»Schlagen Sie vor, Jugendstrafakten uberhaupt nicht mehr zu schlie?en?«

»Genau! Jede Straftat mu? registriert werden, in den Akten bleiben und bei spateren Ermittlungen herangezogen werden konnen. Pa?t Eltern und Burgerrechtlern das nicht, sollen sie sich zum Teufel scheren! Wer Straftaten verubt, findet sie in seiner Akte wieder. Das ist der Preis dafur, der unabhangig vom Lebensalter zu zahlen ist - der zu zahlen sein sollte.«

»Was haben Sie als nachstes vor?« fragte Newbold. »Beantragen Sie eine richterliche Anordnung, um Doils Jugendstrafakte einsehen zu durfen?«

»Daran arbeite ich bereits. Ich habe Curzon Knowles angerufen; er setzt die eidesstattliche Erklarung auf. Damit gehe ich zu Richter Powell. Wir wollen diese Sache vorerst fur uns behalten, und er stellt keine uberflussigen Fragen.«

»Ihr alter Freund Phelan Powell?« Newbold lachelte. »Seine Ehren ist Ihnen schon oft gefallig gewesen. Wurde ich Sie fragen, womit Sie ihn in der Hand haben, wurden Sie's mir naturlich nicht verraten.«

»Ich bin sein unehelicher Sohn«, behauptete Ainslie, ohne eine Miene zu verziehen.

Newbold lachte. »Wie alt ware er dann gewesen, als er Ihre Mutter geschwangert hat? Zwolf? Also ist's irgendwas anderes, aber das ist in Ordnung. In unserem Beruf sammelt jeder seine Guthaben und Schulden an.«

Damit hatte der Lieutenant naturlich recht.

Vor vielen Jahren, als Detective Ainslie zur Kriminalpolizei gegangen war, sahen sein Partner Ian Deane und er eines Nachts in einer dunklen Sackgasse einen blauen Cadillac stehen. Als sie hinter dem Wagen hielten, stieg auf der Fahrerseite ein nur teilweise bekleideter Wei?er aus, der hastig seine Hose hochzog; und auf der rechten Seite tauchte eine sparlich bekleidete junge Schwarze auf. Die Kriminalbeamten erkannten beide. Die Frau war eine Prostituierte namens Wanda; der Mann war Bezirksrichter Phelan Powell, vor dem sie beide schon oft als Zeugen ausgesagt hatten. Powell, ein gro?er, athletisch gebauter Mann wirkte, anders als sonst, alles andere als gebieterisch.

Wanda und er hielten sich eine Hand uber die Augen, blinzelten ins Schweinwerferlicht und bemuhten sich verzweifelt, die Neuankommlinge zu erkennen.

Als Ainslie und Deane ins Scheinwerferlicht traten, sagte Wanda resigniert: »O Schei?e!« Im Gegensatz zu ihr wirkte der Richter leicht benommen. Aber dann begriff er allmahlich den Ernst der Lage.

»O Gott! Polizei!« Seine Stimme war vor Verzweiflung heiser. »Ich flehe Sie an... Bitte, bitte ubersehen Sie diesen Vorfall! Ich bin ein Idiot gewesen... habe einer plotzlichen Versuchung nachgegeben. Das ist sonst nicht meine Art, aber wenn Sie mich anzeigen, bin ich kompromittiert, erledigt!« Er machte eine Pause, und die drei Manner wechselten verlegene Blicke. »Officers, bitte lassen Sie mich dieses eine Mal laufen! Das vergesse ich Ihnen nie... und was ich fur Sie tun kann, das tue ich.«

Ainslie uberlegte fluchtig, wie der Richter wohl auf sein eigenes Ansinnen reagieren wurde.

Hatten die beiden Kriminalbeamten Powell angezeigt, hatte er sich wegen »Ansprechens einer Prostituierten« und »Herumtreiberei« verantworten mussen. Beides waren leichte Vergehen, die bei Ersttatern schlimmstenfalls mit einer Geldstrafe belegt wurden; das Verfahren hatte sogar eingestellt werden konnen. Aber Richter Powells Laufbahn ware damit abrupt beendet gewesen.

Ainslie, der Dienstaltere der beiden, zogerte unschlussig. Er wu?te, da? die Justiz blind zu sein hatte, da? sie keine Unterschiede machen durfte. Andererseits...

Ohne den Fall weiter zu analysieren oder bewu?t eine Entscheidung zu treffen, sagte Ainslie zu Deane: »Wir sind uber Funk gerufen worden, glaube ich. Komm, wir mussen zum Wagen zuruck.«

Dann fuhren die Kriminalbeamten weg.

In den folgenden Jahren wurde dieser Vorfall nie mehr erwahnt - weder von Malcolm Ainslie noch von Richter Powell. Ainslie erzahlte niemandem davon, und Detective Ian Deane kam wenig spater bei einer Schie?erei wahrend einer Drogenrazzia in Overtown ums Leben.

Aber der Richter hielt Wort. Erschien Ainslie als Polizeibeamter, der die Verhaftung vorgenommen hatte, oder als Zeuge vor ihm, wurde er immer hoflich und rucksichtsvoll behandelt. Gelegentlich war Ainslie auch zu Richter Powell gegangen, um aus Ermittlungsgrunden eine rasche richterliche Entscheidung zu erwirken, und hatte sie jedesmal erhalten - wie hoffentlich auch diesmal.

Aber bevor Ainslie losfuhr, telefonierte er mit dem Buro des Richters. Phelan Powell hatte im Lauf der Jahre Karriere gemacht und gehorte jetzt dem Berufungsgericht des Dritten Bezirks an. Ainslie erklarte einer Sekretarin, worum es ging, und erfuhr nach kurzem Warten: »Der Richter beginnt eben eine Verhandlung. Aber wenn Sie ins Gerichtsgebaude kommen, ordnet er eine Verhandlungspause an und empfangt Sie im Richterzimmer.«

Unterwegs fuhr Ainslie bei der Staatsanwaltschaft vorbei, um den von Curzon Knowles vorbereiteten Antrag abzuholen. Erst durch Richter Powells Unterschrift wurde er der Schlussel zu Elroy Doils Jugendstrafakte. Dieses Verfahren war muhsam und zeitraubend - ein weiterer Grund dafur, da? es nur selten angewandt wurde.

Der Gerichtsdiener hatte offenbar Anweisung, auf sein Kommen zu achten, denn sobald Ainslie den Gerichtssaal betrat, wurde er zu einem Sitz in der ersten Reihe geleitet. Richter Powell sah auf, nickte kaum merklich und kundigte wenig spater an: »Wir machen jetzt eine Viertelstunde Pause. Ich habe etwas Dringendes zu erledigen.«

Im Saal standen alle auf, und der Richter zog sich durch die Tur hinter seinem Tisch zuruck. Dann kam der Gerichtsdiener und begleitete Ainslie ins Richterzimmer.

Richter Powell, der bereits am Schreibtisch sa?, sah ihm lachelnd entgegen. »Herein mit Ihnen! Ich freue mich, Sie zu sehen, Sergeant.« Er bot Ainslie mit einer Handbewegung einen Sessel an. »Lassen Sie mich raten. Die Mordkommission ist nach wie vor im Geschaft.«

»Bis in alle Ewigkeit... danach sieht's jedenfalls aus, Euer Ehren.« Ainslie schilderte Phelan Powell, was ihn hergefuhrt hatte. Der Richter war noch immer eine imposante Erscheinung, obwohl er im Lauf der Jahre erheblich zugenommen hatte und fast wei?haarig geworden war.

Powell nickte, nachdem Ainslie sein Anliegen vorgetragen hatte. »Okay, Sergeant, ich bin Ihnen gern behilflich. Aber damit alles seine Richtigkeit hat, mu? ich Sie fragen, warum Sie Zugang zu dieser Jugendstrafakte beantragen.«

»Sie ist vor zwolf Jahren versiegelt worden, Euer Ehren. Mr. Doil wird jetzt verdachtigt, ein schweres Verbrechen begangen zu haben, und wir glauben, da? bestimmte Informationen aus seiner Jugendzeit unsere Ermittlungen erleichtern konnten.«

»Gut, das genugt mir. Sie sollen Zugang erhalten. Wie ich sehe, haben Sie die Papiere mitgebracht.«

Jeder andere Richter, das wu?te Ainslie, hatte seine Antwort auf die vorige Frage als ungenugend abgetan. Und er hatte weitergefragt - eindringlich, vielleicht sogar feindselig. Richter liebten ihre Vorrechte; viele bestanden auf einem regelrechten Wortgefecht, bevor sie irgend etwas genehmigten. Aber Ainslie wollte, da? moglichst wenig Leute erfuhren, da? Elroy Doil jetzt ihr Hauptverdachtiger war. Da? er keine weiteren Erklarungen hatte abgeben mussen, erhohte die Chancen, da? nicht viel uber die Offnung von Doils Jugendstrafakte gesprochen und spekuliert wurde.

»Scheint alles in Ordnung zu sein«, sagte Richter Powell. »Eigentlich mu?te ich Sie jetzt vereidigen, aber da wir uns schon so lange kennen, will ich darauf verzichten. Sie kennen die Eidesformel, und ich habe Sie vereidigt. Okay?«

»Ich bin vorschriftsma?ig vereidigt, Euer Ehren.«

Powell unterschrieb und gab ihm die Papiere zuruck.

»Ich wurde mich gern etwas langer mit Ihnen unterhalten«, sagte der Richter, »aber im Saal warten sie auf mich, und die Anwalte stehen immer unter Zeitdruck. Sie wissen ja, wie das ist.«

»Ja, Richter. Und vielen Dank.«

Sie schuttelten sich die Hand. An der Saaltur blieb Powell noch einmal stehen.

»Sollten Sie wieder mal Hilfe brauchen, konnen Sie jederzeit zu mir kommen. Sie wissen, da? das mein Ernst ist, jederzeit.«

Als Richter Powell in den Saal zuruckkehrte, horte Ainslie den Gerichtsdiener rufen: »Alles aufstehen!«

Alle Strafakten wurden im Metro-Dade Police Department Building westlich des Flughafens Miami International aufbewahrt. Nachdem Ainslie dort weitere Vordrucke ausgefullt und unterschrieben hatte, kam Elroy Doils Jugendstrafakte aus dem Archiv und wurde in seiner Gegenwart geoffnet. Dann konnte er sie in einem zur Verfugung gestellten Raum einsehen. Er durfte auch beliebig viele Fotokopien daraus machen, aber nichts aus der Akte mitnehmen.

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