Auf Partridges Bitte blieb Minh Van Canh noch eine halbe Stunde auf Beobachtungsposten und wurde dann von Ken O'Hara abgelost.

»Jeder von uns sollte so viel schlafen wie moglich«, sagte Partridge. »Aber wir sollten den Beobachtungsposten und den Wachposten an der Lichtung immer besetzt halten, das hei?t, da? immer nur zwei auf einmal schlafen konnen.« Man einigte sich schlie?lich darauf, sich im Zweistundenrhythmus abzuwechseln.

Bereits zuvor hatte Fernandez in der Hutte, die sie bei ihrer Ankunft entdeckt hatten, die Hangematten aufgespannt und Moskitonetze darubergehangt. Die Hangematten waren nicht gerade bequem, aber die Manner, die sie benutzten, waren von den Anstrengungen des Tages so erschopft, da? sie sofort einschliefen. Da es in der Nacht regnete und das Dach der Hutte undicht war, fanden auch die mitgebrachten Plastikplanen ihre Verwendung. Fernandez spannte sie geschickt uber die Hangematten, so da? die Schlafenden geschutzt waren. Die beiden Wachen hullten sich ebenfalls in ihre Planen, bis der Regen eine halbe Stunde spater aufhorte.

Gemeinsame Mahlzeiten gab es nicht. Jeder a und trank, wenn er Hunger und Durst hatte, doch wu?ten sie alle, da? sie mit den getrockneten Nahrungsmitteln sparsam umgehen mu?ten. Der Wasservorrat, den sie aus Lima mitgebracht hatten, war bereits verbraucht, und Fernandez hatte schon vor einigen Stunden die Flaschen an einem Bach gefullt und Sterilisierungstabletten darin aufgelost. Er hatte die anderen gewarnt, da? fast das gesamte Wasser im Dschungel mit Chemikalien, die zur Drogenherstellung benutzt wurden, verseucht sei. Das Wasser, das jetzt in den Flaschen war, schmeckte entsetzlich, und jeder versuchte, so wenig wie moglich zu trinken.

Bei Tagesanbruch hatte Partridge die Antworten auf seine Fragen uber die Nachtaktivitaten in Nueva Esperanza: Es war sehr wenig los - nur gelegentlich war eine Gitarre zu horen oder eine schrille Stimme und betrunkenes Gelachter aus einer der Hutten. Dreieinhalb Stunden nach Einbruch der Nacht war alles vorbei. Um 1 Uhr 30 wurde es im Dorf still und dunkel.

Wenn Partridge mit seiner Vermutung uber die Wachen und die Gefangenenhutte recht hatte, mu?ten sie nur noch herausfinden, wann und wie oft die Wachen gewechselt wurden. Bis zum Morgen hatte sich noch kein klares Bild ergeben. Falls es wahrend der Nacht einen zweiten Wachwechsel gegeben hatte, hatten sie ihn ubersehen.

Wahrend des Tages behielten sie ihre Zeiteinteilung bei.

Zwei hielten immer Wache, wahrend die anderen sich ausruhten, denn sie wu?ten, da? sie Krafte sammeln mu?ten fur spater.

Als Partridge am Nachmittag in der Hangematte lag, dachte er daruber nach, was er und die anderen eigentlich taten, und konnte sich des Gefuhls nicht erwehren, da? die Situation, in der sie sich befanden, etwas Unwirkliches hatte. Er fragte sich: Passiert das hier alles tatsachlich? Sollte er mit seiner kleinen, inoffiziellen Truppe wirklich einen Rettungsversuch wagen? In wenigen Stunden wurden sie toten mussen oder selber getotet werden. War das alles nicht Wahnsinn? Wie es in Macbeth hei?t: »...des Lebens Fieberschauer...«

Eigentlich war er doch Journalist und Fernsehkorrespondent, sagte sich Harry, ein Beobachter von Kriegen und Konflikten, doch kein Teilnehmer daran. Doch hier war er plotzlich aus eigener Entscheidung zum Abenteurer, zum Soldner und Mochtegernsoldaten geworden. Machte dieser Frontenwechsel einen Sinn?

Doch wie die Antwort auch ausfiel, eine Frage blieb offen: Wenn er, Harry Partridge, nicht schaffte, was hier und jetzt zu tun war, wer dann?

Und noch etwas: Fur einen Kriegsberichterstatter, vor allem fur einen Fernsehkorrespondenten, waren Gewalt und Aufruhr, ha?liche Verwundungen oder ein plotzlicher Tod standige Bedrohung. Man lebte mit solchen Gefahren, ertrug sie und teilte sie mit anderen, und brachte sie Abend fur Abend in die sauberen und ordentlichen Wohnzimmer des urbanen Amerika, in eine Umgebung, in der sie nur Bilder auf einem Fernsehschirm waren und daher ungefahrlich fur diejenigen, die zusahen.

Und doch wurden diese Bilder immer gefahrlicher, sie ruckten naher, sowohl zeitlich wie raumlich, und bald wurden sie nicht mehr nur Bilder auf dem Schirm, sondern grausame Wirklichkeit auf den Stra?en Amerikas sein, wo jetzt bereits das Verbrechen lauerte. Die Gewalt und der Terrorismus der unterprivilegierten, zerrissenen und von Kriegen verwusteten anderen Halfte der Welt ruckten immer naher an amerikanischen Boden heran. Es war eine unausweichliche Entwicklung, die internationale Wissenschaftler schon vor Jahren vorausgesehen hatten.

Die Monroe-Doktrin, die fruher als Schutz fur Amerika gedacht war, funktionierte nicht mehr; inzwischen sprach man kaum mehr von ihr. Die Entfuhrung der Sloanes durch auslandische Terroristen auf amerikanischem Boden zeigte deutlich, da? der internationale Untergrund bereits im Land Fu? gefa?t hatte. Und Schlimmeres stand noch bevor: Bombenattentate, Geiselnahmen, Stra?enkampfe. Es war tragisch, aber es gab keine Moglichkeit, es zu verhindern. Und ebenso tragisch war, da? viele bislang Unbeteiligte bald Beteiligte sein wurden - ob sie es wollten oder nicht.

Partridges Beteiligung und die der anderen war also in diesem Augenb lick ganz und gar nicht unwirklich. Er nahm an, da? vor allem Minh Van Canh ahnlich dachte. Fur Minh, der einen entsetzlichen Krieg in seinem zerrissenen Heimatland er- und uberlebt hatte, war es vermutlich leichter als fur andere, die Situation zu akzeptieren, in der sie sich im Augenblick befanden.

Fur Partridge stand noch etwas anderes, ganz Personliches hinter diesen Uberlegungen: Jessica. Jessica, die wahrscheinlich sehr nahe war, irgendwo in dieser Hutte. Jessica-Gemma, deren Personlichkeiten sich in seinen Gedanken und Erinnerungen vermischten.

Dann uberkam ihn die Mudigkeit und er schlief ein.

Als er funfzehn Minuten vor Beginn seiner Wache aufwachte, sprang er sofort aus der Hangematte und ging nach drau?en, um sich ein Bild von der Lage zu machen.

Beim Wachposten an der Lichtung war nichts Ungewohnliches passiert, doch hatte die Beobachtung des Ortes konkrete neue Informationen und Schlu?folgerungen ergeben.

- So gab es in der etwas abseits gelegenen Hutte tatsachlich einen regelma?igen Wechsel von bewaffneten Wachen, was darauf hindeutete, da? die Geiseln wirklich dort gefangengehalten wurden. Obgleich sich der Wachwechsel nicht immer punktlich vollzog, mu?te man von einem Vierstundenrhythmus ausgehen. Manchmal kam die Ablosung bis zu zwanzig Minuten spater, und diese Unpunktlichkeit war fur Partridge eine Bestatigung von Jessicas Botschaft: Die Bewachung hier ist eher nachlassig.

- Seit dem Morgen hatten zweimal Frauen mit Behaltern, die vermutlich Nahrungsmittel enthielten, die Hutte betreten. Dieselbe Frau, die das Essen brachte, trug danach die Kubel aus der Hutte und schuttete den Inhalt in die Busche.

- Offensichtlich war diese etwas abseits stehende Hutte die einzige im ganzen Dorf, die bewacht wurde.

- Die Manner der Wachtruppe waren zwar mit automatischen Gewehren bewaffnet, schienen aber weder Soldaten noch Angehorige einer trainierten Einheit zu sein.

- Der gesamte Verkehr von und nach Nueva Esperanza lief uber den Flu?. Stra?enfahrzeuge waren nirgends zu entdecken. Fur die Bootsmotoren waren offenbar keine Zundschlussel notig; das machte es einfacher, eins zu stehlen, falls man auf diesem Weg fliehen mu?te. Andererseits gab es genugend Boote, mit denen man sie verfolgen konnte. Ken O'Hara, der sich mit Booten auskannte, zeigte Partridge die besten.

- Alle Beobachter waren ubereinstimmend der Meinung, da? die Leute im Dorf alle sehr entspannt wirkten, so als wurden sie keinen Angriff von au?en erwarten. »Denn sonst«, bemerkte Fernandez, »wurden sie Patrouillen ausschicken, um die ganze Gegend nach Leuten wie uns abzusuchen.«

Bei Sonnenuntergang rief Partridge die anderen zusammen. »Wir haben lange genug zugesehen«, sagte er. »Heute nacht gehen wir runter.«

Er deutete mit dem Kopf auf Pabur. »Fernandez wird uns fuhren. Ich will um 2 Uhr bei der Hutte sein. Jeder mu? sich absolut still verhalten. Wenn es etwas zu besprechen gibt, wird nur geflustert!«

»Gibt es eine Schlachtordnung, Harry?« fragte Minh.

»Ja«, antwortete Partridge. »Ich werde mich anschleichen und versuchen, in die Hutte hineinzuspahen, und dann als erster eindringen. Minh, du kommst direkt hinter mir, als Ruckendeckung. Fernandez wird zuruckbleiben und die anderen Hauser beobachten, aber sofort zu uns sto?en, wenn wir Hilfe brauchen.«

Dann wandte sich Partridge an O'Hara: »Ken, du gehst direkt zum Landungssteg. Ich habe beschlossen, mit einem Boot zu fliehen. Wir wissen nicht, in welchem Zustand Jessica und Nicky sind, vielleicht schaffen sie den Ruckweg zu Fu? nicht.«

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