Leute mobilisieren kann, um uns zu suchen.«

Auch wenn das stimmte, war es doch ein Ausdruck der Eitelkeit, der Jessica unter normalen Umstanden nie uber die Lippen gekommen ware. Doch solange es Nicky wieder Hoffnung gab, war das gleichgultig.

Jessica spornte die anderen an, Brigadier Wades Regeln zu befolgen, so gut es eben ging. Bei der Benutzung der provisorischen Toiletten respektierten sie jeweils die Intimsphare des anderen, indem sie sich abwandten, wenn einer sie benutzte. Am zweiten Tag begannen sie, unter Jessicas Anleitung, mit gymnastischen Ubungen.

Wahrend der folgenden Tage entstand so ein zwar elendes, aber regelma?iges Lebensmuster. Dreimal taglich erhielten sie eine unappetitliche, fettige Mahlzeit, vorwiegend Cassava, Reis und Nudeln. Am ersten Tag konnte Nicky das sauerlich schmeckende Fett nur muhsam hinunterwurgen, und auch Jessica hatte sich beinahe ubergeben. Jeden zweiten Tag wurden die stinkenden Toilettenkubel von einer Indianerin geleert. Wenn sie uberhaupt ausgewaschen wurden, dann nur oberflachlich, denn wenn die Frau sie zuruckbrachte, stanken sie fast genauso schlimm wie zuvor. Trinkwasser erhielten sie in gebrauchten Limonadenflaschen, und manchmal gab es auch Schusseln und Waschwasser. Mit Handzeichen warnten die Wachen sie davor, das schlammig braune Waschwasser zu trinken.

Nickys Stimmung war zwar nicht die beste, blieb aber zumindest stabil, und das war Jessica sehr wichtig. Nachdem er den ersten Schock uberwunden hatte, zeigte er sich erstaunlich widerstandsfahig. Jessica, die in New York im freiwilligen Sozialdienst fur bedurftige Familien arbeitete, hatte festgestellt, da? Kinder mit dem Elend oft besser fertigwurden als Erwachsene. Wahrscheinlich, so dachte sie, weil Kinder weniger kompliziert und ehrlicher dachten, oder vielleicht, weil Kinder geistig erwachsen wurden, wenn sie in Not gerieten. Nicky auf jeden Fall wurde, aus welchem Grund auch immer, ganz offensichtlich mit der Situation fertig.

Er versuchte, sich mit den Wachen zu unterhalten. Nickys Spanisch war zwar nur sehr rudimentar, doch wenn seine Gesprachspartner Geduld und Bereitschaft zeigten, gelang es ihm, einiges zu erfahren. Vincente war ihm am zugewandtesten.

Von Vincente erfuhren sie auch von der bevorstehenden Abreise des »Doktors«, also vermutlich des Mannes, den Jessica Narbengesicht nannte. Er gehe »heim nach Lima«, erzahlte Vincente. Doch die »Krankenschwester« bleibe, und damit meinte er die Frau mit dem murrischen Gesicht, die sie unter dem Namen Socorro kannten.

Sie unterhielten sich daruber, warum Vincente anders und offenbar freundlicher war als die restlichen Wachen. Doch Jessica warnte Nicky und Angus vor zuviel Zutrauen. »So anders ist der gar nicht. Vincente ist immer noch einer von denen, die uns hierhergebracht haben und uns gefangenhalten -das durfen wir nie vergessen. Aber er ist nicht so gemein und rucksichtslos wie die anderen, und deshalb wirkt er im Vergleich freundlicher.«

Es gab noch einige andere Aspekte dieses Themas, uber die Jessica gern gesprochen hatte, aber sie beschlo?, sich das fur spater aufzuheben. Im Augenblick fugte sie nur hinzu: »Aber weil Vincente nun mal so ist, sollten wir es zu unserem Vorteil ausnutzen.«

Auf Jessicas Anregung fragte Nicky Vincente, ob die Gefangenen ihre Zellen verlassen und an die Luft gehen durften. Vincente schuttelte nur den Kopf, doch es war nicht klar, ob das nein hie? oder ob er die Frage nicht verstanden hatte. Jessica blieb beharrlich und lie? Nicky fragen, ob Vincente Socorro die Nachricht uberbringen konne, da? die Gefangenen sie sehen wollten. Nicky tat sein moglichstes, doch ein erneutes Kopfschutteln lie? wenig Hoffnung, da? die Nachricht

uberbracht wurde.

Nickys relativer Erfolg mit der Sprache uberraschte Jessica, da er erst seit wenigen Wochen in der Schule Spanischunterricht hatte. Als sie es erwahnte, erzahlte Nicky, da? zwei seiner Freunde kubanische Immigranten seien, die im Pausenhof immer Spanisch redeten. »Ein paar von uns horen zu, und wir schnappen einiges auf...« Nicky unterbrach sich und kicherte. »Das wird dir zwar gar nicht gefallen, Mom, aber die kennen alle schmutzigen Worter. Und die haben sie uns beigebracht.«

Angus, der zugehort hatte, fragte nun: »Hast du auch ein paar richtig gemeine Schimpfworter gelernt?«

»Aber klar doch, Gramps.«

»Bringst du sie mir bei? Damit ich sie den Kerlen hier an den Kopf werfen kann, wenn's notig ist.«

»Ich glaube, Mom hat da etwas dagegen.«

»Mach' nur«, sagte Jessica. »Ich hab' nichts dagegen.« Nickys Lachen war wunderbar gewesen.

»Also gut, Gramps. Wenn du zu jemand so richtig gemein sein willst, sagst du...« Nicky ging zur gegenuberliegenden Zellenwand und tuschelte durch das Maschengitter hindurch mit seinem Gro?vater.

Auf diese Weise hatten sie einen neuen Zeitvertreib gefunden, dachte Jessica.

Spater an diesem Tag kam Socorro, sie hatte die Nachricht also doch erhalten.

Ihr schlanker, geschmeidiger Korper zeichnete sich als Silhouette unter der Tur ab. Sie musterte die drei Zellen und rumpfte uber den durchdringenden Gestank die Nase.

Ohne langes Zogern sprach Jessica sie an. »Socorro, wir wissen, da? Sie Krankenschwester sind. Deshalb haben Sie uns die Fesseln abnehmen lassen und uns die Schokolade gegeben.«

»Keine Krankenschwester, nur Schwesternhelferin«, erwiderte Socorro murrisch. Mit verkniffenen Lippen naherte sie sich den Zellen.

»Das ist gleichgultig, zumindest hier«, sagte Jessica. »Da der Doktor geht, sind Sie die einzige, die uber Medizin Bescheid wei?.«

»Kommen Sie mir blo? nicht so, ich werde Ihnen nicht helfen. Sie wollten mich sehen. Warum?«

»Weil Sie schon einmal gezeigt haben, da? Sie um unser Leben und unsere Gesundheit besorgt sind. Aber wenn wir nicht einmal an die Luft kommen, werden wir alle krank.«

»Ihr mu?t in der Hutte bleiben. Sie wollen nicht, da? man euch sieht.«

»Warum nicht? Und wer ist >sie<?«

»Das geht Sie nichts an, Sie haben nicht das Recht, Fragen zu stellen.«

»Ich habe das Recht einer Mutter, mich um meinen Sohn zu kummern«, fuhr Jessica sie an. »Und mein Schwiegervater ist alt und wurde sehr brutal behandelt.«

»Das geschah ihm recht. Er redet zu viel. Und Sie auch.«

Jessica spurte, da? Socorros Feindseligkeit uber weite Strecken nur aufgesetzt war. Sie versuchte es mit einem Kompliment. »Ihr Englisch ist hervorragend. Sie mussen lange in Amerika gelebt haben.«

»Das geht Sie...« Socorro unterbrach sich und zuckte mit den Schultern. »Drei Jahre. Ich hasse Amerika. Es ist ein ekelhaftes, korruptes Land.«

»Ich glaube nicht, da? Sie das wirklich denken«, erwiderte Jessica leise. »Ich glaube, man hat Sie gut behandelt, und jetzt haben Sie Schwierigkeiten, uns zu hassen.«

»Glauben Sie doch, was Sie wollen«, fauchte Socorro und ging weg. In der Tur drehte sie sich noch einmal um. »Ich werde versuchen, hier etwas zu luften.« Ihre Lippen zuckten, es sah beinahe aus wie ein Lacheln. »Es ist gesunder fur die Wachen.«

Am nachsten Tag kamen zwei Manner mit Werkzeugen. Sie schnitten Fenster aus der Wand gegenuber den Zellen. Das Halbdunkel wich dem Tageslicht, und nun konnten sich die drei Gefangenen untereinander und auch die Wachter klar sehen. Es entstand auch ein Luftzug, der den Gestank zwar nicht ganz vertrieb, aber doch betrachtlich minderte.

Diese Fenster waren ein Sieg fur Jessica und auch, dachte sie, ein Hinweis darauf, da? Socorro unter der Oberflache gar nicht so feindselig war, wie sie wirkte - eine Schwache, die man spater vielleicht noch nachhaltiger ausnutzen konnte.

Aber dieser Licht-und-Luft-Erfolg war nur ein kleiner Sieg, und es sollte sich zeigen, da? sie noch viel schlimmere Qualen wurden ertragen mussen. Eine davon wurde bereits vorbereitet, ohne da? Jessica es ahnte.

12

Sechs Tage nach der Ankunft in Nueva Esperanza erhielt Miguel eine Reihe von schriftlichen Befehlen vom Sendero Luminoso aus Ayacucho. Uberbracht wurden sie von einem Boten in einem Lastwagen, der fur die funfhundert Meilen zwei Tage brauchte und eine morderische Fahrt uber gefahrliche Bergpasse und sumpfige Dschungelpisten hinter sich hatte. Neben den Befehlen brachte er auch einige spezielle Gerate.

Die wichtigste Instruktion betraf die Aufnahme einer Videocassette mit der gefangenen Frau. Der Text, den

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