Am anderen Ende herrschte Schweigen. Dann kam ein Klicken, als der Anrufer auflegte.
11
Jessica hatte sehr bald nach dem Aufwachen in dieser dunklen Hutte in Sion gemerkt, da? sie in der Not die Fuhrung dieses Trios ubernehmen und ihre Leidensgenossen trosten und ermutigen mu?te. Denn beides, eine gewisse Fuhrung und die Ermutigung waren fur alle drei uberlebensnotwendig, wahrend sie auf Rettung warteten und hofften. Die Alternative war abgrundtiefe Verzweiflung, die schlie?lich zu einer emotionalen Unterwerfung fuhrte, die sie alle zerstoren konnte.
Angus war mutig, aber zu schwach und zu alt, um die Fuhrung ubernehmen zu konnen, und wurde letztlich immer auf Jessicas Starke angewiesen sein. Doch Jessicas erste Sorge galt, wie immer, Nicky.
Wenn sie diesen Alptraum heil uberstanden, und Jessica weigerte sich, an etwas anderes zu denken, bestand doch die Gefahr, da? bei ihm seelische Narben zuruckblieben. Jessica wollte dafur sorgen, da? dies nicht geschah, gleichgultig, welche Qualen und welche Entbehrungen noch vor ihnen liegen sollten. Sie wollte Nicky, und, wenn notig, auch Angus zeigen, wie man vor allem seine Wurde und Selbstachtung bewahrte.
Sie wu?te auch, wie. Schlie?lich hatte sie einen Kurs besucht, was manche ihrer Freundinnen als Schrulle abgetan hatten. Dabei hatte sie es nur getan, weil Crawford, der den Kurs eigentlich hatte besuchen sollen, keine Zeit hatte, denn sie hatte das Gefuhl, da? wenigstens einer in der Familie es tun sollte.
Brigadier Cedric Wade, MC, DMC, war im Koreakrieg Sergeant der britischen Armee und spater Offizier der Elitetruppe SAS. Seit seiner Pensionierung lebte er in New York, wo er fur kleine Gruppen von Interessenten Antiterror-Kurse veranstaltete. Sein Ruf war so gut, da? sogar die amerikanische Armee ihm manchmal Schuler schickte.
Im Jahr 1951 wurde Sergeant Wade von den Streitkraften Nordkoreas gefangengenommen und neuneinhalb Monate in einem Erdloch von etwa drei Metern im Quadrat in Einzelhaft gehalten. Uber seinem Kopf hatte er nur ein fest verankertes Gitter, das weder Schutz gegen die Sonne noch gegen den Regen bot. Wahrend seiner ganzen Gefangenschaft durfte er dieses Loch kein einziges Mal verlassen. Unterhalten konnte er sich, wenn uberhaupt, nur mit seinen Bewachern, er hatte nichts zu lesen und sah nichts als den Himmel uber sich.
Bei einer seiner Vorlesungen erzahlte er von dieser Erfahrung mit ruhigen Worten, an die sich Jessica noch ganz genau erinnerte:
Er habe sich die Selbstachtung bewahrt, erzahlte Brigadier Wade seinen Schulern, indem er sich selbst ein Mindestma? an Normalitat und Ordnung auferlegte. Zunachst wies er jeder Ecke seiner Zelle eine andere Funktion zu. Als erstes die unangenehmste: Er hatte keine andere Wahl, als sich in seiner Zelle zu entleeren. Also reservierte er eine Ecke fur diesen Zweck und achtete streng darauf, da? er keine andere beschmutzte.
In der gegenuberliegenden Ecke a? er die karge Nahrung, die man ihm hinunterreichte. In der dritten Ecke schlief und in der vierten meditierte er. Die Mitte der Zelle war fur gymnastische Ubungen wie etwa Laufen auf der Stelle vorbehalten, die er dreimal taglich absolvierte.
Taglich erhielt er eine Ration Trinkwasser, jedoch keins zum Waschen. Deshalb behielt er von dem Trinkwasser immer ein wenig zuruck, um sich damit zu waschen. »Es
Nach neun Monaten nutzte Sergeant Wade die Unaufmerksamkeit seiner Wachen aus und floh. Drei Tage spater wurde er wieder eingefangen und in seine Zelle zuruckgebracht, aber nach weniger als zwei Wochen nahmen die amerikanischen Streitkrafte den nordkoreanischen Stutzpunkt ein und befreiten ihn. Er schlo? damals Freundschaften, die ihn viel spater, nach der Pens ionierung, zu seiner Ubersiedelung in die Vereinigten Staaten bewegten.
Doch Brigadier Wade hatte Jessica noch etwas anderes beigebracht: CQB, diese spezielle Technik des waffenlosen Nahkampfs, mit der auch schwache, leichtgewichtige Personen einen bewaffneten Angreifer entwaffnen und ihn entweder blenden oder ihm einen Arm, ein Bein und, wenn notig, auch das Genick brechen konnten. Jessica war damals eine geschickte, schnell lernende Schulerin gewesen.
Seit ihrer Ankunft als Gefangene in Peru hatten sich ihr schon mehrfach Gelegenheiten zur Anwendung dieser CQB-Technik geboten, doch hatte sie sich bis jetzt zuruckgehalten, da sie wu?te, da? sie bei einem zu ubersturzten Handeln nur verlieren konnte. Sie wollte diese Kunst lieber geheimhalten bis zu dem Augenblick - falls der je eintrat -, da es fur sie entscheidend werden konnte.
Doch eine solche Gelegenheit hatte es in Nueva Esperanza noch nicht gegeben. Es war auch nicht sehr wahrscheinlich, da? es eine geben wurde.
Diese entsetzlichen ersten Minuten, nachdem sie alle drei in getrennte Kafige geworfen wurden und Jessica die Tranen in die Augen schossen, weil sie Nicky weinen horte, waren eine Zeit der Verzweiflung und des Leids, gegen die man auch mit den besten Absichten nichts ausrichten konnte. Jessica hatte, wie die anderen, dieser Verzweiflung nachgegeben.
Aber nicht lange.
Nach etwa zehn Minuten rief Jessica leise: »Nicky, kannst du mich horen?«
Bald kam gedampft die Antwort: »Ja, Mom.« Dann horte Jessica, wie Nicky sich dem Gitternetz zwischen ihren Zellen naherte. Ihre Augen hatten sich an das Halbdunkel gewohnt, sie konnten sich sehen, aber nicht beruhren.
»Bist du in Ordnung?« fragte Jessica.
»Ich glaube schon.« Dann, mit zitternder Stimme: »Aber ich mag nicht hiersein.«
»Ach Liebling, ich auch nicht. Aber wir mussen durchhalten, bis wir etwas tun konnen. Denk immer daran, da? dein Vater und viele andere nach dir suchen.« Jessica hoffte, da? ihre Stimme aufmunternd klang.
»Ich kann dich horen, Jessie. Und dich auch, Nicky.« Es war Angus, der aus der Zelle hinter der Nickys sprach, doch seine Stimme klang schwach. »Du mu?t nur immer daran glauben, da? wir alle von hier wegkommen. Und wir werden wegkommen.«
»Versuche, etwas zu schlafen, Angus.« Jessica dachte an die Prugel, die ihr Schwiegervater in der Hutte in Sion von Miguel bezogen hatte, an den zermurbenden Marsch durch den Dschungel, an Angus' Sturz, die lange Bootsfahrt und schlie?lich seinen Kampf hier.
Wahrend sie sprach, war plotzlich ein Scharren von Fu?en zu horen, und eine Gestalt kam aus dem Schatten auf die Zellen zu. Es war einer der Bewaffneten, die sie auf dem Marsch begleitet hatten, ein kraftiger Mann mit einem Schnurrbart, Ramon, wie sie spater erfahren sollten.
Er zielte mit seiner Kalaschnikow auf Jessica und befahl:
Jessica wollte protestieren, horte aber dann Angus' leise Stimme: »Nicht, Jessica!« Sie beherrschte sich, und alle schwiegen. Nach einer Weile senkte der Mann die Waffe und kehrte zu seinem Stuhl zuruck.
Es war ihr erstes Erlebnis mit einem der bewaffneten Warter, die sich von nun an standig in der Hutte aufhielten und sich im Vierstundenrhythmus abwechselten.
Sie fanden sehr schnell heraus, da? die Wachen nicht alle gleich streng waren. Der freundlichste war Vincente, der Mann, der Nicky auf dem Lastwagen geholfen und ihnen, auf Miguels Befehl, die Fesseln durchschnitten hatte. Er lie? sie reden, so viel sie wollten, solange sie es nur leise taten. Ramon war der strengste, er verbot jede Unterhaltung, und die anderen Warter standen zwischen den beiden Extremen.
Wenn sie reden konnten, erzahlte Jessica Nicky und Angus, was sie in dem Antiterror-Kurs gelernt hatte. Ausfuhrlich berichtete sie von Brigadier Wades' Gefangenschaft und den Regeln, die er aufgestellt hatte. Nicky schien fasziniert von der Geschichte, wahrscheinlich lenkte sie ihn von der Monotonie und der Enge ab. Es war eine grausame Einschrankung fur einen aktiven und hochintelligenten Elfjahrigen, und er fragte immer wieder: »Mom, was glaubst du, was Dad gerade macht, um uns hier rauszuholen?«
Jessica versuchte immer, sehr fantasievoll zu antworten. Einmal sagte sie: »Dein Vater kennt so viele Leute, und er wird sie sicher alle um Hilfe bitten. Er hat ganz bestimmt schon mit dem Prasidenten gesprochen, der viele
