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Die Flotteneinheiten formierten sich zu einem weit auseinandergezogenen Keil und beschleunigten. Es war keine gro?e Streitmacht; gemessen an der schwarzen Unendlichkeit ringsum war sie ein Nichts, eine kleine Ansammlung winziger Staubteilchen. Ihren Kern stellte die „Sabik“ dar, ein veraltetes Schlachtschiff, fur das Saxo die letzte Station vor der Verschrottung war. Niemand hatte damit gerechnet, da? sie noch einmal zum Einsatz kame. Dann waren da noch der Leichte Kreuzer „Umbriel“, ebenso alt und mude, und die Zerstorer „Antarctica“, „Neu-Brasilien“ und „Murdochsland“. Die beiden Aufklarer „Encke“ und „Ikeya-Seki“ zahlten nicht als Kampfeinheiten; sie verfugten nur uber je ein Energiegeschutz, und ihr einziger wirklicher Wert bestand in Geschwindigkeit und Manovrierfahigkeit. Doch ihnen fiel die eigentliche Arbeit zu, wahrend die anderen nur Hilfsdienste leisten sollten.
Die Flotte lief mit gedrosselten Maschinen. Die zuruckzulegende Entfernung betrug nur einige Lichttage, und man wollte die Merseier nicht vorzeitig aufmerksam machen. Kommandant Einarsen wunschte dieses „Wasser“ vorsichtig zu befahren.
Aber als vierundzwanzig Stunden ohne Zwischenfall vergangen waren, befahl er, da? die „Neu-Brasilien“ mit Uberlichtgeschwindigkeit ins Zielgebiet vorsto?e. Beim ersten Anzeichen feindlicher Aktivitat sollte sie sich zuruckziehen.
Flandry und Dragoika sa?en in der Offiziersmesse der „Sabik“, zusammen mit Leutnant Sergei Karamzin, der gerade Freiwache hatte. Flandry steckte wieder in einer hellblauen Marineuniform, eingefugt in die Disziplin und Routine des Borddienstes. Er war sich selbst nicht klar, ob es ihm gefiel.
Wenigstens war seine Position erfrischend anomal. Kommandant Einarsen war entsetzt gewesen, als Dragoika an Bord gekommen war — ein fremdes, in der fruhen Eisenzeit lebendes Wesen in seinem Schiff? Unglaublich! — , aber der Befehl von Enriques hatte fur Interpretationen keinen Raum gelassen. Dieses Wesen war eine wichtige Personlichkeit und konnte Schwierigkeiten machen, wenn man nicht auf ihre Wunsche einging. So war Flandry kurzerhand zum „Verbindungsoffizier“ ernannt worden, freilich nur zu dem Zweck, da? er seine Wilde beaufsichtigte und daran hinderte, uberall im Schiff herumzustreunen. Flandry seinerseits hatte durchblicken lassen, da? besagte wichtige Personlichkeit den Problemen der Astronautik lebhaftes Interesse entgegenbringe und uber die Entwicklungen auf dem laufenden gehalten werden musse. Fur einen Neunzehnjahrigen eine verzeihliche Luge, die ihm immerhin zu einer direkten Verbindung mit der Brucke verholfen hatte.
Flandry versuchte dem Leutnant ein Bild von Merseia zu geben, doch es wollte ihm nicht recht gelingen. Irgendwie blieb seine Darstellung blutleer. Man konnte beschreiben, aber man konnte die Wirklichkeit nicht wieder zum Leben erwecken. Er wechselte das Thema und begann von Starkad zu erzahlen, von der grauen Dammerung uber der See, von Segelschiffen im Sturm, von einer alten, stolzen Stadt, von marchenhaften Dingen am Grund des Ozeans und von den beiden tapferen Rassen, die den Planeten bewohnten.
„… und dann ist da noch eine sehr interessante palaolithische Kultur auf einer Insel namens Rayadan…“
Die Alarmsirenen heulten.
Karamzin sturzte hinaus, bevor Flandry seinen Satz vollenden konnte. Die heulenden Signale durcheilten das ganze Schiff. Dragoika zog ihr Schwert. „Was ist geschehen?“ schrie sie erschrocken.
„Alle Mann auf Gefechtsstationen“, sagte Flandry. „Ein Feind ist gesichtet worden.“
„Wo ist er?“
„Drau?en. Steck das Schwert weg. Kraft und Mut werden dir dabei nicht helfen. Komm mit.“
Sie schlangelten sich zwischen Mannern durch, die in vollem Lauf zu ihren Stationen rannten. Hinter der Navigationsbrucke befand sich ein Kartenraum, der mit Bildschirmen ausgestattet und an die Gegensprechanlage der Brucke angeschlossen war. Diesen Raum hatte Kapitan Einarsen der „wichtigen Personlichkeit“ und ihrem Begleiter zugedacht. Zwei Raumanzuge hingen bereit, von denen einer fur die Luftdruckverhaltnisse auf Starkad modifiziert war. Flandry half Dragoika hinein, bevor er sich selbst fertig machte. „Hier, das mu?t du so zumachen. Und nun halt den Atem an, wahrend wir die Helme austauschen.“ Er schraubte ihren Helm auf, uberprufte die Anschlusse und kletterte in seinen eigenen Anzug, ohne die Sichtscheibe zu schlie?en. Er war noch nicht fertig, als sich in seinem Kopfhorer eine Stimme meldete.
„Achtung, Achtung. Kapitan an alle Offiziere und Mannschaften. ›Neu-Brasilien‹ meldet zwei fremde Einheiten in der Nahe des Zielgebietes. Sie befindet sich auf dem Ruckweg, aber der Gegner hat die Verfolgung aufgenommen. Wir beschleunigen. Gefechtsstationen bitte Bereitschaft melden.“
Flandry stellte den Bildschirm auf das Gerat der Brucke ein und sah den sternenbesaten Raum. Sieben grune Punkte verschiedener Gro?en bewegten sich langsam vor diesem Hintergrund. „Siehst du“, sagte Flandry und zog Dragoika naher, „das sind unsere Schiffe.“ Zwei rote Punkte erschienen. „Und das ist der Feind, soweit wir seine Position errechnen konnen. Die Punkte sind gro?, das bedeutet, da? wir sehr starke Maschinen festgestellt haben. Ich wurde sagen, da? ein Schiff etwa unsere Gro?e hat, wenn es auch neuer und besser bewaffnet sein wird. Das andere scheint ein Kreuzer zu sein.“
Sie klatschte in die behandschuhten Hande. „Das ist ja wie ein Wunder!“ rief sie begeistert.
„Aber dieses Bild nutzt nicht viel. Es gibt einen Uberblick uber die Lage, das ist alles. Der Kapitan richtet sich nach den Positionsangaben und Berechnungen unserer Maschinen.“
Dragoikas Enthusiasmus verflog. „Immer Maschinen“, sagte sie unwillig. „Nichts als Maschinen. Ich bin froh, da? ich nicht in deiner Welt lebe, Dommaneek.“
Ich furchte, es wird dir nichts anderes ubrigbleiben, dachte er duster. Wenigstens vorubergehend. Wenn wir mit dem Leben davonkommen.
„Achtung!“ kam es von der Brucke. „Kapitan an alle Offiziere und Mannschaften. Sechs merseiische Kriegsschiffe, die bisher in einer Umlaufbahn um Saxo gewesen sind, haben ihren Kurs geandert und versuchen mit Hochstgeschwindigkeit zu ihren beiden Schwesterschiffen zu sto?en. Wir fangen verschlusselte Meldungen auf. Ein Angriff ist zu erwarten. Erste Feindberuhrung in etwa zehn Minuten. Es handelt sich um die folgenden Einheiten…“
Flandry zeigte Dragoika den dreidimensionalen Bildschirm. Von der durchscheinenden Kugel, die Saxo darstellte, hatten sich sechs winzige Lichtfunken getrennt. „Das sind ein Leichter Kreuzer und funf Zerstorer“, sagte er.
„Acht gegen funf von uns“, sagte sie, und ihre Augen blitzten vor Kampfeseifer. „Aber wir werden die ersten beiden allein erwischen.“
„Richtig. Ich frage mich…“ Flandry probierte eine andere Einstellung. Sie hatte blockiert sein sollen, aber jemand hatte es vergessen, und er sah uber Kapitan Einarsens Schulter.
Ja, ein Merseier! Die Verbindung war schon da. Und es schien ein ranghoher Offizier zu sein. „… Sperrgebiet“, sagte er mit starkem Akzent. „Drehen Sie ab.“
„Meine Regierung erkennt im freien Raum keine Beschrankungen an“, erwiderte Einarsen. „Wenn Sie uns behindern wollen, tun Sie es auf eigene Gefahr.“
„Welches Ziel haben Sie? Was bezwecken Sie mit Ihrem Flottenmanover?“
„Daruber bin ich Ihnen keine Auskunft schuldig, Fodaich. Lassen Sie uns in Frieden vorbei, oder mussen wir es zum Kampf kommen lassen?“
Flandry trocknete sich die Stirn. Im Raum war es hei?, oder war es sein Anzug, der ihn schwitzen machte?
„Passieren Sie, meinetwegen“, sagte der Merseier langsam. „Unter Protest lasse ich Sie durch.“
„Sehr gut“, antwortete Einarsen. „Aber in Anbetracht der Tatsache, da? Sie im Begriff sind, sich mit anderen Einheiten zu vereinigen, mu? ich auf einer Garantie Ihres guten Willens bestehen. Drehen Sie sofort in Richtung Beteigeuze ab, ohne die Geschwindigkeit zu verringern, bis ich nach Saxo zuruckkehre.“
„Das ist eine emporende Bedingung! Sie haben kein Recht…“
„Ich habe vielleicht nicht das Recht, aber ich habe die Verantwortung fur meine Flotte. Wenn Ihre Regierung darin einen Anla? sehen sollte, bei meiner Regierung zu protestieren, so mag sie es tun. Falls Sie sich nicht wie verlangt zuruckziehen, werde ich Ihre Absichten als feindselig betrachten und entsprechende Ma?nahmen treffen. Guten Tag.“ Der Bildschirm wurde dunkel.
Flandry zitterte vor Erregung. Stammelnd ubersetzte er Dragoika den Wortwechsel. Zu seiner Uberraschung blieb sie kuhl und gefa?t. „La? uns das andere Bild sehen“, sagte sie.
Die Merseier befolgten nicht Einarsens Befehl, aber sie drehten ab, jedes Schiff in eine andere Richtung.