tauchte die Frau auf, die Jessica schon ofters beobachtet hatte, und Narbengesicht befahl ihr: »Gib allen Wasser, dem Jungen zuerst.«
Socorro fullte eine Blechtasse mit Wasser und gab sie Nicky, der gierig trank. Sein Korper beruhigte sich wieder. Dann sagte er mit schwacher Stimme: »Ich habe Hunger.«
»Wir haben hier nichts zu essen«, erwiderte Baudelio. »Du mu?t warten.«
»Aber irgend etwas mu? doch da sein, das Sie ihm geben konnen«, rief Jessica entrustet.
Narbengesicht antwortete nicht, aber sein Befehl, den Gefangenen Wasser zu geben, hatte deutlich gemacht, welche Funktion er hatte, und Jessica erganzte deshalb vorwurfsvoll: »Sie sind doch Arzt!«
»Das tut hier nichts zur Sache.«
»Au?erdem ist er Amerikaner«, fugte Angus hinzu. »Hor dir nur seinen Akzent an.« Das Wasser schien Angus wieder Kraft gegeben zu haben, denn er wandte sich an Baudelio: »Nicht wahr, Sie Ungeheuer? Schamen Sie sich denn nicht?«
Doch Baudelio drehte sich einfach um und kletterte in das zweite Boot.
»Bitte, ich habe Hunger«, wiederholte Nicky. Und an Jessica gewandt: »Mom, ich habe Angst.«
Jessica druckte ihn an sich und entgegnete: »Ich auch, mein Liebling.«
Socorro, die alles gehort hatte, schien zu zogern. Dann griff sie in ihren Rucksack und zog eine gro?e Tafel Cadbury-Schokolade heraus. Schweigend ri? sie die Verpackung auf, brach einige Riegel ab und verteilte sie an die Gefangenen. Angus war der letzte, doch er schuttelte den Kopf. »Geben Sie meine dem Jungen.«
Verargert murmelte Socorro etwas vor sich hin und warf dann aus einem Impuls heraus die ganze Tafel ins Boot. Sie fiel Jessica vor die Fu?e. Socorro wandte sich ab und stieg in den zweiten Kahn.
Einige der Bewaffneten, die sie im Lastwagen und auf dem Dschungelpfad bewacht hatten, kletterten nun zu den Gefangenen, und beide Kahne setzten sich in Bewegung. Jessica bemerkte, da? auch die anderen Manner, die die Boote bewacht hatten, bewaffnet waren. Sogar die Steuermanner, die vor den beiden Au?enbordmotoren sa?en, hatten Gewehre auf den Knien und sahen aus, als wollten sie sie auch benutzen. Die Chancen fur eine Flucht, wenn auch nur eine ohne Ziel, schienen gleich Null.
Wahrend die Kahne stromaufwarts trieben, machte sich Socorro Vorwurfe wegen dem, was sie eben getan hatte. Sie hoffte, da? es niemand gesehen hatte, denn die Tatsache, da? sie den Gefangenen die gute Schokolade, die man in Peru nicht kaufen konnte, gegeben hatte, war ein Zeichen von Schwache, von torichtem Mitleid. Und das war fur eine Revolutionarin eine verabscheuungswurdige Empfindung.
Aber Socorro war nicht so gefestigt, wie sie es gerne gewesen ware, sie schwankte innerlich.
Erst vor knapp einer Woche hatte sie sich wieder einmal ins Gedachtnis gerufen, da? sie sich gegen solch banale Gefuhle wappnen musse. Es war der Abend nach der Entfuhrung gewesen, als die Frau, der Junge und der alte Mann bewu?tlos in dem provisorischen Sanitatszimmer in ihrem Unterschlupf in Hackensack lagen. Damals hatte Socorro sich wirklich bemuht, die Gefangenen zu hassen -
Als die Frau sie an diesem Morgen in der Hutte etwas fragte, obwohl Miguel Schweigen befohlen hatte, schlug Socorro bewu?t so hart zu, da? es die Frau zur Seite schleuderte. Da sie glaubte, Miguel sehe zu, wollte sie ihm einfach zeigen, da? sie seine Ma?nahmen unterstutzte. Doch schon Augenblicke spater schamte sie sich dessen.
Sie mu?te, sagte sie sich, nun endgultig und ein fur allemal all das aus ihrem Gedachtnis loschen, was sie einmal gemocht hatte - nein, alles, was sie geglaubt hatte zu mogen - in ihren drei Jahren in den Vereinigten Staaten. Sie mu?te Amerika hassen, hassen, hassen. Und diese Gefangenen ebenfalls.
Uber diesen Gedanken schlief Socorro ein, wahrend der Flu? und die dichtbewachsenen, unbewohnten Ufer an den Booten vorbeizogen. Etwa drei Stunden nach der Abfahrt wurden die Kahne schlie?lich langsamer und bogen in einen schmaleren Nebenflu? ein, dessen steile, hohe Ufer heranruckten. Sie naherten sich Nueva Esperanza, dachte Socorro, und dort wurde sie wieder starker werden und ihr revolutionares Feuer neu entfachen.
Als Baudelio sah, da? das vordere Boot in einen Nebenarm einbog, wu?te er, da? die Reise nun fast zu Ende war. Er war froh daruber, denn auch das Ende seiner Beteiligung an diesem Projekt war nun in Sicht, und er wurde bald wieder in Lima sein. Man hatte ihm versprochen, er durfe gehen, sobald er die Gefangenen gesund und wohlbehalten abgeliefert hatte.
Und gesund waren sie ja, trotz dieser entsetzlichen, feuchten Hitze.
So als hatte der Gedanke an die Feuchtigkeit Schleusen geoffnet, zog sich der Himmel plotzlich zusammen, und ein Wolkenbruch wuhlte den Flu? auf. In der Entfernung war zwar bereits ein Landungssteg mit vertauten Booten zu sehen, aber noch lagen einige Minuten Fahrt vor ihnen, und den Gefangenen und ihren Bewachern blieb nichts anderes ubrig, als sich na? regnen zu lassen.
Baudelio war der Regen gleichgultig, wie fast alles, was ihm widerfuhr, so auch die Beleidigungen, die ihm der alte Mann und die Frau an den Kopf geworfen hatten. Uber so etwas machte er sich schon seit langem keine Gedanken mehr, und jegliches menschliche Gefuhl gegenuber denen, die er behandelte, hatte er schon vor Jahren abgelegt.
Das einzige, wonach er sich in diesem Augenblick wirklich sehnte, war ein Drink, am besten gleich mehrere, denn Baudelio wollte sich so schnell wie moglich vollaufen lassen. Wahrend er auch weiterhin die Antabuse-Pillen nahm, die es ihm unmoglich machten zu trinken, ohne da? ihm entsetzlich schlecht wurde -Miguel bestand noch immer darauf, da? der alkoholsuchtige Arzt in seiner Gegenwart taglich eine Pille schluckte -, hatte er vor, damit aufzuhoren, sobald er sich von Miguel trennte, was in seinen Augen gar nicht fruh genug passieren konnte.
Es gab noch etwas, wonach Baudelio sich sehnte, nach seiner Frau in Lima. Er wu?te, da? sie eine Schlampe war, eine ehemalige Prostituierte, und da? sie ebensoviel trank wie er; aber in den Ruinen seines zerstorten Lebens war sie alles, was er noch hatte, und er vermi?te sie. Seine abgrundtiefe Einsamkeit war der Grund gewesen, warum er vor einer Woche trotz des Verbots uber eins der Funktelefone diese Frau angerufen hatte. Seitdem hatte er standig in der Angst gelebt, Miguel konnte es herausfinden. Doch offensichtlich hatte der von dem Anruf nichts gemerkt, und Baudelio war deswegen sehr erleichtert.
O Mann, einen Drink hatte er jetzt wirklich notig!
Die Schokolade war zwar kein dauerhafter Ersatz fur anstandige Nahrung, aber sie half uber den ersten Hunger hinweg.
Jessica wollte keinen Gedanken daran verschwenden, warum die Frau mit dem murrischen Gesicht ihnen spontan die Schokolade dagelassen hatte; sie war wahrscheinlich sehr launisch. So versteckte Jessica die Schokolade einfach in einer Tasche ihres Kleides, damit die Manner im Boot sie nicht entdeckten.
Wahrend der Fahrt stromaufwarts gab sie Nicky den gro?ten Teil davon, a? aber selbst auch etwas und bestand darauf, da? auch Angus sich etwas nahm. Es sei wichtig, sagte sie ihm leise, da? sie wieder zu Kraften kamen, denn nach der Fahrt in dem offenen Lastwagen, dem anstrengenden Dschungelmarsch und den Stunden im Boot waren sie alle sehr geschwacht.
Jessica merkte plotzlich, da? sie an der Lange von Angus' Bart die Dauer ihrer Bewu?tlosigkeit ablesen konnte. Es war ihr vorher gar nicht aufgefallen, doch die grauen Stoppeln in seinem Gesicht waren uberraschend lang. Als sie Angus dies sagte, griff er sich ans Kinn und schatzte, da? die letzte Rasur vier oder funf Tage her sein musse.
Vielleicht war das im Augenblick gar nicht wichtig, aber Jessica versuchte noch immer, so viele Informationen zu bekommen wie moglich, und deshalb blieb sie wahrend der Bootsfahrt auch wach.
Viel zu sehen gab es nicht, au?er dem dichten Blatterwerk an den Ufern und den vielfachen Windungen des Flu?es, der fast nie in einer geraden Linie zu verlaufen schien. Manchmal tauchten in der Entfernung Kanus auf, doch keines naherte sich ihnen.
Wahrend der ganzen Reise plagte Jessica ein standiger Juckreiz. Das erste, was sie nach dem Aufwachen in der Hutte gespurt hatte, waren die Insekten, die uber ihren Korper krabbelten. Nun merkte sie, da? es Flohe waren, die sich an ihr festgesetzt hatten und sie unaufhorlich bissen. Doch loswerden konnte sie die Insekten nur, wenn sie sich auszog. Sie hoffte, da? es an dem Ort, zu dem man sie und die anderen brachte, genug Wasser gab, um die Flohe abzuspulen.
Wie alle anderen wurden auch Jessica, Nicky und Angus von dem Wolkenbruch kurz vor der Landung in Nueva Esperanza bis auf die Haut durchna?t. Als ihr Boot dann an dem holzernen Landungssteg festmachte, horte
