stellten -drei Millionen Kronen in bar, zwei Pistolen und ein Fluchtauto.

Fur die Geiseln waren diese Tage eine Qual. Man zwang sie, mit Stricken um den Hals aufrecht zu stehen, so da? sie sich beim Umfallen selbst stranguliert hatten. Sie hatten permanent den Tod vor Augen, da ihnen die Geiselnehmer immer wieder die Maschinenpistolen in die Rippen stie?en. Funfzig Stunden lang waren sie ohne Nahrung. Abfallkorbe aus Plastik dienten als Toiletten. Klaustrophobie und Angst beherrschten die Stimmung im Tresorraum.

Doch mit der Zeit entstand zwischen Geiseln und Geiselnehmern eine eigenartige, enge Vertrautheit. Es gab eine Situation, in der Brigitta hatte fliehen konnen, es aber nicht tat. Kristin gelang es, der Polizei Informationen zuzuspielen, gestand aber spater ein: »Ich kam mir vor wie ein Verrater.« Sven, der mannliche Gefangene, beschrieb seine Wachter als »freundlich«. Elisabeth stimmte ihm zu.

Die Stockholmer Polizei, die einen Zermurbungskrieg fuhrte, um die Geiseln irgendwann befreien zu konnen, traf bei den Geiseln selbst auf Feindseligkeit. Kristin sagte am Telefon, da? sie den Bankraubern vertraue, und fugte hinzu: »Ich will, das Sie uns mit ihnen fluchten lassen... Sie haben uns sehr gut behandelt.« Uber Olsson sagte sie: »Er schutzt uns vor der Polizei.« Als man ihr sagte: »Die Polizei wird Ihnen nichts tun«, erwiderte sie: »Das glaube ich nicht.«

Spater wurde bekannt, da? Kristin mit dem jungeren Verbrecher, Olofsson, Handchen gehalten hatte. Einem Ermittlungsbeamten erzahlte sie: »Clark war zartlich zu mir.«

Als die Geiseln nach ihrer Befreiung auf Tragen zu einem Krankenwagen gebracht wurden, rief Kristin Olofsson zu: »Clark, wir sehen uns wieder.«

Bei der Untersuchung des Tresorraums wurden Samenspuren gefunden. Nach einer Woche intensiver Befragung gab eine der Frauen zu, eines Nachts, wahrend die anderen schliefen, Olsson beim Masturbieren geholfen zu haben, leugnete aber, mit ihm Verkehr gehabt zu haben. Die Polizei zweifelte zwar an der Aussage, ging der Angelegenheit aber nicht weiter nach.

Auf Fragen von Arzten bezeichneten die befreiten Geiseln die Polizei als »den Feind«. Sie glaubten, ihr Leben einzig und allein den Geiselnehmern zu verdanken. Elisabeth beschuldigte einen Arzt, er versuche ihr »mit einer Gehirnwasche« ihre Hochachtung vor Olsson und Olofsson zu nehmen.

1974, knapp ein halbes Jahr nach dem Geiseldrama, besuchte Brigitta Olofsson im Gefangnis und unterhielt sich eine halbe Stunde lang mit ihm.

Die mit dem Fall betrauten Arzte bezeichneten schlie?lich die Reaktion der Geiseln als typisch fur jemand in einer »Uberlebenssituation«. Sie zitierten Anna Freud, die eine solche Reaktion »Identifikation mit dem Angreifer« nennt. Aber erst dieses schwedische Drama gab dem Phanomen einen dauerhaften, einpragsamen Namen: Das Stockholm-Syndrom.

»He, das ist ja eine tolle Geschichte, Mom«, rief Nicky.

»Ich hab' das alles uberhaupt nicht gewu?t, Jessie«, fugte Angus hinzu.

»Wei?t du noch mehr solche Sachen?« fragte Nicky.

Jessica freute sich uber die Reaktion. »Ein paar schon.«

Sie dachte wieder an Brigadier Wade. »Ich mochte Ihnen zwei Ratschlage geben«, hatte er eines Tages vor seiner Klasse gesagt. »Erstens, wenn Sie Gefangene oder Geiseln sind: Huten Sie sich vor dem Stockholm-Syndrom! Zweitens, wenn Sie es mit Terroristen zu tun haben, vergessen Sie nie, da? >Liebe deine Feinde< absoluter Unsinn ist. Aber andererseits durfen Sie weder Zeit noch Kraft daran verschwenden, die Terroristen zu hassen, denn Ha? ist eine unnutze, kraftraubende Empfindung. Sie durfen ihnen nur keinen Augenblick vertrauen, geschweige denn Sympathie fur sie empfinden, sondern Sie mussen sie immer als Feind betrachten.«

Jessica gab diese Ratschlage nun an Angus und Nicky weiter. Dann erzahlte sie von Flugzeugentfuhrungen, bei denen die Geiseln Sympathien fur ihre Angreifer entwickelt hatten. Das war zum Beispiel bei dem beruchtigten TWA Flug 847 im Jahr 1985 der Fall, als einige Passagiere von ihren schiitischen Entfuhrern so angetan waren, da? sie deren politische Parolen ubernahmen.

In jungster Zeit, fuhr Jessica fort, habe eine befreite Geisel aus dem Mittleren Osten - eine armselige Gestalt, die ganz offensichtlich dem Stockholm-Syndrom zum Opfer gefallen war - sogar Botschaften der Geiselnehmer an den Papst und den amerikanischen Prasidenten uberbracht. Die Sache habe zwar gro?es Aufsehen erregt, der Inhalt der Botschaften sei jedoch nie veroffentlicht worden. Inoffiziell sei von banalen und bedeutungslosen Aussagen die Rede gewesen.

Was aber die Spezialisten im Zusammenhang mit dem Stockholm-Syndrom noch mehr beschaftigte, war der Fall des Entfuhrungsopfers Partricia Hearst. Bei ihrer Verhaftung im Jahr 1975 legte man ihr Verbrechen zur Last, die sie offenbar nur deshalb hatte begehen konnen, weil sie zuvor von ihren Entfuhrern manipuliert worden war. Leider wu?te man zu dieser Zeit noch zu wenig uber das Stockholm-Syndrom, um fur Patricia Hearst Sympathie zu wecken oder ihr wenigstens einen fairen Proze? zu ermoglichen. Bei einem Vortrag vor Wades Antiterrorismusklasse bemerkte ein amerikanischer Anwalt zu diesem Thema: »In juristischer und intellektueller Hinsicht mu? man den Hearst-Proze? mit den Hexenprozessen in Salem aus dem Jahr 1692 gleichsetzen. Ausgehend von dem Wissen, das wir jetzt haben, und auch davon, da? Prasident Carter das getane Unrecht erkannte und das Strafma? abmilderte, ware es eine Schande fur unser Land, wenn wir zulassen, da? Patricia Hearst ohne Begnadigung stirbt.«

»Du meinst also damit, Jessie«, sagte Angus, »da? wir uns nicht von Vincentes scheinbarer Freundlichkeit einwickeln lassen durfen. Er ist trotz allem ein Feind.«

»Wenn er es nicht ware«, entgegnete Jessica, »dann konnten wir einfach von hier verschwinden, wenn er uns bewacht.«

»Und wir wissen genau, da? wir das nicht konnen.« Angus richtete seine Stimme auf die mittlere Zelle. »Hast du das gehort, Nicky? Deine Mom hat recht, und wir beide hatten unrecht.«

Der Junge nickte nur betrubt und sagte nichts. Es war einer der vielen traurigen Aspekte dieser Gefangenschaft, dachte Jessica, da? Nicky fruher, als es unter normalen Umstanden passiert ware, mit den harten Realitaten und Gemeinheiten der menschlichen Natur konfrontiert wurde.

Wie immer in Peru war es das Radio, das die Nachrichten uber die neuen Entwicklungen in der Sloane- Entfuhrung auch in die entferntesten Winkel des Landes brachte.

Uber die Verwicklung von Peru und des Sendero Luminoso in die Entfuhrungsaffare wurde zum ersten Mal am Samstag berichtet, also am Tag nach der CBA-Sondersendung zu diesem Thema. Schenkte man dieser Geschichte in Peru anfangs nur wenig Beachtung, so wurde sie jetzt, da man wu?te, da? das eigene Land betroffen war, zum Hauptthema der Medien.

So erfuhr man am Dienstag, dem Tag nach der Enthullung des Baltimore Star, in dem Andenstadtchen Ayacucho und dem Dschungeldorf Nueva Esperanza ebenfalls aus dem Radio von Theodore Elliotts Zuruckweisung der Entfuhrerforderungen und von seiner schlechten Meinung uber den Sendero Luminoso.

In Ayacucho horten die Anfuhrer des Sendero Luminoso den Bericht, und in Nueva Esperanza der Terrorist Ulises Rodriguez alias Miguel.

Kurz darauf kam es zu einem Telefongesprach zwischen Miguel und einem dieser Anfuhrer. Keiner der beiden nannte seinen Namen, denn sie wu?ten, da? die Telefonverbindung nicht gerade modernsten Anspruchen entsprach und die Leitung uber andere Orte fuhrte, wo jeder, darunter auch Armee oder Polizei, mithoren konnte. Deshalb benutzten sie nur allgemeine Floskeln und versteckte Andeutungen, was in Peru viele Leute beherrschten. Die beiden verstanden sich jedoch.

Ihr Gesprach beinhaltete im Klartext: Es mu?te sofort etwas geschehen, um diesem amerikanischen Sender zu beweisen, da? er es nicht mit Dummkopfen oder Narren zu tun hatte. Man konnte zum Beispiel eine der Geiseln toten und sie in Lima so deponieren, da? sie schnell gefunden wurde.

Miguel stimmte zwar zu, da? das Wirkung zeigen wurde, meinte aber, man solle fur den Augenblick alle drei Geiseln am Leben halten, da sie wertvolle Druckmittel darstellten. Er pladierte statt dessen fur ein anderes Vorgehen, das seiner Meinung nach in New York verheerende psychologische Auswirkungen haben wurde. Er dachte dabei an etwas, das er wahrend der Wartezeit in Hackensack erfahren hatte.

Man einigte sich auf diesen Vorschlag, und da dazu eine Transportmoglichkeit notig war, wurde in Ayacucho sofort ein Fahrzeug nach Nueva Esperanza losgeschickt.

In Nueva Esperanza begann Miguel ebenfalls mit seinen Vorbereitungen. Er rief Socorro zu sich.

Jessica, Nicky und Angus sahen auf, als plotzlich eine kleine Gruppe die Hutte betrat. Sie bestand aus

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