Kurz vor der Abfahrt erschien Socorro erstaunlich verfuhrerisch in einem schwarzen Leinenkleid mit passender bortenbesetzter Jacke. Die Haare waren unter einem schwarzen Hut hochgesteckt, sie trug goldene Ohrringe und eine dunne goldene Halskette. Sie weinte heftig, die Pfefferkorner, die Baudelio ihr unter die unteren Lider gesteckt hatte, taten ihre Wirkung. Nun mu?te auch Rafael diese Behandlung uber sich ergehen lassen; er hatte sich zunachst dagegen gewehrt, doch da Miguel darauf bestand, gab der gro?e Mann nach. Er hatte sich bald an das leicht unangenehme Gefuhl gewohnt, und nun flossen auch bei ihm die Tranen.
Rafael, Miguel und Baudelio sahen in ihren schwarzen Anzugen und Krawatten uberzeugend wie Trauernde aus. Wenn Fragen gestellt wurden, spielten Rafael und Socorro Bruder und Schwester einer toten kolumbianischen Frau, die wahrend eines Besuchs in den Vereinigten Staaten bei einem Autounfall getotet und nun zum Begrabnis nach Hause geflogen wurde. Und da der kleine Sohn der Frau, so die Tarngeschichte, bei dem Unfall ebenfalls getotet wurde, waren Rafael und Socorro Nickys Onkel und Tante. Der dritte »Tote«, Angus, war ein alterer entfernter Verwandter, der die beiden auf der Reise begleitet hatte.
Baudelio war ein weiteres trauerndes Familienmitglied, das den Leichenzug zur Unterstutzung der Hinterbliebenen begleitete, Miguel ein enger Freund.
Eine umfangreiche Sammlung von Dokumenten stutzte die Tarngeschichte, darunter gefalschte Totenscheine aus Pennsylvania, wo der Unfall angeblich stattgefunden hatte, drastische Fotos von einer Karambolage auf einer Autobahn und sogar Zeitungsausschnitte, die angeblich aus dem
Ein wichtiger Punkt in der Tarngeschichte, der auch von den falschen Presseberichten gestutzt wurde, war die Behauptung, alle drei Leichen seien bis zur Unkenntlichkeit verstummelt. Miguel hoffte, da? dies die Behorden von einem Offnen der Sarge abhalten wurde.
Leichenwagen und Laster warteten bereits mit laufenden Motoren, und hinter ihnen stand der Plymouth Reliant mit Carlos am Steuer. Er sollte den beiden Fahrzeugen mit einigem Abstand folgen, bereit zum Eingreifen, falls es zu Schwierigkeiten kam. Mit Ausnahme von Baudelio waren alle bewaffnet.
Die Truppe wollte direkt zum Flughafen fahren, was zehn, hochstens funfzehn Minuten dauern wurde.
Im Hof des Anwesens in Hackensack sah Miguel auf die Uhr. 19 Uhr 35. »Alles einsteigen!« befahl er den anderen.
Dann kontrollierte er alleine ein letztes Mal das Haupthaus und die Nebengebaude, um sicherzugehen, da? sie keine Spuren hinterlassen hatten. Nur eins machte ihm Sorgen. An der Stelle, wo sie die Funktelefone und die andere Ausrustung vergraben hatten, war der Boden im Vergleich zur Umgebung uneben. Julio und Luis hatten versucht, die Erde glattzurechen und die Stelle mit Blattern zu bedecken, aber dennoch blieben Spuren sichtbar. Miguel hoffte, da? es nicht auffallen wurde, denn er konnte nun nichts mehr dagegen tun.
Er kehrte zum Leichenwagen zuruck, stieg auf den Beifahrersitz und befahl Julio: »Los!«
Es dammerte bereits. Die letzten Sonnenstrahlen verschwanden am Horizont, wahrend sie auf Teterboro zufuhren.
Luis war der erste, der die Blinklichter der Polizei bemerkte. Er fluchte leise und bremste. Nun sah auch Miguel vom Beifahrersitz des Leichenwagens die Lichter und streckte den Kopf zum Fenster hinaus, um sich ein Bild uber die Verkehrslage zu machen. Socorro sa? zwischen den beiden Mannern.
Sie fuhren in sudlicher Richtung auf dem State Highway 17, die Uberfuhrung des Passaic Expressway lag bereits eine Meile hinter ihnen. Der Verkehr war sehr dicht. Zwischen ihrer Position und den Blinklichtern gab es keine Ausfahrt nach rechts, und die Abtrennung zwischen den beiden Fahrtrichtungen machte ein Umkehren unmoglich. Miguel begann zu schwitzen, nahm sich aber zusammen und sagte zu Luis: »Fahr weiter.« Er sah nach hinten, um sicherzugehen, da? der Laster ihnen direkt folgte.
Carlos, im Plymouth, fuhr irgendwo hinter ihnen, doch zu sehen war er im Augenblick nicht.
Nun sahen sie, da? der Verkehr vor ihnen von einigen Bundespolizisten in die beiden rechten Fahrspuren gelenkt wurde. Zwischen den Spuren stand eine Art transportables Hauschen, von dem aus weitere Polizisten die Autos anhielten und mit den Fahrern zu sprechen schienen. Am rechten Stra?enrand waren mehrere Polizeiautos mit blinkenden Lichtern zu sehen.
»Ganz ruhig«, sagte Miguel zu den anderen. »Und la?t mich reden.«
Zehn Minuten lang krochen sie Meter um Meter vorwarts. Und auch dann war noch nicht genau zu erkennen, was an der Spitze der Schlange eigentlich passierte. Es war inzwischen dunkel geworden, und die vielen Lichter verwirrten nur. Aber es sah so aus, als wurden nach einem kurzen Wortwechsel zwischen den Polizisten und dem jeweiligen Fahrer einige Fahrzeuge zu einer genaueren Untersuchung an den Stra?enrand gewunken.
Miguel sah auf die Uhr. Fast 20 Uhr. Man wurde den Learjet bestimmt nicht mehr zum vereinbarten Zeitpunkt erreichen.
Obwohl Miguel den anderen eingescharft hatte, ruhig zu bleiben, stieg jetzt auch in ihm die Nervositat. Sollte das nun das Ende sein, nachdem alles bislang so glatt gelaufen war, ein Ende in der Gefangennahme oder im Tod nach einer Schie?erei? Miguel zog den Tod vor. Die Chancen, sich mit einem Bluff aus dieser Zwangslage zu befreien, waren ziemlich gering. Miguel fragte sich nur, ob es vernunftiger war, zum Angriff uberzugehen und eine Schie?erei zu provozieren, oder ruhig sitzenzubleiben, die Minuten verstreichen zu lassen und auf die hauchdunne Chance zu hoffen, da? sie mit ihrer Tarngeschichte durchkamen?
»Die Schweine suchen uns!« murmelte Luis, zog eine Walther P38 aus der Jacke und legte sie neben sich auf den Sitz.
»Versteck das Ding!« fauchte Miguel ihn an.
Luis legte eine Zeitung uber die Pistole.
Miguel spurte, da? Socorro neben ihm zitterte. Er legte ihr die Hand auf den Arm, und das Zittern horte auf. Er sah, da? sie den Blick starr nach vorne gerichtet hatte, auf einen Bundespolizisten, der nun auf sie zukam.
Der Uniformierte schien alleine zu sein, ohne Verbindung zu der Gruppe an der Spitze der Schlange. Er sah im Vorubergehen in die wartenden Autos, blieb ab und zu stehen und schien auf Fragen zu antworten. Als der Beamte nur noch wenige Meter entfernt war, beschlo? Miguel, die Initiative zu ergreifen. Er offnete das Fenster.
»Officer«, rief Miguel, »konnen Sie mir bitte sagen, was hier los ist?«
Der Beamte, der offensichtlich noch sehr jung war, kam naher. Ein Namensschild identifizierte ihn als »Quiles«.
»Nur ein Alkoholtest, Sir, im Interesse der offentlichen Sicherheit«, sagte er mit einem gezwungenen Lacheln.
Miguel glaubte ihm nicht.
Der Beamte sah sich nun den Leichenwagen und dessen Inhalt genauer an und fugte hinzu: »Ich hoffe nur, Sie kommen nicht von einem feuchtfrohlichen Leichenschmaus.«
Es war nur ein schwacher, unbeholfener Versuch, witzig zu sein, aber Miguel sah seine Chance und griff danach. Er warf dem Beamten einen vernichtenden Blick zu und sagte streng: »Falls das ein Witz sein sollte, dann war es ein sehr geschmackloser.«
Der Gesichtsausdruck des jungen Polizisten veranderte sich augenblicklich. Mit betrubter Miene sagte er: »Es tut mir leid...«
Als hatte er es nicht gehort, fuhr Miguel fort: »Die Dame neben mir war gemeinsam mit ihrer Schwester zu Besuch in diesem Land. Ihre geliebte Schwester liegt nun in diesem Sarg -sie wurde bei einem tragischen Verkehrsunfall getotet, zusammen mit zwei anderen Personen, die sich in dem Transporter hinter uns befinden. Wir wollen die Leichen au?er Landes fliegen, damit sie in ihrer Heimat begraben werden konnen. In Teterboro wartet ein Flugzeug auf uns, und wir konnen weder Ihren Humor noch diese Verzogerung hier gebrauchen.«
Wie aufs Stichwort wandte Socorro dem Beamten ihr tranenuberstromtes Gesicht zu.
»Ich sagte bereits, da? es mir leid tut, Sir und Madam«, lenkte Quiles reumutig ein. »Es ist mir einfach so herausgerutscht. Ich mochte mich wirklich dafur entschuldigen.«
»Wir nehmen Ihre Entschuldigung an, Officer«, entgegnete Miguel gnadig. »Aber ich frage mich, ob Sie uns vielleicht die Weiterfahrt ermoglichen konnten.«
»Einen Augenblick, bitte.« Der Polizist ging schnell zur Spitze der Schlange, wo er mit einem Sergeanten
