»Du wurdest's wissen«, stimmte Malcolm zu. »Aber die Morder, mit denen wir es zu tun haben, sind oft jung und nicht besonders gut informiert.«

»Vielleicht sind sie's nicht, weil sie nicht viel lesen«, meinte Owen Grundy. Er war schlank und drahtig, ein Architekt mit einer Vorliebe fur Olmalerei.

Malcolm nickte. »Viele von ihnen lesen nie. Manche konnen wahrscheinlich nicht mal lesen.«

»Aber sie sehen bestimmt fern«, warf Myra ein. »Und Fernsehverbrecher werden geschnappt.«

»Richtig«, bestatigte Malcolm. »Aber im Fernsehen werden Verbrecher als gro?e Helden hingestellt. Sie fallen auf, und das mochten Jugendliche - vor allem aus unterprivilegierten Familien - auch gern. Die Konsequenzen zeigen sich dann spater, meist zu spat.«

Zu Malcolms Uberraschung befurworteten die meisten Anwesenden die Todesstrafe fur Mord, selbst bei Verbrechen aus Leidenschaft. Der in den Vereinigten Staaten zu beobachtende Meinungsumschwung schien nun auch Kanada zu erfassen, wo die Todesstrafe 1976 abgeschafft worden war. Isabel Grundy, eine Physiklehrerin mit burschikos nuchterner Art, sprach sich besonders vehement dafur aus. »Ich bin fur die Wiedereinfuhrung der Todesstrafe. Manche Leute behaupten, sie wirke nicht abschreckend, aber der gesunde Menschenverstand sagt einem das Gegenteil. Au?erdem sind die Hingerichteten meist der Abschaum der Menschheit. Ich wei?, da? es nicht politisch korrekt ist, das zu sagen, aber es ist trotzdem wahr!«

Aus Interesse fragte Malcolm: »Fur welche Hinrichtungsart wurdest du pladieren?«

»Galgen, elektrischer Stuhl, Giftspritze - mir ist's egal, wenn wir diese Leute nur loswerden.«

Danach herrschte fur kurze Zeit verlegenes Schweigen, weil Isabel sich in Rage geredet hatte. Trotzdem fiel Malcolm auf, da? niemand ihr widersprach.

Am nachsten Morgen machten Karen, Malcolm und Jason in Scarborough einen Spaziergang am Seeufer. Von hohen Klippen aus konnten sie den Ontariosee uberblicken, obwohl der Nachbarstaat New York, der etwa hundertfunfzig Kilometer entfernt war, au?er Sichtweite blieb. Nachts hatte es wieder geschneit, und das Trio lieferte sich eine Schneeballschlacht. Nach vielen Versuchen fand einer von Jasons Schneeballen endlich sein Ziel: Malcolms Kopf. »Wenn wir in Miami doch auch Schnee hatten!« rief der Kleine jubelnd.

Sie klopften den Pulverschnee von ihrer Kleidung und gingen weiter. Solche Augenblicke sind viel zu selten, erkannte Malcolm, wahrend er Karen und Jason seine Arme um die Schultern legte.

Als ihr Sohn dann vorauslief, sagte Karen plotzlich: »Was ich dir zu erzahlen habe, kann ich ebensogut jetzt sagen. Ich bin schwanger.«

Malcolm blieb stehen und starrte sie an. »Ich dachte...«

»Ich naturlich auch. Das beweist nur, da? Arzte sich irren konnen. Ich habe mich erst gestern zum zweitenmal untersuchen lassen; ich wollte's dir nicht fruher erzahlen, um keine falschen Hoffnungen zu wecken. Aber stell dir vor, Malcolm, wir bekommen ein Baby!«

Die beiden hatten sich seit vier Jahren ein weiteres Kind gewunscht, aber Karens Gynakologe hatte ihr erklart, sie konne keines mehr bekommen.

Karen fuhr fort: »Ich wollte's dir auf dem Flug hierher erzahlen...«

Malcolm schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn. »Jetzt verstehe ich, wie dir vorgestern zumute gewesen sein mu?! Tut mir leid, Darling.«

»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Du hast deine Pflicht getan. Schon, jetzt wissen's wir also beide. Bist du glucklich?«

Statt zu antworten, schlo? Malcolm Karen in die Arme und ku?te sie.

»Hey!« rief Jason lachend. »Vorsicht!« Als sie sich dann umdrehten, traf sie ein perfekt gezielter Schneeball.

»Das sollten wir ofter machen«, sagte Gary Moxie, als das Familientreffen fruh am vierten Tag mit herzlicher Verabschiedung zu Ende ging. Sie waren alle vor Tagesanbruch aufgestanden, hatten rasch gefruhstuckt und fuhren dann mit mehreren Autos zum Flughafen Toronto, um die Fruhmaschinen zu erreichen.

George Grundy brachte Karen, Malcolm und Jason zum Flughafen. Unterwegs plapperte Jason aufgeregt. »Opa«, sagte er zu seinem Gro?vater, »ich bin echt froh, da? wir am gleichen Tag Geburtstag haben.«

»Ich auch, mein Junge«, antwortete der General. »Wenn ich mal nicht mehr da bin, feierst du hoffentlich fur uns beide. Traust du dir das zu?«

»O ja!«

»Das tut er«, sagte Karen. »Aber das hat noch lange Zeit, Dad. Wie war's, wenn wir den nachsten gemeinsamen Geburtstag in Miami feiern wurden? Wir laden die ganze Familie ein.«

»Abgemacht!« Ihr Vater wandte sich an Malcolm, der auf dem Rucksitz sa?. »Wenn's dir auch recht ist?«

Malcolm schrak hoch. »Sorry! Worum geht's denn?«

Karen seufzte. »Hallo! Bist du wieder da?«

George Grundy lachte. »La? nur, Karen, diese Anzeichen kenne ich. Du hast uber die morgigen Probleme nachgedacht, stimmt's?«

»Ja, das habe ich«, gab Malcolm zu. Er hatte sich gerade uberlegt: Wie lassen sich die noch offenen Fragen, die mein letztes Gesprach mit Elroy Doil aufgeworfen hat, am besten beantworten? Und wie schnell la?t sich das machen?

6

Wie sich dann zeigte, hatte Malcolm Ainslie in der ersten Woche nach seiner Ruckkehr kaum Gelegenheit, uber Doil nachzudenken. Auf seinem Schreibtisch turmten sich Aktenberge und Unterlagen, die sich wahrend seiner viertagigen Abwesenheit angesammelt hatten und erledigt werden mu?ten.

Am wichtigsten war der Stapel mit den Uberstundenabrechnungen seiner Leute. Ainslie zog ihn naher heran. »Schon, da? Sie wieder da sind, Sergeant«, begru?te ihn Detective Jose Garcia, dessen Schreibtisch neben seinem stand. »Freut mich, da? Sie das Wichtigste zuerst erledigen«, fugte er hinzu, als er die Uberstundenabrechnungen sah.

»Ich wei?, wie ihr Jungs arbeitet«, sagte Ainslie. »Immer darauf aus, ein paar Dollar mehr zu verdienen.«

Garcia spielte den Gekrankten. »Hey, wir mussen dafur sorgen, da? unsere Kinder nicht verhungern.«

Tatsachlich brauchten die Kriminalbeamten ihre Uberstunden, um finanziell uber die Runden zu kommen. Obwohl die Beforderung zum Detective begehrt war, weil nur die Besten und Intelligentesten genommen wurden, war damit bei der Miami Police paradoxerweise keine Gehaltserhohung verbunden. Ein Kriminalbeamter mit regularer Vierzigstundenwoche verdiente im Durchschnitt achthundertachtzig Dollar und mu?te davon noch Steuern zahlen; zwanzig Uberstunden brachten ihm zusatzlich sechshundertsechzig Dollar pro Woche ein. Aber der Preis dafur war hoch: Fur irgendein Privatleben blieb praktisch keine Zeit mehr.

Jede Uberstunde wurde jedoch pedantisch genau aufgefuhrt und vom Sergeant des jeweiligen Ermittlerteams abgezeichnet -eine zeitraubende Arbeit, die Ainslie jetzt ungeduldig erledigte.

Dann kamen die halbjahrlichen Beurteilungen aller Kriminalbeamten seines Teams, die er mit der Hand schrieb, damit eine Sekretarin sie abtippen konnte. Und zuletzt weitere Berge von Papier: Berichte uber laufende Ermittlungen, auch in neuen Fallen, die er wenigstens lesen und abzeichnen mu?te, falls nicht auch etwas zu veranlassen war.

»Manchmal«, beschwerte er sich bei Sergeant Pablo Greene, »komme ich mir wie ein kleiner Burogehilfe in einem Roman von Charles Dickens vor.«

»Das liegt daran, da? wir uns alle fur Scrooge totarbeiten«, antwortete Greene.

Deshalb fand Ainslie erst am spaten Nachmittag des ersten Tages nach seiner Ruckkehr Zeit, sich mit dem Fall Doil zu befassen. Er ging mit der Tonbandkassette zu Newbold.

»Was hat Sie so lange aufgehalten?« fragte der Lieutenant. »Nein, erzahlen Sie's mir lieber nicht.«

Wahrend Ainslie das Tonbandgerat einschaltete, wies Newbold seine Sekretarin an, nur dringende Anrufe durchzustellen, und schlo? die Burotur. »Ich bin gespannt, was Sie mitgebracht haben.«

Ainslie spielte die gesamte Aufnahme ab - von der Sekunde an, in der er sein Gerat in dem kahlen kleinen Buro nahe der Hinrichtungskammer eingeschaltet hatte. Nach kurzer Pause war zu horen, wie die Tur geoffnet wurde, als Lieutenant Hambrick zuruckkam und zwei Gefangniswarter den kahlgeschorenen Elroy Doil in Hand- und Fu?fesseln hereinfuhrten, mit Pater Ray Uxbridge am Ende dieser kleinen Prozession. Ainslie murmelte

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