Miguel, Socorro, Gustavo, Ramon und einem der anderen Wachposten. Man sah ihnen deutlich an, da? sie etwas vorhatten, und Jessica und die anderen warteten angstlich auf das, was nun passieren wurde.
Einer Sache war sich Jessica ganz sicher: Sie wurde alles tun, was man von ihr verlangte. Sechs Tage waren seit der Videoaufnahme vergangen, bei der Nicky wegen ihrer Sturheit hatte leiden mussen. Socorro hatte seitdem die Brandwunden taglich untersucht, und sie waren inzwischen soweit verheilt, da? Nicky keine Schmerzen mehr hatte. Jessica, die noch immer ein schlechtes Gewissen hatte, war entschlossen, ihn nicht noch mehr leiden zu lassen.
Als nun die Terroristen, ohne auf sie oder Angus zu achten, Nickys Zelle offneten und hineingingen, schrie Jessica voller Angst: »Was haben Sie vor? Bitte tun Sie ihm nicht mehr weh. Er hat genug gelitten. Nehmen Sie mich an seiner Stelle!«
Socorro war es, die sich umdrehte und Jessica durch das Maschengitter anschrie: »Ruhe! Sie konnen nicht verhindern, was jetzt passiert.«
»Was passiert denn?« schluchzte Jessica verzweifelt. Sie sah, da? Miguel einen kleinen Holztisch in Nickys Zelle gestellt hatte. Gustavo und der vierte Mann hatten Nicky gepackt und hielten ihn so fest, da? er sich nicht mehr bewegen konnte. »Das ist nicht fair!« schrie Jessica. »Lassen Sie ihn doch um Himmels willen in Frieden!«
Ohne auf Jessica zu achten, sagte Socorro zu Nicky: »Man wird dir zwei Finger abschneiden.«
Bei dem Wort »Finger« packte Nicky das blanke Entsetzen, er schrie und wehrte sich, aber es half nichts.
Socorro fuhr fort: »Diese Manner werden es tun, und es gibt nichts, was du dagegen machen kannst. Und wenn du dich wehrst, tut es um so mehr weh. Also halt dich ruhig!«
Doch Nicky horte nicht auf sie; er stammelte nur unzusammenhangende Worte, verdrehte die Augen und warf den Kopf hin und her, wahrend er versuchte, sich zu befreien oder wenigstens die Hande zuruckzuziehen. Aber er konnte gegen die Manner nichts ausrichten.
Jessica drang ein markerschutternder Schrei aus der Kehle: »Nein! Nicht seine Finger! Verstehen Sie denn nicht? Er spielt Klavier. Das ist sein Leben...«
»Ich wei?.« Nun hatte sich auch Miguel zu ihr umgedreht, ein dunnes Lacheln zuckte um seine Lippen. »Ich habe gehort, wie dein Mann das im Fernsehen gesagt hat. Wenn er die Finger bekommt, wird er sich wunschen, da? er es nicht getan hatte.«
Auf der anderen Seite von Nickys Zelle trommelte Angus gegen das Maschengitter und schrie ebenfalls. Er hielt die Hande in die Hohe. »Nehmt meine! Es macht doch keinen Unterschied. Warum dem Jungen sein Leben zerstoren?«
Aus Miguels Augen blitzte die Wut. Er schrie Angus an: »Was sind denn schon zwei Finger eines bourgeoisen Bengels, wenn in Peru jedes Jahr sechzigtausend Kinder unter funf Jahren sterben?«
»Wir sind Amerikaner!« schleuderte Angus ihm entgegen. »Daran sind doch wir nicht schuld!«
»Aber naturlich. Oder ist das verkommene und zerstorerische kapitalistische System, das die Menschen ausbeutet, etwa nicht euer System?«
Miguels Statistiken uber die Kindersterblichkeit stammten von Abimael Guzman, dem Grunder des Sendero Luminoso. Miguel wu?te zwar, da? Guzmans Zahlen wahrscheinlich ubertrieben waren, aber dennoch starben in Peru so viele Kinder an Unterernahrung wie in kaum einem anderen Land.
Wahrend die beiden sich noch stritten, passierte alles sehr schnell.
Gustavo packte Nicky und zerrte ihm zum Tisch. Ramon zog sein Messer aus der Scheide, prufte grinsend die Scharfe und beugte sich dann blitzschnell uber den Jungen. Jessica horte nur ein zweimaliges dumpfes Knirschen und dann Nickys entsetzliche Schmerzensschreie. Blut spritzte, und als Ramon sich wieder aufrichtete, lagen der Zeigefinger und der kleine Finger von Nickys rechter Hand auf dem Tisch. Socorro steckte sie in eine Plastiktute und gab sie Miguel. Sie war bla? und sah mit verkniffenen Lippen zu Jessica hinuber, die ihr Gesicht mit den Handen bedeckt hatte und hemmungslos weinte.
Nicky war kaum noch bei Bewu?tsein. Er lag aschfahl auf seiner Pritsche, aus seinen Schmerzensschreien war ein schwaches Wimmern geworden. Wahrend Miguel, Ramon und der vierte Mann den blutigen Tisch aus der Zelle trugen, sagte Socorro zu Gustavo, dem sie mit einer Geste zu verstehen gegeben hatte, er solle warten:
Gustavo gehorchte und setzte Nicky auf, wahrend Socorro nach drau?en ging und mit einer Schussel warmen Seifenwassers zuruckkehrte, die sie zuvor bereitgestellt hatte. Sie nahm Nickys rechte Hand, hielt sie aufrecht und wusch sorgfaltig die blutigen Fingerstumpfe aus. Dann legte sie Kompressen auf die Wunden und bandagierte die Hand.
Nicky zitterte am ganzen Korper, er lie? willenlos alles mit sich geschehen. Jessica lief zur Tur ihrer Zelle und wandte sich flehend an Miguel, der noch immer in der Hutte stand. »Bitte, lassen Sie mich zu meinem Sohn. Bitte, bitte, bitte!«
Miguel schuttelte den Kopf und erwiderte verachtlich: »Keine Mutter fur einen Feigling! Soll der
»Er ist jetzt schon mehr Mann, als du es je sein wirst!« schrie Angus voller Ha? und Wut. Auch er stand an seiner Tur und sah Miguel an. Er suchte nach dem spanischen Schimpfwort, das Nicky ihm beigebracht hatte. »Du...
Angus wu?te genau, was das hie?: »Du verfluchter Hurensohn!« Nicky hatte Angus erzahlt, was er von seinen kubanischen Freunden in der Schule erfahren hatte: In spanischsprachigen Landern war es fur einen Mann die schlimmste Beleidigung, wenn man seine Mutter eine Hure nannte.
Langsam und bedachtig drehte Miguel den Kopf. Sein Gesicht war zur Maske erstarrt. Mit einem eiskalten und unversohnlichen Blick sah er Angus direkt in die Augen. Dann wandte er sich schweigend ab.
Gustavo hatte die Beleidigung und Miguels Reaktion mitbekommen. Er schuttelte den Kopf und sagte in gebrochenem Englisch zu Angus. »Alter Mann, du machen schlimmen Fehler. Er nicht vergessen.«
In den folgenden Stunden wuchs Jessicas Besorgnis um Nickys seelische Verfassung. Sie hatte versucht, mit ihm zu reden und ihn wenigstens mit Worten zu trosten, aber ohne Erfolg; er reagierte uberhaupt nicht darauf. Manchmal lag Nicky bewegungslos auf dem Bett, nur hin und wieder war ein Stohnen zu horen. Dann plotzlich liefen Zuckungen durch seinen Korper, er schrie auf und zitterte heftig. Jessica war ziemlich sicher, da? die durchtrennten Nerven fur die ruckartigen Bewegungen und die plotzlichen Schmerzen verantwortlich waren. Soweit sie sehen konnte, hatte er die Augen geoffnet, aber sein Gesicht war ausdruckslos und leer.
Jessica bettelte um eine Reaktion. »Nur ein Wort, Nicky-Darling! Nur ein Wort! Bitte sag was - irgendwas!« Aber er antwortete nicht. Jessica glaubte beinahe, den Verstand zu verlieren. Diese Unfahigkeit, die Hande nach ihrem Sohn auszustrecken und ihn zu beruhren, ihn durch korperliche Nahe zu trosten, war grausam; man verweigerte ihr, wonach sie sich so sehr sehnte.
Eine Zeitlang versuchte Jessica, um nicht hysterisch zu werden, alle Gedanken aus ihrem Kopf zu vertreiben. Sie lag nur still da und weinte leise in sich hinein.
Doch dann tadelte sie sich wegen ihrer Schwache -
Angus half ihr dabei, aber sie konnten auch zusammen nichts ausrichten.
Irgendwann wurde ihnen Essen in die Zellen gebracht. Da? Nicky nicht darauf reagierte, wunderte Jessica nicht. Sie selbst versuchte zu essen, weil sie wu?te, da? sie bei Kraften bleiben mu?te, aber sie hatte keinen Appetit und schob den Teller weg. Sie hatte keine Ahnung, wie es Angus ging.
Bei Einbruch der Dunkelheit wechselten die Wachen.
Vincente hatte jetzt Dienst. Als dann die Gerausche von drau?en schwacher wurden und schlie?lich nur noch die Insekten zu horen waren, kam Socorro. Sie hatte die Wasserschussel, die sie zuvor schon benutzt hatte, frische Kompressen und Binden sowie eine Kerosinlampe dabei und ging damit in Nickys Zelle. Behutsam richtete sie Nicky auf und begann, den Verband zu wechseln.
Nicky schien es etwas besser zu gehen, die Schmerzen hatten offensichtlich nachgelassen, und sein Korper zuckte nicht mehr so haufig.
Nach einer Weile flusterte Jessica: »Socorro, bitte...«
Socorro drehte sich sofort um und legte den Zeigefinger an den Mund. Verwirrt und verangstigt, wie Jessica war, gehorchte sie und schwieg.
Sobald Socorro den neuen Verband angelegt hatte, verlie? sie Nickys Zelle, verschlo? sie aber nicht. Statt
