Er hatte es plotzlich. Alle Teile des Puzzles pa?ten zusammen.

Es war, als habe eine unvollstandige Hypothese, die langsam und vage in seinem Gehirn entstanden war, jah greifbare Formen angenommen. Er konnte seine Erregung kaum im Zaum halten.

»Ich brauche eine Bibel«, sagte Ainslie.

Die anderen starrten ihn an.

»Eine Bibel«, wiederholte er lauter, fast befehlend. »Ich brauche eine Bibel!«

Newbold nickte Quinn zu, der gleich neben der Tur sa?. »In meinem Schreibtisch liegt eine. Rechts, zweite Schublade von oben.« Quinn ging hinaus, um sie zu holen.

Die Mordkommission hatte stets mehrere Bibeln zur Verfugung. Es kam immer wieder vor, da? Festgenommene, die vernommen werden sollten, eine Bibel verlangten, um darin zu lesen - manche aus einem echten Bedurfnis heraus, andere auch nur, weil sie hofften, ihre demonstrative Frommigkeit werde ihnen spater zu einer milderen Strafe verhelfen. Diese Hoffnung war nicht ganz unbegrundet; bestimmte Straftater, vor allem solche aus dem Bereich der Wirtschaft, hatten durch angebliche religiose »Bekehrung« und ihre Behauptung, »wiedergeboren« zu sein, mildere Urteile erwirkt. Aber im Ermittlungsstadium waren die Kriminalbeamten, auch wenn sie skeptisch blieben, gern bereit, eine Bibel zur Verfugung zu stellen, wenn dadurch ein rascheres Gestandnis zu erwarten war.

Quinn kam mit der Bibel in der Hand zuruck. Er beugte sich uber den Tisch und legte sie vor Ainslie, der das letzte Buch des Neuen Testaments aufschlug - die Katholiken als Apokalypse bekannte Offenbarung des Johannes.

Newbold schien ein Licht aufzugehen. »Alles hangt mit der Offenbarung zusammen, was?« fragte er.

Der Sergeant nickte. »Jeder dieser Gegenstande soll eine Botschaft ubermitteln.«

Ainslie deutete zu Ruby, die noch am Computer sa?. »Fangen wir gleich mit dem ersten Punkt an.« Er sah sich am Konferenztisch um, dann las er aus der Bibel vor: »Offenbarung, Kapitel vier, Vers sechs: >Und vor dem Thron war es wie ein glasernes Meer, gleich dem Kristall, und mitten am Thron und um den Thron vier himmlische Gestalten...<« Ainslie machte eine Pause. »Fur >himmlische Gestalten< konnte man auch >Tiere< setzen«, fugte er erklarend hinzu.

»Die Katzen!« rief Quinn aus.

Ainslie blatterte zwei Seiten zuruck, suchte mit dem Zeigefinger und las erneut vor: »Kapitel eins, Vers vierzehn: >Sein Haupt aber und sein Haar waren wei? wie Wolle, wie der Schnee, und seine Augen wie eine Feuerflamme...<« Er sah zu Quinn hinuber. »Mr. Frost, stimmt's?«

Quinn nickte. »Diese beiden Hinweise - die Katzen und Frosts verbrannte Augen - sind unubersehbar gewesen. Aber wir haben sie nie miteinander verknupft... jedenfalls nicht richtig.«

Am Tisch herrschte Schweigen. Assistant Chief Serrano sa? nach vorn gebeugt da und horte gespannt zu. Major Yanes hatte sich Notizen gemacht, aber jetzt legte er den Kugelschreiber beiseite. Alle warteten gespannt, wahrend Ainslie weiterblatterte. Er fragte Ruby: »In Clearwater ist's eine Trompete gewesen, nicht wahr?«

Sie sah auf den Bildschirm. »Eine Trompete und ein rot bemalter Halbmond aus Pappe.«

»Fangen mir mit der Trompete an. Kapitel eins, Vers zehn: >Der Geist kam uber mich an des Herrn Tag, und ich horte hinter mir eine gro?e Stimme wie von einer Posaune...<«

Ainslie blatterte weiter. »Irgendwo kommt auch ein roter Mond vor... Ah, da haben wir ihn! Kapitel sechs, Vers zwolf: >Und ich sah: als es das sechste Siegel auftat, da ward ein gro?es Erdbeben, und die Sonne ward finster wie ein schwarzer Sack, und der Mond ward wie Blut...<«

Er sah zu Benito Montes hinuber. »Horen Sie sich das an. Kapitel eins, Vers funfzehn: >Und seine Fu?e waren gleich wie goldenes Erz, das im Ofen gluht...<«

»Mr. Hennenfelds Fu?e!« sagte der junge Beamte horbar beeindruckt.

Sergeant Greene ergriff das Wort. »Was ist mit den Urbinas, Malcolm?«

Ainslie blatterte weiter. »Naturlich, ich hab's! Die Tote hat diese Schale in der Hand gehabt oder fast beruhrt, nicht wahr, Pablo?«

»Fast beruhrt, ja.«

»Das steht hier.« Ainslie las wieder aus der Offenbarung vor. »Kapitel siebzehn, Vers vier: >Und das Weib war bekleidet mit Purpur und Scharlach und ubergoldet mit Gold und edlen Steinen und Perlen und hatte einen goldenen Becher in der Hand, voll Greuel und Unflat...<«

Am Tisch kam beifalliges Gemurmel auf. Ainslie winkte ab und protestierte: »Nein, nein!« Wahrend die anderen ihn beobachteten, bedeckte er sein Gesicht einige Sekunden lang mit den Handen. Als er sie wieder wegnahm, wirkte er nicht mehr erregt, sondern bekummert. Dann sagte er mit gepre?ter Stimme: »Darauf hatte ich fruher kommen mussen, ich hatte diese Symbole gleich anfangs erkennen mussen. Dann konnten einige dieser Leute vielleicht noch leben.«

»Wie hattest du sie fruher erkennen konnen?« fragte Sergeant Brewmaster. »Wir anderen haben uberhaupt nichts damit anfangen konnen.«

Ainslie wollte erwidern: Weil ich ein promovierter Theologe bin! Weil ich zwolf endlos lange Jahre die Bibel studiert habe. Weil alle diese Symbole mich an meine Vergangenheit erinnert haben, aber ich so langsam und begriffsstutzig gewesen bin, da? ich erst jetzt... Dann entschied er sich dafur, diese Worte unausgesprochen zu lassen. Was hatten sie jetzt noch genutzt? Aber Scham und Reue sa?en tief in seinem Herzen.

Leo Newbold nahm sie wahr. Und verstand sie gut. Er suchte Ainslies Blick. »Fur uns ist wichtig, Malcolm«, sagte der Lieutenant gelassen, »da? Sie uns den ersten Hinweis geliefert haben - einen sehr wichtigen Hinweis. Mich wurde interessieren, wie Sie ihn deuten.«

Ainslie nickte dankend. »Erstens ist damit der Taterkreis eingeschrankt. Zweitens wissen wir jetzt ungefahr, nach welch einem Menschen wir fahnden.«

»Namlich?« fragte Yanes.

»Nach einem religiosen Fanatiker, Major. Er sieht sich unter anderem als einen von Gott entsandten Racher.«

»Ist das die >Botschaft<, die Sie erwahnt haben, Sergeant? Ist das die Bedeutung dieser Symbole?«

»Ganz recht - wenn wir berucksichtigen, da? zu jedem Symbol ein Doppelmord gehort. Der Tater glaubt vermutlich, eine Botschaft Gottes zu uberbringen und zugleich die Rache Gottes zu vollziehen.«

»Rache wofur?«

»Das wissen wir besser, Major, wenn wir einen Verdachtigen haben, den wir vernehmen konnen.«

Yanes nickte anerkennend. »Ihr Hinweis scheint uns wirklich weiterzuhelfen. Gut gemacht, Sergeant.«

Assistant Chief Serrano fugte hinzu: »Richtig, das finde ich auch.«

Newbold ergriff wieder das Wort. »Malcolm, Sie verstehen besser als wir alle zusammen, was diese Stellen aus der Offenbarung bedeuten. Konnen Sie uns erlautern, was wir sonst noch wissen sollten?«

Ainslie uberlegte, bevor er sprach, denn er war sich daruber im klaren, da? er auf unterschiedliche Ideen und Erfahrungen zuruckgreifen mu?te - seine Vergangenheit als Priester, seine Einstellung seither und seine Rolle als Kriminalbeamter. Selten, vielleicht noch nie hatten sich diese Bereiche so uberschnitten.

Er bemuhte sich um eine moglichst einfache Erklarung.

»Die Offenbarung ist in einer Art Code mit vielen symbolischen Wortern geschrieben, die nur Bibelforscher verstehen. Fur viele Leute ist sie ein wirres Durcheinander aus Visionen, Symbolen, Allegorien und Prophezeiungen -uberwiegend nebulos. Aber die Tatsache, da? die Offenbarung dazu dienen kann, alles zu beweisen oder zu widerlegen, hat sie fur Fanatiker und Verruckte schon immer attraktiv gemacht. Aus der Sicht dieser Leute stellt sie eine gebrauchsfertige Beschreibung aller nur denkbaren Ubel dar. Deshalb mussen wir feststellen, wie der Mann, nach dem wir fahnden, zur Offenbarung gekommen ist und sie seinen Zwecken angepa?t hat. Wissen wir das, konnen wir losziehen und ihn verhaften.«

Lieutenant Newbold sah sich am Konferenztisch um. »Mochte jemand etwas hinzufugen?«

Julio Verona hob eine Hand. Vielleicht um seinen Mangel an Korpergro?e auszugleichen, sa? der Leiter der Spurensicherung kerzengerade auf seinem Stuhl. Als der Lieutenant ihm zunickte, sagte er: »Da? wir jetzt wissen, was fur ein Kerl diese Verbrechen begeht, ist gut, und ich gratuliere Malcolm dazu. Aber ich mochte daran erinnern, da? das Beweismaterial - selbst wenn wir einen Verdachtigen hatten - sehr durftig ist und bestimmt nicht fur eine Verurteilung ausreichen wurde.« Er sah zu Staatsanwalt Curzon Knowles hinuber.

»Mr. Verona hat recht«, bestatigte Knowles. »Um sicherzugehen, da? nichts ubersehen oder falsch

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