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Flandry war in Ujanka. Der Haupthafen von Kursoviki lag in einer weiten, von Hugeln eingerahmten Bucht an der Mundung des Pechanikiflusses. Im Westen des Flusses befanden sich Hauptquartier und Verwaltungsgebaude der Schwesternschaft. Im Norden sprenkelten die Hauser der Reichen das Hugelland, Villen mit ausgedehnten Garten. Aber trotz ihres Ranges — sie war nicht nur Kapitan der „Archer“, sondern auch am Besitz der gesamten Flotte beteiligt und gehorte der Schwesternschaft als Sprecherin in Fragen der Handelsschiffahrt an — lebte Dragoika im alten Stadtteil ostlich des Flusses.
„Hier haben meine Mutter seit Grundung der Stadt gelebt“, erzahlte sie ihrem Gast. „Zu viele Erinnerungen hangen an diesem Haus, als da? ich es aufgeben konnte.“ Sie machte eine umfassende Gebarde, die den ganzen Raum einschlo?, einen Raum, der in seiner schon grotesken Uberfulle an ein altmodisches Museum erinnerte. Tierfelle, Teppiche, Mobel, Bucher, Waffen, Bronzevasen und — kandelaber, Seemuscheln, Glaser und Erinnerungsstucke aus anderen Landern lie?en kaum genug Platz, da? man sich setzen konnte.
Flandry trat an ein Fenster. Der Raum befand sich in der dritten Etage. Unten wand sich eine schmale, mit runden Steinen uneben gepflasterte Gasse zwischen den verschachtelten Hausern zum Hafen hinunter. Zwei Manner mit gezogenen Schwertern patrouillierten mit federnden Schritten am Haus vorbei. Irgendwo pochten gedampfte Trommelschlage. Es war sonnig, und ein kalter Wind fegte die Dacher. Iguraz, ein stattlicher alter Mann, der Flandry hergefuhrt hatte und der als eine Art Hausmeister zu fungieren schien, zupfte ihn am Armel, und Flandry folgte dem Beispiel seiner Gastgeberin und lie? sich auf einem geschwungenen Diwan nieder.
„Ich verstehe euch Leute nicht“, sagte Dragoika. „Es ist gut, dich wiederzusehen, Dommaneek, aber ich verstehe dich nicht. Was ist gegen einen Kampf einzuwenden? Dann und wann mu? man es wagen. Und nun, nachdem wir die vaz-Siravo besiegt haben, kommst du her und redest, wir sollten Frieden mit ihnen machen!“
„Man hat mir befohlen, die Idee vorzutragen“, erwiderte Flandry unbehaglich.
„Aber sie gefallt dir selbst nicht, wie?“ fragte Iguraz. „Warum sprichst du dann davon?“
„Wurdet ihr eine Befehlsverweigerung dulden?“ fragte Flandry.
„Nicht auf See“, gab Dragoika zu. „Aber an Land ist es anders.“
„Nun, fur uns ist die Situation hier wie auf See“, murmelte Flandry.
„Warum erledigt ihr nicht die vaz-Siravo fur uns, wenn ihr so machtig seid?“ fragte Ferok.
Dragoika uberraschte Flandry dadurch, da? sie fur ihn antwortete. „Keine solchen Reden! Wir wollen die Ordnung der Welt nicht durcheinanderbringen.“ Zu Flandry gewandt fuhr sie fort: „Die Schwesternschaft will den vaz-Siravo nicht ubel. Sie mussen wie andere gefahrliche Tiere auf Distanz gehalten werden. Wenn sie uns in Ruhe lie?en, gabe es keinen Grund zum Kampfen.“
„Vielleicht denken die vaz-Siravo genauso“, sagte Flandry. „Seit eure Leute sich der Seefahrt und der Fischerei zugewandt haben, macht ihr ihnen Schwierigkeiten.“
„Die Meere sind weit. Sollen sie sich von unseren Inseln fernhalten, und alles ist gut.“
„Das konnen sie nicht. Die Sonne bringt das Leben hervor, auch im Wasser, und darum sind sie zur Ernahrung auf die flachen Kustengewasser angewiesen. Au?erdem fahrt ihr weit hinaus, um Schleppnetzfischerei zu betreiben und gro?e Fische zu jagen, vom Abernten der Algenfelder gar nicht zu reden. Sie brauchen diese Dinge auch.“ Flandry brach ab, wollte sich durchs Haar fahren und stie? gegen seinen Helm. „Ich selbst bin nicht gegen einen Frieden in der Zletovarsee. Was kann es schaden, mit den vaz-Siravo zu verhandeln?“
„Wie willst du das machen?“ konterte Iguraz. „Jeder Toborko, der zu ihnen hinabtauchte, ware ihre Beute. Sie wurden ihn toten, bevor er zum Reden kame.“
„Sei still“, befahl Dragoika. „Ich habe dich mitkommen lassen, weil du die Schiffsliste hast, und Ferok, weil er Dommaneeks Freund ist. Aber solche Gesprache sind Frauensache.“
Die Getigerten nahmen den Tadel gutmutig hin. „Die Verhandlungsdelegation wurde aus meinen Leuten bestehen“, erlauterte Flandry seinen Plan, „aber wir wollen das Seevolk nicht unnotig beunruhigen, und deshalb konnen wir keins von unseren Fahrzeugen benutzen. Also bitten wir euch um Schiffe. Es mussen drei oder vier sein, damit Angreifer abgeschreckt werden. Naturlich mu?te die Schwesternschaft alle etwa ausgehandelten Friedensbedingungen akzeptieren.“
„Das ist nicht so einfach“, meinte Dragoika. Sie rieb sich das dreieckige Kinn. „Eine allgemeine Regelung wurde die Interessen vieler Volker der vaz-Siravo beruhren. Immerhin… ein lokaler Waffenstillstand… hm, ich mu?te mit den ubrigen Mitgliedern der Schwesternschaft daruber reden.“
Und dann kam ein Hornsignal vom Hafenkastell. Metallisch und drohnend, von Blasebalgen erzeugt, heulte es uber die Stadt, da? die Hugel ein vielfaches Echo zuruckwarfen. Vogel erhoben sich in Schwarmen aus den Baumwipfeln.
Ferok sprang auf, ri? Schwert und Schild an sich und raste zur Tur hinaus, bevor Flandry wu?te, was geschah. Iguraz hob seine schwere Streitaxt auf. Dragoika lauschte mit finsterer Miene.
„Ein Angriff?“ rief Flandry zwischen zwei Hornsto?en. „Aber das ist doch unmoglich!“
Er wu?te, da? die Bucht zum Meer hin durch eine Reihe alter Schiffe abgesperrt war, die dort verankert und untereinander durch Ketten verbunden lagen. Selbst wenn Unterwasserschwimmer durch die bewachte Sperre kamen, hatten sie bis zum Hafen noch zwei bis drei Kilometer zuruckzulegen. Naturlich konnten sie au?erhalb der Stadt an irgendeiner Uferstelle an Land gehen und auf ihren halbmechanischen Beinen durch das Hinterland oder die Kuste entlang gegen die Stadt marschieren. Aber das erschien Flandry im hochsten Ma? unwahrscheinlich. Auf dem Land waren sie zu unbeholfen und den Einheimischen von vornherein unterlegen. Ujanka hatte seit Hunderten von Jahren keinen Krieg gesehen, und die Angriffe fruherer Zeiten waren von anderen Landbewohnern ausgegangen…
„Gehen wir hinauf“, sagte Dragoika ruhig und erhob sich. „Von oben haben wir einen besseren Uberblick.“ An der Tur hangte sie sich ohne erkennbare Hast ein Schwert uber die Schulter; erst jetzt sah Flandry, da? ihre prachtige Ruckenmahne gestraubt war.
Er folgte ihr in eine Diele, die von einer drei Meter hohen Steinskulptur beherrscht wurde. Im Hintergrund fuhrte eine Wendeltreppe aufwarts. Seine Schultern kratzten an den Wanden. Hinter ihm schnaufte Iguraz.
Sie waren noch nicht halb oben, als ein dumpfes Krachen in die dunkle Enge hereindrang. Das ganze Haus schwankte. Dragoika strauchelte und fiel zuruck. Flandry fing sie auf. Unter dem samtweichen Pelz war ihr Korper wie Stahl. Drau?en polterte und prasselte es wie einsturzendes Mauerwerk.
Sie kamen auf dem Turm des Hauses ans Licht, als eine zweite Detonation erfolgte. Flandry rannte an die Mauerbrustung und uberblickte die steilen roten Ziegeldacher. Die Enden der Dachbalken waren mit reichem Schnitzwerk geschmuckt Kopfe von mythischen Ungeheuern wechselten mit Blumenmotiven ab. Flandrys Blick uberflog die dichtgedrangten Dacher der Altstadt, die Hugel, smaragdgrun mit wei? hineingetupften Villen, das Hafenkastell — und dann sah er die Rauchsaule.
„Dort!“ schrie Ferok, mit dem ausgestreckten Arm auf das Meer hinausweisend. Flandry blinzelte ins Sonnenlicht, das auf dem Wasser der Bucht tanzte. Drei oder vier der Sperrschiffe standen in Flammen, aber mehr sah er nicht.
Dragoika hatte die Plane von einem kleinen Teleskop genommen, das in der Mitte der Plattform auf einen Sockel montiert war. Flandry stellte sich neben sie und wartete, bis sie ihn ans Okular lie?.
Wo die Bucht sich zum Meer hin weitete, schwamm ein langlicher dunkler Korper wie ein Wal zwischen den gischtenden Schaumkronen. Seine Haut war aus Metall, und mittschiffs entragte ihm ein Turm. Flandry glaubte Gestalten zu sehen, die aus dem offenen Turmluk kletterten und hinter der Brustwehr hin und her liefen. Auf dem Vorschiff und achtern waren zwei niedrigere Turme, flach und abgerundet und mit je einem Geschutz bestuckt. Wahrend er beobachtete, spuckte einer der Geschutzturme Feuer. Einen Augenblick spater stieg eine wei?e Staubwolke aus der hohen, zinnenbekronten Wand des Hafenkastells. Ein Teil der Mauer brach herunter und begrub den Kai und eins der dort liegenden Schiffe unter sich. Einer der beiden Masten brach, der Rumpf bekam Schlagseite und sackte plotzlich auf den Grund des Hafenbeckens ab, da? nur noch der Heckaufbau aus dem Wasser ragte. Wie ein Donnerschlag rollte die Explosion uber die Stadt.
„Teufel!“ murmelte Flandry. „Ein richtiges U-Boot!“
Was er im Teleskop sah, hatte nichts mit dem primitiven Wasserfahrzeug gemeinsam, das er von Bord der „Archer“ gesehen hatte. Dies hier war Merseierarbeit, wahrscheinlich mit Nuklearantrieb und sicherlich von