stoppte ihn. Von der Spitze des Zugs kam Miguel auf sie zu, Socorro und Baudelio folgten.
Bevor ein anderer etwas sagen konnte, erhob Jessica die Stimme. »Ja, wir sind Ihre Gefangenen«, sagte sie laut und leidenschaftlich. »Wir wissen zwar nicht, warum, aber wir wissen, da? wir nicht fliehen konnen, und das wissen Sie auch. Warum fesseln Sie uns dann? Wir wollen uns doch nur selbst helfen, damit wir nicht fallen. Sie sehen doch, was passiert, wenn wir es nicht konnen. Bitte, bitte, haben Sie doch Mitleid! Ich flehe Sie an, nehmen Sie uns die Fesseln ab!«
Zum ersten Mal zogerte Miguel, vor allem, da Socorro leise zu ihm sagte: »Wenn sich einer von denen einen Arm oder ein Bein bricht oder sich auch nur schneidet, kann es zu einer Infektion kommen. Und in Nueva Esperanza haben wir keine Moglichkeit, Infektionen zu behandeln.«
Baudelio, der neben ihr stand, war derselben Meinung. »Sie hat recht.«
Miguel machte eine unwirsche Handbewegung und bellte auf Spanisch einen Befehl. Einer der Bewaffneten trat vor, es war derselbe, der Nicky im Lastwagen geholfen hatte. Er zog ein Messer aus der Scheide an seinem Gurtel und trat hinter Jessica. Sie spurte, wie sich das Seil an ihren Gelenken lockerte und zu Boden fiel. Nicky war der nachste. Angus wurde gestutzt, wahrend man auch ihm die Fesseln loste, und dann halfen Jessica und Nicky ihm beim Aufstehen.
Auf einen barschen Befehl hin setzte sich der Zug wieder in Bewegung.
In diesen wenigen Minuten hatte Jessica trotz ihrer Verzweiflung einiges erfahren. So wu?te sie jetzt, da? ihr Ziel Nueva Esperanza hie?, obwohl ihr das im Augenblick nichts sagte. Auch den Namen des Mannes, mit dem Nicky sich angefreundet hatte, kannte sie - jemand hatte ihn Vincente genannt, als er die Fesseln aufschnitt. Und schlie?lich hatte sie gemerkt, da? die Frau, die mit Miguel getuschelt und die ihr in der Hutte den Schlag versetzt hatte, medizinisches Wissen besa?. Narbengesicht ebenso. Vermutlich war einer der beiden ein Arzt, vielleicht auch beide.
Sie pragte sich diese Informationsbruchstucke ein, denn ihr Instinkt sagte ihr, da? alles, was sie erfuhr, spater einmal nutzlich sein konnte.
Wenige Augenblicke spater tauchte nach einer Biegung im Pfad ein breiter Flu? vor ihnen auf.
Miguel erinnerte sich daran, in seinen fruhen Tagen gelesen zu haben, ein erfolgreicher Terrorist musse alle konventionellen menschlichen Empfindungen ablegen und erreiche seine Ziele nur, wenn er denjenigen, die sich seinen Wunschen widersetzen, Angst und Entsetzen einflo?t. Sogar der Ha?, der bis zu einem gewissen Grad durchaus stimulierend wirkt, kann im Uberma? schaden, da er dann das Urteilsvermogen beeintrachtigt.
In seiner Terroristenkarriere hatte Miguel diese Grundsatze immer gewissenhaft befolgt und ihnen noch einen weiteren hinzugefugt: Ein Terrorist braucht die stimulierende Wirkung von Aktion und Gefahr. Er selbst war darauf angewiesen wie ein Drogensuchtiger auf seinen Stoff.
Und das war auch der Grund, warum er sich uber das Bevorstehende wenig Illusionen machte.
Seit vier Monaten, seit seinem Flug nach London und der illegalen Pa?beschaffung, wurde er angetrieben von der allgegenwartigen Gefahr, der Lebensnotwendigkeit sorgfaltigster Planung und standiger Wachsamkeit und in den letzten Tagen schlie?lich von dem berauschenden Gefuhl des Erfolgs.
Doch nun, im Dschungel des peruanischen Hinterlands, war die Gefahr nicht mehr so gro?. Man mu?te zwar immer damit rechnen, da? plotzlich Regierungstruppen auftauchten, die zuerst ihre Maschinenpistolen sprechen lie?en und dann Fragen stellten, aber ansonsten war kaum etwas zu befurchten. Und hier, oder genauer in Nueva Esperanza, das sie in wenigen Stunden erreichten, mu?te Miguel auf zunachst unbestimmte Dauer bleiben, denn der Sendero Luminoso wollte es so.
Warum, wu?te er nicht.
Auch wu?te er nicht genau, wozu man die Gefangenen brauchte und was jetzt mit ihnen passieren wurde. Er wu?te nur, da? sie streng bewacht werden mu?ten. Vermutlich hatte man deshalb auf seiner Anwesenheit bestanden, da er fur seine Verla?lichkeit bekannt war. Alles andere lag hochstwahrscheinlich in den Handen von Abimael Guzman, dem Grunder von Sendero Luminoso, der sich selbst fur den unbefleckten maoistischen Jesus hielt, fur Miguel aber inzwischen nur noch ein rasender Irrer war. Naturlich nur, wenn Guzman noch lebte, denn Geruchte uber seinen Tod kamen mit der Bestandigkeit - und der Unzuverlassigkeit - des Dschungelregens.
Miguel ha?te den Dschungel, die Selva, wie die Peruaner ihn nannten. Er ha?te die allgegenwartige Feuchtigkeit, die Faulnis und den Zerfall, das Gefuhl des Eingeschlossenseins in diesem schnell wachsenden, undurchdringlichen Dickicht, das unaufhorliche, dissonante Summen der Insekten, bei dem die Sehnsucht nach wenigen Minuten der Stille und der Erholung immer starker wurde, die unzahligen, lautlos dahinhuschenden Schlangen. Und dieser Dschungel war riesig, fast doppelt so gro? wie Kalifornien; er bedeckte drei Funftel der Flache Perus, wahrend sich nur funf Prozent der Bevolkerung in ihm verloren.
Die Peruaner sprechen gerne von drei verschiedenen Perus: die tausend Meilen lange, dichtbevolkerte Kustenregion mit ihren Stadten, dem regen Handel und den belebten Stranden, die Berge der Sudlichen Anden, die in ihrer Gro?artigkeit denen des Himalaya in nichts nachstanden und in denen sich die Spuren uralter Inkakulturen fanden, und schlie?lich der Dschungel, die Amazonas-Selva - das undurchdringliche Reich der Indianer. Miguel mochte das erste und das zweite Peru. Doch nichts konnte seine Abneigung gegen das dritte mindern. Der Dschungel war
Seine Gedanken kehrten zum Sendero Luminoso zuruck, zum »Leuchtenden Pfad« der Revolution, ein Name, der aus den Schriften des verstorbenen peruanischen Marxisten und Philosophen Jose Carlos Mariategui stammte. 1980 trat Abimael Guzman in dessen Fu?stapfen und erklarte sich bald danach zum »vierten Schwert der Weltrevolution«, zum Nachfolger von Marx, Lenin und Mao Tse-tung. Alle anderen Revolutionare, auch Lenins Nachfolger in der Sowjetunion und Kubas Castro, tat Guzman verachtlich als farblose Scharlatane ab.
Die Guerillas des Sendero Luminoso waren uberzeugt, die existierende Regierung sturzen und das ganze Land beherrschen zu konnen. Aber nicht von heute auf morgen. Die Bewegung behauptete sogar, sie zahle die Zeit nicht in Jahren, sondern in Jahrzehnten. Bereits jetzt war der Sendero gro? und stark, seine Macht und seine Fuhrungskader wuchsen bestandig, und Miguel erwartete den Umsturz noch zu seinen Lebzeiten. Aber nicht aus diesem
Doch im Augenblick wartete Miguel auf Anweisungen, was mit den Gefangenen geschehen sollte, Anweisungen, die wahrscheinlich aus Ayacucho kamen, einer historischen Stadt in den Auslaufern der Anden, wo der Sendero fast unumschrankt herrschte. Miguel war es gleich, wer die Befehle gab, solange sie nur schnell kamen und ihm die Moglichkeit zum Handeln gaben.
Der Huallaga lag direkt vor ihnen - eine unerwartete Offnung in der beklemmenden Enge des Urwalds. Miguel blieb stehen und betrachtete den Flu?.
Breit und schlammig rotbraun vom Schlick der Anden, stromte der Huallaga trage auf den dreihundert Meilen entfernten Zusammenflu? mit dem Maranon zu, der sich wiederum bald darauf mit dem machtigen Amazonas vereinigte. Vor Jahrhunderten hatten die portugiesischen Eroberer das gesamte Amazonasgebiet
Beim Naherkommen bemerkte Miguel zwei holzerne Kahne, jeder knapp zwolf Meter lang und mit doppelten Au?enbordmotoren ausgestattet, die nahe am Ufer vertaut lagen. Gustavo, der Anfuhrer der kleinen Truppe, die sie an der Landepiste erwartet hatte, uberwachte das Verladen der Vorrate, die seine Manner mitgebracht hatten, und legte dann fest, wer in welchem Kahn fahren sollte. Die Gefangenen kamen in den ersten. Miguel bemerkte beifallig, da? Gustavo wahrend des Beladens als Vorsichtsma?nahme gegen ein plotzliches Auftauchen von Regierungstruppen zwei bewaffnete Posten aufgestellt hatte.
Da er mit dem Ablauf zufrieden war, sah er keinen Grund zum Eingreifen. Erst in Nueva Esperanza wollte er dann wieder das Kommando ubernehmen.
Fur Jessica verstarkte der Flu? noch das Gefuhl der Isolation. Fur sie war er das triste Tor zu einer unbekannten Welt, die nichts mit der zu tun hatte, die sie verlassen hatte. Mit vorgehaltenem Gewehr trieb man sie, Nicky und Angus durch das knietiefe Wasser zu einem der Kahne. Sie mu?ten hineinklettern und sich auf den feuchten Boden setzen, eine ebene Flache aus Brettern, die langs uber dem Kiel verliefen. Wenn sie wollten, konnten sie sich an ein einzelnes Brett lehnen, das im Bug des Kahns die Bordwande uberspannte, aber das bedeutete nur die Wahl zwischen zwei ahnlich unbequemen Positionen, die beide nicht lange auszuhalten waren.
Jessica merkte, da? Nicky bla? geworden war, ein heftiger Brechreiz schuttelte ihn. Obwohl nichts kam au?er ein bi?chen Schleim, hob und senkte sich sein Brustkorb. Jessica rutschte zu ihm, nahm ihn in den Arm und sah sich verzweifelt nach Hilfe um.
Sie entdeckte Narbengesicht, der vom Ufer zum Boot gewatet kam. Noch bevor Jessica etwas sagen konnte,
