Die Akte war umfangreicher als erwartet. Als er sie studierte, wurde rasch klar, da? Doil wesentlich ofter mit dem Gesetz in Konflikt geraten war, als selbst Ainslie vermutet hatte.
Er zahlte zweiunddrei?ig Festnahmen (bei Jugendlichen wurde das Wort Verhaftung nicht benutzt), die zu zwanzig Verurteilungen wegen geringfugiger Vergehen gefuhrt hatten, zweifellos nur ein Bruchteil der Straftaten, die Doil in seinem jungen Leben verubt hatte.
Die Eintragungen begannen mit einem Ladendiebstahl, nachdem Elroy im Alter von zehn Jahren eine Timex-Armbanduhr gestohlen hatte. Mit elf Jahren bettelte er auf Anweisung seiner Mutter an einer Stra?enecke um Geld und wurde von der Polizei aufgegriffen und nach Hause gebracht. Mit zwolf griff er eine Lehrerin an, deren aufgeplatzte Lippe genaht werden mu?te. Nach einer polizeilichen Vernehmung wurde Elroy der Obhut seiner Mutter Beulah Doil ubergeben -ein bei jugendlichen Straftatern ublicher Vorgang, der sich uber Jahre hinweg wiederholen sollte. Einige Monate spater wurde Elroy als Mitglied einer auf Handtaschenraub spezialisierten Jugendbande festgenommen und wieder seiner Mutter ubergeben. Als Dreizehnjahriger verletzte er bei einem weiteren Handtaschenraub eine altere Frau - und kam erneut frei.
Ainslie schuttelte den Kopf. Doils Strafakte bewies wieder einmal, da? Jugendkriminalitat von Polizei und Justiz einfach nicht ernstgenommen wurde. Wie er aus eigener Erfahrung wu?te, konnte ein Jugendlicher, den ein Polizeibeamter um neun Uhr »festnahm«, wieder auf der Stra?e sein, bevor dieser Beamte um drei Uhr Dienstschlu? hatte. In der Zwischenzeit waren die Eltern ins Polizeiprasidium bestellt und der Jugendliche in ihre Obhut ubergeben worden - Fall erledigt.
Selbst wenn Jugendliche vor Gericht kamen, waren die Strafen mild - meistens ein paar Tage Arrest in der Youth Hall, einem nicht unangenehmen Aufenthaltsort, wo die Kids verhaltnisma?ig bequem untergebracht waren und sich die Zeit mit Videospielen und vor dem Fernseher vertrieben.
Nach Ansicht vieler zuchtete dieses System Gewohnheitsverbrecher heran, die als Jugendliche die Uberzeugung gewannen, es sei unglaublich leicht, mit Straftaten davonzukommen. Sogar die straffalligen Jugendlichen zugewiesenen Berater teilten diese pessimistische Auffassung und brachten sie auch in ihren Berichten zum Ausdruck.
War ein Jugendlicher zum zweitenmal festgenommen worden, wurde ihm ein Berater zur Seite gestellt. Das waren uberlastete, unterbezahlte Leute, die nur wenig oder gar keine Spezialausbildung hatten und kein Collegestudium nachweisen mu?ten. Jeder dieser Berater, der unrealistisch viele Falle zu betreuen hatte, sollte den Jugendlichen und ihren Eltern mit Ratschlagen beistehen - auch wenn sein Rat meist ignoriert wurde.
In seiner Zeit als straffalliger Jugendlicher hatte Elroy Doil anscheinend immer den gleichen Berater - einen gewissen Herbert Eiders - gehabt. Die Akte enthielt mehrere Kurzbeurteilungen des Jugendlichen, die Ainslie zeigten, da? Eiders unter schwierigen Bedingungen sein Bestes getan hatte. Eine dieser Beurteilungen schilderte den Dreizehnjahrigen als »fur sein Alter recht gro? und sehr kraftig« und warnte vor seinem »ausgepragten Hang zu Gewalttatigkeiten«. Im selben Bericht klagte Eiders auch uber Mrs. Doils »Gleichgultigkeit«, wenn er versuchte, sie auf dieses Problem anzusprechen.
In einer weiteren von Eiders verfa?ten Beurteilung wurde erwahnt, Elroy Doil habe ab seinem zwolften Lebensjahr an der Operation Guidance, einem stadtischen Programm fur unterprivilegierte Jugendliche, teilgenommen. Dieses Programm wurde von Pater Kevin O'Brien von der Gesu Church in Miami geleitet; es bestand aus sonntaglichen Treffen auf dem Kirchengelande mit gemeinsamen Mahlzeiten, Sport und Bibelstudium. Eiders au?erte sich hoffnungsvoll uber Elroys »wachsendes Interesse fur Religion und die Bibel«.
Eineinhalb Jahre spater hielt ein weiterer Bericht jedoch die enttauschende Tatsache fest, auch sein Glaubenseifer, den Pater O'Brien als »irrig und sprunghaft« bezeichnete, halte Doil keineswegs von weiteren Straftaten ab.
Ainslie notierte sich Pater O'Briens Adresse und Telefonnummer.
Bis zu Doils Volljahrigkeit wies seine Strafakte zahlreiche weitere Vergehen auf, die jedoch nie dazu gefuhrt hatten, da? ihm die Fingerabdrucke abgenommen worden waren. Bei Jugendlichen setzte das eine Verhaftung wegen eines Kapitalverbrechens oder das Einverstandnis eines Erziehungsberechtigten voraus, das Beulah Doil stets verweigert hatte, wie die Protokolle zeigten.
Doils fehlende Fingerabdrucke hatten die Ermittler behindert, als er in dem Fall, mit dem seine Akte schlo?, in den dringenden Verdacht geraten war, Clarence und Florentina Esperanza ermordet zu haben. Ohne Fingerabdrucke oder sonstige Beweise war es nicht moglich gewesen, Anklage gegen Elroy Doil zu erheben.
Wie frustriert seine hiesigen Kollegen damals gewesen sein mu?ten, konnte Ainslie sich gut vorstellen, als er die Akte Doil zuklappte und sich auf den Weg zum nachsten Kopiergerat machte.
Vom Metro-Dade Police Department aus rief Ainslie die Nummer Pater O'Briens an, der selbst am Apparat war. Der Geistliche bestatigte, er erinnere sich noch gut an Elroy Doil und sei bereit, uber ihn zu reden. Wenn der Sergeant gleich zur Gesu Church fahren wolle, stehe er ihm in seinem Buro fur ein Gesprach zur Verfugung.
Pater Kevin O'Brien, ein lebhafter Ire, jetzt ein Sechziger mit beginnender Glatze, bot seinem Besucher mit einer einladenden Handbewegung den Stuhl vor seinem Schreibtisch an.
Ainslie nahm Platz, bedankte sich dafur, da? der Geistliche sich Zeit fur ihn nahm, schilderte ihm kurz, weshalb er sich fur Doil interessierte, und fugte hinzu: »Ich bin nicht hier, um Beweise zu finden, Pater. Ich habe mich nur gefragt, ob Sie mir ein bi?chen etwas uber ihn erzahlen konnten.«
O'Brien nickte nachdenklich. »Ich erinnere mich an Elroy, als hatte ich ihn erst gestern gesehen. Ursprunglich hat er an unserem Programm teilgenommen, weil er die Mahlzeiten brauchte, vermute ich. Aber nach einigen Wochen hat ihn die Bibel formlich hypnotisiert - viel mehr als die ubrigen Jugendlichen.«
»Ist er intelligent?«
»Sogar sehr. Und ein eifriger Leser, was mich wegen seiner marginalen Schulbildung uberrascht hat. Ich wei? noch gut, wie fasziniert er von Gewalt und Verbrechen gewesen ist - erst in der Zeitung, dann in der Bibel.« O'Brien lachelte. »Das Alte Testament mit seinen >heiligen Kriegenc, dem Zorn Gottes, Verfolgungen, Rache und Morden hatte es ihm angetan. Sie wissen, welche Stellen ich meine, Sergeant?«
Ainslie nickte. »Ja, die kenne ich.« Tatsachlich hatte er aus dem Gedachtnis die Stellen nennen konnen, die Doil interessiert haben mu?ten.
»Ich habe gro?e Hoffnungen in den Jungen gesetzt«, fuhr O'Brien fort, »und anfangs geglaubt, wir verstunden uns gut. Aber das hat sich als Irrtum erwiesen. Bei unseren Gesprachen uber die Bibel hat er nur das gelten lassen, was zu seinen Vorstellungen pa?te. Er wollte ein Racher im Auftrag Gottes werden - bestimmt auch, um vermeintliche Ungerechtigkeiten in seinem Leben zu vergelten. Ich habe versucht, ihm die Augen fur Gottes Liebe und Barmherzigkeit zu offnen, aber seine Ideen sind standig wirrer geworden. Ich wollte, ich hatte mehr erreicht.«
»Ich denke, Sie haben getan, was Sie konnten, Pater«, sagte Ainslie. »Glauben Sie, da? Doil irgendwie geistig gestort ist? Halten Sie ihn fur unzurechnungsfahig?«
»Das will ich nicht behaupten.« Der Geistliche uberlegte. »Eines wei? ich bestimmt: Elroy ist ein pathologischer Lugner. Er hat auch gelogen, wenn er nicht hatte lugen mussen. Und er hat mich sogar in Fallen belogen, in denen er wissen mu?te, da? ich die Wahrheit kannte. Man hatte glauben konnen, Elroy habe eine grundsatzliche Aversion gegen die Wahrheit in jeglicher, selbst in harmloser Form.«
O'Brien fugte hinzu: »Das ist so ziemlich alles, was ich Ihnen uber Elroy erzahlen kann. Er ist einfach ein Junge auf dem falschen Weg gewesen, und aus der Tatsache, da? Sie mich aufgesucht haben, schlie?e ich, da? er seinen Kurs nicht geandert hat.«
»Anscheinend nicht«, bestatigte Ainslie. »Noch eine letzte Frage, Pater. Haben Sie jemals den Verdacht gehabt, Doil trage eine Schu?waffe? Oder irgendeine Waffe?«
»Ja«, sagte O'Brien sofort. »Daran erinnere ich mich gut. Die meisten Jugendlichen haben standig uber Schu?waffen geredet, obwohl ich ihnen verboten hatte, welche in die Kirche mitzubringen. Aber Elroy hat Schu?waffen abgelehnt, hat nichts von ihnen wissen wollen. Die anderen haben erzahlt, er trage ein Messer bei sich - ein gro?es Messer, mit dem er vor seinen Freunden angegeben hat.«
»Haben Sie dieses Messer jemals gesehen?«
»Naturlich nicht. Sonst hatte ich's konfisziert.« Ainslie schuttelte O'Brien zum Abschied die Hand und sagte: »Vielen Dank fur Ihre Hilfe, Pater. Elroy Doil bleibt ein Ratsel, aber Sie haben mir geholfen, ihn etwas besser kennenzulernen.«
Ainslie kam am fruhen Nachmittag in die Dienststelle zuruck und setzte fur sechzehn Uhr eine Besprechung mit ausgewahlten Mitgliedern der Sonderkommission an. Auf der Liste, die er einer Sekretarin gab, standen die Sergeants Pablo Greene und Hank Brewmaster sowie die Detectives Bernard Quinn, Ruby Bowe, Esteban Kralik,