Unterschied machte. Frage: Wie hoch war das Risiko, da? wegen der Veroffentlichung jemand getotet wurde? Antwort: Sehr gering, da eine tote Geisel wertlos ware. Frage: Da CBA die Entscheidung in ein oder zwei Tagen sowieso bekanntgeben mu?te, welchen Unterschied machte es, wenn sie etwas fruher veroffentlicht wurde? Antwort: Kaum einen. Frage: Da die Entscheidung durch Theo Elliotts Leichtfertigkeit bereits nach au?en gedrungen war und andere mit Sicherheit davon wu?ten, wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, da? die Offentlichkeit nichts davon erfuhr? Antwort: Sehr gering.

Am Ende formulierte der Chefredakteur das Ergebnis, zu dem sie beide gekommen waren: »Es gibt kein moralisches Problem. Der Artikel wird gedruckt!«

Die Geschichte wurde zum Aufmacher der Nachmittagsausgabe des Baltimore Star. Eine Balkenuberschrift verkundete rei?erisch:

CBA SAGT NEIN ZU SLOANE-ENTFUHRERN

Der Artikel, der unter Glen Dawsons Namen erschien, begann wie folgt:

CBA wird die Forderung der Sloane-Entfuhrer, die National Evening News eine Woche lange abzusetzen und dafur Propagandamaterial der peruanischen Maoistengruppe Sendero Luminoso zu senden, entschieden zuruckweisen.

Sendero Luminoso, der Leuchtende Pfad, hat zugegeben, die Entfuhrungsopfer an einem geheimen Ort in Peru gefangenzuhalten.

Theodore Elliott, der Vorsitzende und Hauptgeschaftsfuhrer von Globanic Industries, des Mutterkonzerns von CBA, erklarte heute: »Wir haben nicht die Absicht, uns von einem Haufen verruckter Kommunisten an die Wand drangen zu lassen.«

Wahrend eines Gesprachs in der Zentrale von Globanic in Pleasantville fugte er hinzu: »Wir denken uberhaupt nicht daran, das Material von diesem Leuchtenden Pfad auszustrahlen.«

Ein Reporter des Star war anwesend, als Elliott dies sagte.

Staatssekretar Alden Rhodes vom

Wirtschaftsministerium, der zu diesem Zeitpunkt Mr. Elliotts Gesprachspartner war, wollte auf Anfrage des Star keinen Kommentar abgeben, bemerkte jedoch: »Ich dachte, er wollte das geheimhalten.«

Leider gelang es nicht, von Mr. Elliott selbst zusatzliche Informationen zu erhalten.

»Mr. Elliott ist im Augenblick nicht zu sprechen«, erfuhr unser Reporter von Mrs. Diana Kessler, der Sekretarin des Vorsitzenden von Globanic. Als Antwort auf weitere

Fragen sagte Mrs. Kessler nur: »Mr. Elliott hat dazu weiter nichts zu sagen.«

Es kam noch mehr - vorwiegend Hintergrundinformationen uber die Geschichte der Entfuhrung.

Noch vor Auslieferung des Baltimore Star hatten auch die Pressagenturen die Geschichte, die alle den Star als Quelle angaben. Am Abend wurde der Star in allen Nachrichtensendungen zitiert, darunter auch von CBA, wo die vorzeitige Enthullung bei einigen Leuten helle Verzweiflung ausloste.

Am nachsten Morgen berichteten auch die peruanischen Medien, die der Entfuhrungsgeschichte hochste Aufmerksamkeit schenkten, uber die Enthullung, wobei sie besonders Theo Elliotts Beschreibung des Sendero Luminoso als »Haufen verruckter Kommunisten« - »grupo de Comunistas locos« - herausstellten.

6

»Ich mag Vincente«, sagte Nicky. »Er ist unser Freund.«

»Das glaube ich auch«, rief Angus aus seiner Zelle. Er lag auf der dunnen, fleckigen Matratze seiner Pritsche und vertrieb sich die Zeit mit der Beobachtung von zwei gro?en Kafern an der Wand.

»Das schlagt euch schleunigst aus dem Kopf«, zischte Jessica. »Hier irgend jemand zu mogen, ist dumm und naiv.«

Sie hielt inne und hatte sich am liebsten auf die Zunge gebissen. So harte Worte waren wirklich unnotig.

»Tut mir leid. Das ist mir einfach so rausgerutscht.«

Das Problem war, da? sie nach funfzehn Tagen Gefangenschaft in diesen winzigen Kafigen alle gereizt und mutlos waren. Jessica hatte zwar alles getan, um die Stimmung, wenn schon nicht hoch, dann wenigstens so zu halten, da? sie nicht in Verzweiflung umschlug. Sie hatte auch sehr darauf geachtet, da? keiner die tagliche Gymnastik vernachlassigte. Aber trotz ihres Bemuhens zeigten die fehlende Bewegungsfreiheit, die Monotonie und die Einsamkeit Wirkung.

Dazu kam noch, da? das fettige, fast ungenie?bare Essen ihre korperliche Konstitution weiterhin erheblich schwachte.

Und obwohl sie versuchten, sich regelma?ig zu waschen, waren sie meistens schmutzig, sie rochen schlecht und schwitzten, und die dreckigen Kleider klebten an ihren Korpern.

Es war ja schon und gut, dachte Jessica nun, sich immer wieder ins Gedachtnis zu rufen, da? ihr Antiterrorismus-Lehrer, Brigadier Wade, in seinem Erdloch in Korea schlimmer und langer gelitten hatte. Aber Cedric Wade war ein au?ergewohnlicher Mann, der damals in Kriegszeiten seinem Land diente. Doch hier war kein Krieg, an dem sie ihren Mut hatten aufrichten konnen. Sie waren nur Zivilisten, zufallige Opfer eines unbedeutenden Geplankels, Gefangene... zu welchem Zweck? Jessica wu?te es nicht.

Dennoch erinnerte sie der Gedanke an Brigadier Wade und Nickys und Angus' Bemerkungen uber Vincente an etwas, das sie von Wade gelernt hatte. Und jetzt schien ihr der Augenblick gunstig, um es zur Sprache zu bringen.

Sie sah sich angstlich nach dem diensthabenden Wachposten um und fragte leise: »Angus und Nicky, habt ihr schon einmal vom Stockholm-Syndrom gehort?«

»Ich glaube schon«, erwiderte Angus. »Aber ich bin nicht sicher.«

»Nicky?«

»Nein, Mom. Was ist das?«

Der Wachposten war derjenige, der manchmal in ComicHeften las; er schien auch jetzt in eins vertieft zu sein und nicht auf ihre Unterhaltung zu achten. Jessica wu?te au?erdem, da? er kein Englisch verstand.

»Ich werde es euch erzahlen«, sagte sie.

Sie erinnerte sich daran, was Brigadier Wade der kleinen Gruppe, zu der auch sie gehorte, erklart hatte: »Eins passiert fast immer in Entfuhrungssituationen, namlich da? zumindest ein paar der Opfer anfangen, die Terroristen zu mogen. Manchmal geht das sogar so weit, da? die Geiseln die Terroristen als ihre Freunde betrachten und die Polizei oder die Truppen, die sie retten wollen, als Feinde. Das ist das Stockholm- Syndrom.«

Da? das alles zutraf, fand Jessica spater durch zusatzliche Lekture bestatigt. Es hatte sie auch interessiert nachzulesen, wie dieses Phanomen zu seinem Namen gekommen war.

Nun versuchte sie, sich das wieder ins Gedachtnis zu rufen, und erzahlte dann die eigenartige Geschichte, wahrend Nicky und Angus interessiert zuhorten.

Es geschah in Stockholm am 23. August 1973.

Am Morgen dieses Tages betrat ein entflohener Strafling, der zweiunddrei?igjahrige Jan-Erik Olsson, die Sveriges Kreditbanken am Norrmalmstorg, einem Platz im Stadtzentrum. Olsson zog eine Maschinenpistole unter einer zusammengefalteten Jacke hervor und feuerte damit an die Decke. Beton und Glas regneten herab, unter den Anwesenden entstand eine Panik.

Das Martyrium, das darauf folgte, dauerte sechs Tage.

Naturlich wu?te damals keiner der Beteiligten, da? die Ereignisse dieser Tage zur Pragung des Begriffs »Stockholm -Syndrom« fuhren sollten - ein Begriff, der in medizinischen und wissenschaftlichen Fachkreisen ebenso gebrauchlich wurde wie Kaiserschnitt, Anorexie, Penisneid oder Alzheimersche Krankheit.

Olsson und ein jungerer Komplize, Clark Olofsson, nahmen drei Frauen und einen Mann, alles Bankangestellte, als Geiseln: Brigitta Lundblad, einunddrei?ig, eine hubsche Blondine; Kristin Ehnmark, dreiundzwanzig, sehr aufgeweckt und dunkelhaarig; Elisabeth Oldgren, einundzwanzig, klein, hubsch und sanft; sowie Sven Safstrom, funfundzwanzig, ein gro?er, schlanker Junggeselle. Einen Gro?teil der sechs Tage verbrachten die sechs im engen Tresorraum der Bank, von wo aus die Geiselgangster telefonisch ihre Bedingungen

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