Miguel nannte sie deshalb insgeheim »die Unerforschliche«. Er wu?te zwar von ihren Doppelkontakten und auch, da? der Sendero Luminoso auf ihrer Teilnahme an der Entfuhrung bestanden hatte, doch hatte er keinen Grund, ihr zu mi?trauen. Er fragte sich nur manchmal, ob Socorros langer Aufenthalt in Amerika nicht ihre Loyalitat zu den kolumbianischen und peruanischen Gruppen aufgeweicht hatte.
Socorro selbst hatte bei der Beantwortung dieser Frage Schwierigkeiten bekommen. Sie war zwar schon immer eine Revolutionarin gewesen, die zuerst bei der kolumbianischen M-19 und schlie?lich - und eintraglicher - beim Medellin-Kartell und Sendero Luminoso ein Ventil fur ihren kampferischen Eifer gefunden hatte. Sie war der Uberzeugung, da? die kolumbianischen und peruanischen Regierungen Banden herrschsuchtiger Verbrecher seien, die getotet werden mu?ten, und sie war auch gern bereit, bei einem solchen Gemetzel mitzumachen. Daruber hinaus hatte man ihr eingetrichtert, da? die Herrschaftsstrukturen in den Vereinigten Staaten nicht weniger ubel und korrupt seien. Doch nach drei Jahren in Amerika, in denen sie Freundlichkeit und Fairne? erfahren hatte, wo sie mit Feindseligkeit und Unterdruckung besser hatte umgehen konnen, wurde es fur sie immer schwieriger, Amerika und das amerikanische Volk als den Feind zu betrachten.
Im Augenblick versuchte sie, diese drei Gefangenen von Grund auf zu hassen -
Doch wenn sie erst einmal dieses verwirrende Land verlassen hatte, und das wurden sie alle ja sehr bald tun, wurde sie wieder besser und starker werden und bestandiger in ihrem Ha?.
Migue l, der in der entfernten Ecke des Zimmers auf einem zur Wand gekippten Stuhl sa?, rief Baudelio zu: »Was tust du gerade?« Sein Ton machte deutlich, da? es als Befehl gemeint war.
»Ich mu? mich beeilen, weil die Wirkung des Midazolam, das ich ihnen gespritzt habe, bald nachla?t. Wenn das passiert, injiziere ich ihnen Propofol, und zwar intravenos. Der Wirkstoff halt langer an als der erste und ist fur das, was wir vorhaben, besser geeignet.«
Wahrend er hin und her ging und erklarte, schien er sich zu verwandeln; aus der gewohnten ausgemergelten, gespenstischen Erscheinung wurde wieder der Lehrer und Narkosearzt, der er einmal gewesen war. Ahnliches - ein kurzes Aufblitzen langst abgelegter Wurde - war auch unmittelbar vor der Entfuhrung passiert. Doch weder damals noch jetzt schien es ihm irgend etwas auszumachen, da? er seine Fahigkeiten zu kriminellen Zwecken mi?brauchte und die Umstande, unter denen er arbeitete, verabscheuungswurdig waren.
Er fuhr fort. »Bei Propofol mu? man vorsichtig sein. Die Optimaldosierung ist bei jedem unterschiedlich, eine Uberdosis kann todlich sein. Am Anfang mu? man sehr behutsam experimentieren.«
»Bist du sicher, da? du es schaffst?« fragte Miguel.
»Wenn du Zweifel hast«, erwiderte Baudelio sarkastisch, »kannst du dir ja einen anderen suchen.«
Als Miguel nicht darauf reagierte, sprach der Arzt weiter. »Da die Leute bewu?tlos sind, wenn wir sie transportieren, mussen wir ganz sichergehen, da? sie nicht erbrechen und das Erbrochene einatmen. Solange wir hier sind, mussen wir ihnen deshalb jede Nahrung entziehen. Um eine Dehydrierung zu vermeiden, werde ich ihnen intravenos Flussigkeit zufuhren. Nach zwei Tagen konnen wir sie dann da hineinlegen.« Baudelio deutete mit dem Kopf auf die Wand hinter sich.
An der Wand lehnten zwei solide, mit Seide ausgeschlagene Sarge, der eine etwas kleiner als der andere. Die verzierten Deckel waren abgenommen und lehnten daneben.
Die Sarge erinnerten Baudelio an ein Problem. Auf Angus Sloane deutend, fragte er: »Soll ich ihn auch vorbereiten oder nicht?«
»Bist du medizinisch darauf eingerichtet, wenn wir ihn mitnehmen?«
»Ja. Ich habe von allem etwas in Reserve, falls etwas schiefgeht. Aber wir brauchen noch einen...« Sein Blick kehrte zu den Sargen an der Wand zuruck.
»Das wei? ich selber«, entgegnete Miguel gereizt.
Er war sich noch immer unschlussig. Vom Medellin-Kartell und vom Sendero Luminoso hatten sie lediglich den Befehl, die Frau und den Jungen zu entfuhren und sie so schnell wie moglich nach Peru zu bringen. Die Sarge waren als Transportmittel gedacht, und man hatte auch bereits eine Deckgeschichte vorbereitet, um einer Durchsuchung durch den amerikanischen Zoll zu entgehen. In Peru wurden die Geiseln dann als Druckmittel eingesetzt, um die Einlosung bis jetzt noch nicht genannter Forderungen des Sendero Luminoso zu erzwingen. Die Frage war nun, ob Angus Sloane als nutzliches zusatzliches Druckmittel oder aber als Belastung und unnotiges Risiko betrachtet wurde.
Wenn es moglich gewesen ware, hatte Miguel seine Vorgesetzten um Rat gefragt. Aber der einzig sichere Kommunikationskanal war fur ihn im Augenblick nicht offen, und ein Anruf uber eins der Funktelefone wurde eine zuruckverfolgbare Spur bieten. Miguel hatte jedem einzelnen der Gruppe eingescharft, die Telefone nur fur Gesprache zwischen den Fahrzeugen und zwischen Hauptquartier und Fahrzeugen zu benutzen. Alle anderen Anrufe waren absolut verboten. Ferngesprache wurden, wenn notig, von Telefonzellen aus gefuhrt.
Die Entscheidung lag deshalb einzig und allein bei ihm. Er dachte wieder daran, da? man einen weiteren Sarg besorgen mu?te, was ein zusatzliches Risiko darstellte. War es das wert?
Miguel beschlo?, das Risiko einzugehen. Aus Erfahrung wu?te er, da? man nach Bekanntgabe der Sendero-Forderungen eine der Geiseln toten und die Leiche der Weltoffentlichkeit prasentieren wurde, um deutlich zu machen, da? die Entfuhrer es ernst meinten. Wenn man Angus Sloane als ersten totete, hatte man immer noch den Jungen oder die Frau, falls es notig wurde, den Forderungen mit einer zweiten Leiche Nachdruck zu verleihen. In dieser Hinsicht war der zusatzliche Gefangene ein Bonus.
Miguel sagte deshalb zu Baudelio: »Ja, der alte Mann kommt mit.«
Baudelio nickte. Trotz seiner au?erlichen Gelassenheit war er an diesem Tag in Miguels Gegenwart nervos, weil er am Abend zuvor einen, wie er nun erkannte, schweren Fehler gemacht hatte, der die Sicherheit der ganzen Truppe gefahrden konnte. Er war allein gewesen und hatte, in einem Augenblick abgrundtiefer Einsamkeit und Niedergeschlagenheit, eins der Funktelefone benutzt, um nach Peru zu telefonieren. Er hatte mit einer Frau gesprochen, der Gefahrtin seines heruntergekommenen Lebens und seine einzige Vertraute, deren haufig betrunkene Gesellschaft er sehr vermi?te.
Und wegen dieser inneren Unruhe reagierte Baudelio etwas langsam, als es plotzlich zu einer Krise kam.
Jessica hatte wahrend des Uberfalls vor dem Supermarkt in Larchmont nur wenige Minuten Zeit gehabt, um sich klarzumachen, was uberhaupt geschah. Auch nachdem man sie mit einem Knebel zum Schweigen gebracht hatte, wehrte sie sich mit Handen und Fu?en, denn sie sah, da? auch Nicky von den unbekannten Rohlingen gepackt und Angus brutal niedergeschlagen wurde. Augenblicke spater zeigte das starke Beruhigungsmittel, das man ihr gespritzt hatte, bereits Wirkung, es wurde dunkel um sie, und sie verlor das Bewu?tsein.
Doch nun wachte sie langsam wieder auf, und obwohl sie nicht wu?te, wie lange sie ohnmachtig gewesen war, kehrte die Erinnerung an das Geschehene zuruck. Zuerst nur schwach und dann immer deutlicher wurden ihr die Gerausche ihrer Umgebung bewu?t. Sie versuchte, sich zu bewegen, etwas zu sagen, schaffte aber beides nicht. Und auch die Augen konnte sie nicht offnen.
Es war, als liege sie am Grund eines dunklen Schachts, in dem jede Regung, jede Lebensau?erung unmoglich ist.
Ganz allmahlich wurden die Stimmen klarer, die Erinnerung an die schrecklichen Momente in Larchmont deutlicher.
Schlie?lich offnete sie die Augen.
Baudelio, Socorro und Miguel sahen alle in eine andere Richtung und merkten deshalb nicht, was geschah.
Jessica spurte, wie das Gefuhl in ihren Korper zuruckkehrte, und verstand deshalb nicht, warum sie Arme und Beine nur wenige Millimeter bewegen konnte. Dann sah sie, da? ihr linker Arm, den sie im Blickfeld hatte, mit einem Gurt gefesselt war, und erkannte, da? sie in einer Art Krankenbett lag, an dem man sie mit Armen und Beinen festgebunden hatte.
Sie drehte den Kopf ein wenig und erstarrte vor Entsetzen uber das, was sie entdeckte.
Nicky lag auf einem zweiten Bett, festgebunden wie sie. Angus, neben ihm, war ebenfalls gefesselt. Und dann -
Urplotzlich begann sie zu schreien und wild an ihren Fesseln zu zerren. In ihrer wahnsinnigen Angst schaffte
