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Der Learjet war noch ein Stunde von Bogota entfernt, und Harry Partridge sank langsam wieder in den Schlaf. Vergangenheit und Gegenwart vermischten sich... Gemma und Jessica wurden eins... Gemma-Jessica... Jessica-Gemma... Auch wenn es fast unmoglich schien, er wurde sie finden und sie zuruckbringen... Irgendwie wurde er sie retten.
Er schlief ein.
Als er wieder aufwachte, befand sich der Lear bereits auf dem Landeanflug nach Bogota.
2
Die Kontraste, die Lima bot, dachte Harry Partridge, waren so kra? und so erschreckend deutlich wie die politischen und okonomischen Krisen und Konflikte, die ganz Peru auf eine schmerzliche, oft grausame Weise zerrissen.
Die trockene, riesig wuchernde Hauptstadt zerfallt in verschiedene Teile, von protzigem Reichtum die einen, von erbarmlichster Armut die anderen, und zwischen beiden Extremen fliegt der Ha? hin und her wie vergiftete Pfeile. Im Gegensatz zu fast allen anderen Stadten, die Partridge kannte, gab es in Lima keinen neutralen Boden. Die reichen Viertel mit ihren grandiosen Palasten und ihren gepflegten Garten lagen direkt neben den Elendsvierteln, den sogenannten
Den meisten der in Verschlagen aus Karton zusammengepferchten »Habenichtse« stand das Elend deutlich im Gesicht geschrieben, und ihre stumpfen Augen blickten so voller Ha?, da? Partridge bei fruheren Besuchen das Gefuhl gehabt hatte, hier gart eine Revolution. Und alles, was er jetzt, an seinem ersten Tag in der Stadt, sah, schien darauf hinzudeuten, da? es jeden Augenblick zu irgendeiner Form von Aufstand kommen konnte.
Um 12 Uhr 40 waren Partridge, Minh Van Canh und Ken O'Hara auf dem Jorge Chavez Airport in Lima gelandet. Fernandez Pabur, der Kontaktmann von CBA in Peru, hatte sie vom Flughafen abgeholt.
Er hatte sie an den anderen Passagieren vorbei durch die Zoll-und Pa?kontrolle geschleust - offensichtlich hatten zuvor gewisse Geldbetrage den Besitzer gewechselt - und sie anschlie?end zu einem Ford Kombi mit Fahrer begleitet.
Fernandez war kraftig und schwarzhaarig, von dunkler Gesichtsfarbe und mit seinen etwa funfunddrei?ig Jahren ein Energiebundel. Seine vorstehenden Zahne unter den wulstigen Lippen hatte er standig gebleckt, was er wohl fur ein strahlendes Lacheln hielt. Es wirkte zwar falsch und aufgesetzt, aber Partridge war das gleichgultig. Er mochte Fernandez, den er noch von fruher kannte, denn der wu?te stets, was notig war, und er konnte es auch beschaffen.
So hatte er zum Beispiel fur Partridge eine Suite in dem eleganten Funf-Sterne-Hotel Caesar's in Miraflores und auch fur die anderen beiden gute Zimmer besorgt.
Wahrend Partridge sich wusch und ein frisches Hemd anzog, telefonierte Fernandez in der Hotelhalle, um auf Partridges Bitte ein erstes Treffen zu vereinbaren. Der Gesprachspartner war ein alter Bekannter, Sergio Hurtado, Nachrichtenredakteur und Sprecher von Radio Anden.
Ein Stunde spater sa?en der Radioreporter und Partridge in einem kleinen Sendestudio, das auch als Buro diente.
»Harry, mein Freund, ich habe leider nur schlimme Nachrichten«, sagte Sergio auf eine Frage von Partridge. »In unserem Land ist das Gesetz au?er Kraft. Die Demokratie ist nicht einmal mehr eine Fassade, nein, sie existiert nicht mehr. Wir sind in jeder Hinsicht bankrott. Politisch motivierte Massaker sind an der Tagesordnung. Da sind diese privaten Todesschwadronen der Prasidentenpartei; Leute verschwinden einfach. Wir sind einem Blutbad naher als je zuvor in der Geschichte Perus. Ich wunschte mir, da? das alles nicht wahr ware. Aber leider ist es so!«
Obwohl sie aus einem grotesk verfetteten Korper kam, war die tiefe, wohlklingende Stimme so unwiderstehlich und uberzeugend wie immer, bemerkte Partridge. So war es auch gar nicht verwunderlich, da? Sergio das gro?te Publikum des Landes hatte, denn das Radio war noch immer das am meisten verbreitete Nachrichtenmedium, wichtiger und einflu?reicher als das Fernsehen. Fernsehpublikum gab es nur unter den Wohlhabenden in den gro?eren Stadten.
Sergios Stuhl achzte, als er seine Fleischmassen bewegte. Die Fettwulste an Wangen und Kinn wirkten wie riesige Wurste. Die Augen, die uber die Jahre immer weiter zurucktraten, wahrend das Gesicht aufschwemmte, waren nun nur noch Schweinsauglein. Aber mit seinem Verstand war alles in Ordnung, und auch seine hervorragende amerikanische Ausbildung, inklusive Harvard, hatte nicht gelitten. Sergio hatte es, wie viele lateinamerikanische Kollegen, gern, wenn Reporter aus den Vereinigten Staaten ihn besuchten, denn er legte Wert auf ihre umfassenden Informationen und ihre fundierten Meinungen.
Nachdem die beiden vereinbart hatten, da? ihre Unterhaltung bis zum folgenden Abend vertraulich behandelt wurde, berichtete Partridge uber die bisherigen Entwicklungen in der Entfuhrungsgeschichte und fragte dann: »Hast du Informationen fur mich? Hast du irgend etwas gehort, das mir weiterhelfen konnte?«
Der Radioreporter schuttelte den Kopf. »Ich habe nichts gehort, aber das ist auch nicht uberraschend. Uber den Sendero erfahrt man kaum etwas, vor allem, weil sie alle umbringen, die plaudern; wer am Leben bleiben will, halt deshalb den Mund. Aber ich will dir helfen, soweit ich das kann, indem ich meine Fuhler ausstrecke. Ich habe meine Quellen uberall.«
»Danke.«
»Und was eure Nachrichtensendung morgen abend angeht, ich werde mir via Satellit ein Band besorgen und es fur meine Zwecke umarbeiten. Aber wir haben ja auch selber genugend Schreckensmeldungen. Dieses Land geht in politischer und finanzieller, uberhaupt in jeder Hinsicht, den Bach hinunter.«
»Uber den Sendero Luminoso dringen sehr unterschiedliche Nachrichten zu uns. Werden sie wirklich starker?«
»Die Antwort ist ja - sie werden nicht nur jeden Tag starker, sondern kontrollieren auch immer gro?ere Teile des Landes, und deshalb ist deine Aufgabe sehr schwierig, um nicht zu sagen unmoglich. Angenommen, deine Entfuhrungsopfer sind wirklich hier, dann gibt es tausend abgelegene Flecken, wo sie versteckt sein konnten. Aber ich bin froh, da? du zuerst zu mir gekommen bist, weil ich dir einen Rat geben kann.«
»Und zwar?«
