hinein. Als sie die vier versengten Stellen sah, schnalzte sie leise mit der Zunge, drehte sich um und verlie? die Zelle. Die Wache sah ihr nach.
»Kommen Sie wieder?« rief Jessica ihr nach.
Einen Augenblick sah es so aus, als wollte Socorro wieder nur eine barsche Antwort geben. Doch dann nickte sie knapp und ging. Wenige Minuten spater kehrte sie mit einer Schussel, einem Krug Wasser und gefalteten Tuchern und Kompressen zuruck.
Jessica sah durch das Maschengitter zu, wie Socorro vorsichtig die Wunden mit Wasser auswusch. Nicky zuckte dabei zusammen, doch er schrie nicht. Socorro trocknete die Stellen mit einem Tuch und legte Kompressen daruber, die sie mit Heftpflaster befestigte.
»Danke«, sagte Jessica erschopft. »Sie machen das sehr gut. Darf ich fragen... «
»Es sind Verbrennungen zweiten Grades, sie werden heilen. In ein paar Tagen nehme ich den Verband wieder ab.«
»Konnen Sie etwas gegen die Schmerzen tun?«
»Das hier ist kein Krankenhaus. Er mu? sie ertragen.« Socorro wandte sich Nicky zu, ihre Stimme klang gereizt, sie lachelte nicht. »Heute mu?t du still liegenbleiben, Junge. Morgen tut's dann schon nicht mehr so weh.«
Jessica versuchte es mit einer letzten Bitte. »Darf ich zu ihm, bitte? Er ist doch erst elf, und ich bin seine Mutter. Konnen wir denn nicht Zusammensein, wenigstens die nachsten paar Stunden?«
»Ich habe Miguel gefragt. Aber er sagt nein.« Sekunden spater war Socorro verschwunden.
Nach einer Weile sagte Angus leise. »Wenn ich nur etwas fur dich tun konnte, Nicky. Das Leben ist ungerecht. Du hast das alles nicht verdient.«
Eine Pause. Und dann: »Gramps?«
»Ja, mein Sohn?«
»Es gibt schon etwas.«
»Das ich tun kann? Was denn?«
»Erzahl mir von diesen alten Liedern. Und sing mir eins vor.«
Angus traten die Tranen in die Augen. Fur diese Bitte brauchte es keine Erklarung.
Alles, was mit Liedern und Musik zu tun hatte, faszinierte Nicky, und an manchen Sommerabenden in dem Haus am See, das die Sloanes in der Nahe von Johnstown in Upstate New York besa?en, sa?en Gro?vater und Enkel beieinander und horten Lieder aus dem Zweiten Weltkrieg, die damals Angus und anderen seiner Generation in schwierigen Zeiten Trost gespendet hatten. Nicky konnte nie genug davon bekommen, und Angus versuchte nun, sich Worte und Satze ins Gedachtnis zu rufen, die er fruher schon zu Nicky gesagt hatte. »Wir Flieger huteten unsere achtundsiebziger Platten wie unseren Augapfel... Diese Achtundsiebziger gibt's schon lange nicht mehr... Ich wette, du hast noch nie eine gesehen... «
»Einmal schon. Der Vater von einem Freund von mir hat welche.«
Angus lachelte. Beide wu?ten, da? ein ahnlicher Dialog schon vor einigen Monaten stattgefunden hatte.
»Na, auf jeden Fall nahmen wir diese Platten von Stutzpunkt zu Stutzpunkt mit, und weil sie so zerbrechlich waren, vertraute keiner sie einem anderen an. Aus jedem BOQ - so hie?en die Quartiere fur die ledigen Offiziere - drang die Musik der Bigbands: Benny Goodman, Tommy Dorsey, Glenn Miller. Und die Sanger waren der junge Frank Sinatra, Ray Eberle, Dick Haymes. Wir haben deren Lieder gehort und sie unter der Dusche nachgesungen.«
»Sing' eins, Gramps.«
»Mein Gott, ich wei? nicht, ob ich das noch kann. Meine Stimme wird langsam alt.«
»Versuch's, Angus!« drangte ihn Jessica. »Wenn ich kann, sing' ich mit.«
Er suchte in seiner Erinnerung. Welches Lied hatte Nicky immer ganz besonders gemocht? Dann fiel es ihm ein - ja, das war es. Er holte Atem und begann, doch nicht ohne zuvor der Wache einen fluchtigen Blick zuzuwerfen, weil er sich fragte, ob der Mann auf dem Schweigegebot bestehen wurde.
Fruher hatte Angus eine gute Singstimme besessen, doch nun war sie abgenutzt und zittrig wie er selber auch. Aber den Text hatte er noch deutlich in Erinnerung...
Jessica stimmte mit ein, die Worte tauchten plotzlich in ihrem Gedachtnis auf. Einen Augenblick spater kam auch Nickys junger Tenor mit dazu.
Die Jahre fielen von Angus ab. Jessica fa?te wieder Mut. Und Nicky verga? seine Schmerzen.
13
Als Harry Partridge am Mittwochnachmittag seine Entscheidung, gleich am nachsten Morgen nach Peru zu fliegen, bekanntgab, verfiel die Spezialeinheit von CBA News in hektische Betriebsamkeit.
Partridges zweite Entscheidung - sechsunddrei?ig Stunden nach seinem Abflug mit samtlichen Informationen an die Offentlichkeit zu gehen - hatte eine ganze Reihe von Konferenzen und Beratungen zur Folge, in denen ein Prioriatenprogramm fur die nachsten drei Tage aufgestellt wurde.
Zuallererst mu?te noch in dieser Nacht ein Bericht fur die Freitagssendung der National Evening News geschrieben und teilweise auch aufgenommen werden, ein Bericht, den Partridge noch selbst moderieren wollte. Er sollte alles enthalten, was bis jetzt uber die Sloane-Entfuhrung bekannt war, also auch die letzten Informationen uber Peru und den Sendero Luminoso; uber die Rolle des Terroristen Ulises Rodriguez als vermutlichen Anfuhrer; uber die Sarge und den Leichenbestatter Alberto Godoy; uber die American-Amazonas Bank und den mysteriosen Tod von Helga Efferen und Jose Antonio Salaverry.
Doch vor Beginn all dieser Vorbereitungen suchte Harry Partridge Crawford Sloane in dessen Buro im dritten Stock auf. Denn Partridge war noch immer der Uberzeugung, da? Sloane einer der ersten sein sollte, die von neuen Entwicklungen oder Planen erfuhren.
Seit der Entfuhrung vor dreizehn Tagen hatte Crawford Sloane weitergearbeitet, obwohl man manchmal den Eindruck hatte, er wurde nur die Zeit absitzen, ohne mit Herz und Verstand bei der Arbeit zu sein. An diesem Tag sah er noch eingefallener aus als sonst, seine Augen wirkten mude und die Falten in seinem Gesicht noch tiefer als vor ein paar Tagen. Er unterhielt sich gerade mit einer Texterin und einem Produzenten und blickte auf, als Partridge erschien. »Du willst mit mir reden, Harry?«
Als Partridge nickte, bat Sloane die anderen beiden: »La?t uns doch bitte alleine. Wir besprechen das dann spater.«
Sloane winkte Partridge zu einem Stuhl. »Du machst ein ernstes Gesicht. Schlechte Nachrichten?«
»Ich furchte ja. Wir haben herausgefunden, da? deine Familie nicht mehr im Land ist. Sie werden in Peru gefangengehalten.«
Sloane beugte sich vor, er stutzte die Ellbogen auf den Tisch und, strich sich mit den Handen uber das Gesicht, bevor er erwiderte: »Ich habe so etwas schon erwartet - genauer gesagt, befurchtet. Wei?t du, wer sie gefangenhalt?«
»Wir glauben der Sendero Luminoso.«
»O Gott! Nicht diese Fanatiker!«
»Ich fliege morgen nach Lima, Crawf.«
»Ich komme mit!«
