ja, Sir«, antwortete Ruby. Sekunden spater stand sie auf und folgte ihm, wahrend sie den gro?en goldenen Ohrclip, den sie zum Telefonieren abgenommen hatte, wieder anbrachte.
An das Gro?raumburo der Mordkommission schlossen sich Vernehmungsraume fur Zeugen und Verdachtige, ein mit Sofas und Sesseln behaglich moblierter Raum, in dem manchmal die Angehorigen Ermordeter befragt wurden, ein gro?es Archiv mit den Fallakten der vergangenen zehn Jahre und zuletzt der Konferenzraum an.
An dem gro?en rechteckigen Konferenztisch sa?en au?er Malcolm Ainslie zwei weitere Teamleiter - die Sergeants Pablo Greene und Hank Brewmaster - und die Kriminalbeamten Bernard Quinn, Esteban Kralik, Jose Garcia und Ruby Bowe.
Garcia, ein geburtiger Kubaner, war seit zwolf Jahren bei der Polizei in Miami und gehorte seit acht Jahren der Mordkommission an. Mit stammiger Figur und weit fortgeschrittener Glatze wirkte der dreiunddrei?igjahrige Garcia gut zehn Jahre alter, was ihm bei seinen Kollegen den Spitznamen »Pop« eingebracht hatte.
Mit am Konferenztisch sa? der jugendliche Sheriff-Detective Benito Montes, der auf Quinns telefonische Einladung aus Fort Lauderdale nach Miami gekommen war. Bei den Ermittlungen im Fall des Doppelmords an dem Ehepaar Hennenfeld, berichtete Montes, habe es seit seinem letzten Besuch in Miami keine Fortschritte gegeben.
Zu den ubrigen Teilnehmern gehorten die Gerichtsmedizinerin Dr. Sanchez, Julio Verona und Sylvia Waiden von der Spurensicherung und der stellvertretende Staatsanwalt Curzon Knowles.
Knowles, der in Adele Montesinos Behorde das Morddezernat leitete, hatte einen ausgezeichneten Ruf als Strafverfolger. Dieser zuruckhaltende, fast schuchterne Mann, der immer unauffallige Anzuge von der Stange und Strickkrawatten trug, war einmal mit einem unscheinbaren Schuhverkaufer verglichen worden. Nahm er vor Gericht widerspenstige Zeugen ins Kreuzverhor, wirkte er oft linkisch und unsicher, was er durchaus nicht war. Viele solcher Zeugen, die sich einbildeten, diesen unscheinbaren Staatsanwalt ungestraft belugen zu konnen, mu?ten plotzlich feststellen, da? sie in ein Spinnennetz gelockt worden waren, in dem sie sich verfangen und dabei selbst belastet hatten, ohne es zu merken.
Seiner entwaffnenden Art und einem messerscharfen Verstand verdankte es Knowles, da? er in funfzehn Dienstjahren als Anklagevertreter bei Mordprozessen bemerkenswerte zweiundachtzig Prozent Verurteilungen erreicht hatte. Die Kriminalbeamten der Mordkommission waren immer froh, wenn Curzon Knowles ihre Falle bearbeitete, genau wie Newbold und die anderen es begru?ten, da? er diesen Termin wahrgenommen hatte.
Ebenfalls anwesend waren Major Yanes und Assistant Chief Otero Serrano, dessen Teilnahme die Wichtigkeit der laufenden Ermittlungen unterstrich.
Lieutenant Newbold, der oben am Konferenztisch sa?, eroffnete die Besprechung mit einer knappen Einfuhrung: »Wie wir alle wissen, sind zwei unserer ungelosten Falle und ein dritter in Ford Lauderdale jetzt als Doppelmorde eines Serientaters erkennbar. Unter Umstanden wird uns spater vorgeworfen, wir hatten schon vor der dritten Tat zu dieser Schlu?folgerung gelangen sollen. Aber damit befassen wir uns, wenn's soweit ist. Im Augenblick haben wir Wichtigeres zu tun.
Was ich will, hier und jetzt, ist eine vollstandige Rekapitulation aller drei Doppelmorde, bei der nicht die geringste Kleinigkeit ausgelassen wird. Wir mussen
Ruby Bowe hob eine Hand. Newbold brach mitten im Satz ab und runzelte unwillig die Stirn. »Was immer es ist, Ruby, aber kann das nicht warten, bis ich fertig bin?«