Wegesrand -schlie?lich handelte es sich um einen Cicero, der nun auf dem Weg zu seinen Vorfahren war, und der Name galt inzwischen etwas in Rom. Auf dem gefrorenen Feld lag der Korper auf dem Scheiterhaufen, und der gro?e Redner versuchte sich an einer kurzen Lobrede. Doch die Worte wollten ihm nicht gehorchen, und er verstummte. Er war nicht einmal in der Lage, das Holz zu entzunden. Er gab die Fackel an Quintus weiter, der das fur ihn erledigte. Als die Flammen hoch aufloderten, streuten die Trauernden duftende Gewurze ins Feuer, und der parfumierte, von orangen Funken durchsetzte Rauch stieg hinauf zur Milchstra?e. An jenem Abend diktierte mir der Senator in seinem Arbeitszimmer einen Brief an Atticus, und es ist sicher der Zuneigung geschuldet, die Lucius auch in dessen Herzen entfacht hatte, dass dies der erste von den Hunderten von Ciceros Briefen war, den Atticus aufbewahrte.
»Du kennst mich so gut, dass du besser als die meisten ermessen kannst, wie tief mich der Tod meines Vetters Lucius trifft, welchen Verlust er fur mein offentliches wie privates Leben bedeutet. All die Freude, die einem Menschen Freundlichkeit und Warme bereiten konnen, habe ich von ihm empfangen.«
*
Obwohl Lucius viele Jahre in Rom gelebt hatte, war es immer sein Wunsch gewesen, dass seine Asche in der Familiengruft in Arpinum beigesetzt werden sollte. Also machten sich die Cicero-Bruder, die ihren Vater schon vorab uber ihr Kommen informiert hatten, am Morgen nach der Einascherung zusammen mit ihren Frauen auf die Dreitagesreise Richtung Osten. Trauerzeit hin oder her, Cicero konnte es sich nicht erlauben, seine anwaltschaftliche und politische Korrespondenz zu vernachlassigen, sodass ich mit nach Arpinum fuhr. Trotzdem war es das erste und, soweit ich mich erinnern kann, auch das einzige Mal in all unseren gemeinsamen Jahren, dass Cicero auf einer Reise keine offiziellen Geschafte erledigte. Er sa?, das Kinn auf die Hand gestutzt, auf seinem Platz und tat nichts, als auf die voruberziehende Landschaft zu starren. Er und Terentia fuhren in einer Kutsche, Quintus und Pomponia in einer anderen. Die beiden stritten pausenlos, sodass Cicero - wie ich einmal zufallig mitbekam - seinen Bruder beiseite nahm und ihn anflehte, er solle doch, und sei es nur um Atticus' willen, endlich seine Ehe in Ordnung bringen. »Wenn dir Atticus' Meinung so wichtig ist«, erwiderte Quintus mit einigem Recht, »dann heirate
Angesichts der Tatsache, dass der Vater bereits uber sechzig gewesen war und schon seit vielen Jahren gekrankelt hatte, war sein Tod ein geringerer Schock als der von Lucius (die Nachricht von dessen Tod hatte der fragilen Gesundheit des alten Mannes wohl den letzten Schlag versetzt). Trotzdem, das eine mit Pinien- und Zypressenzweigen geschmuckte Trauerhaus zu verlassen, um wenige Tage spater ein ebenso geschmucktes Haus zu betreten, bildete den Gipfel an Schwermut, die noch verschlimmert wurde durch den unglucklichen Zufall, dass wir in Arpinum am funfundzwanzigsten November eintrafen, dem Tag, der Proserpina geweiht war, der Konigin des Hades, die die Fluche des Menschen uber die Seelen der Toten bringt.
Die Cicero-Villa lag drei Meilen au?erhalb der Stadt, am Ende einer steinigen, gewundenen Stra?e, in einem von hohen Bergen gesaumten Tal. Es war kalt in dieser Hohenlage, die Gipfel ringsum steckten schon unter jungfraulichen Hauben aus Schnee, die sie bis in den Mai hinein tragen wurden. Ich war seit zehn Jahren nicht mehr hier gewesen, und alles genau so vorzufinden, wie ich es in Erinnerung hatte, rief seltsame Gefuhle in mir hervor. Anders als Cicero hatte ich das Leben auf dem Land dem in der Stadt immer vorgezogen. Ich war hier geboren, meine Mutter und mein Vater hatten hier gelebt und waren hier gestorben. Im ersten Vierteljahrhundert meines Lebens hatten diese sanft hugeligen Wiesen und kristallklaren Flusse mit ihren hohen Pappeln und grunen Ufern die Grenzen meiner Welt markiert. Als Cicero sah, wie bewegt ich war, und weil er wusste, wie ergeben ich meinem alten Herrn gedient hatte, bot er mir an, ihn und Quintus zur Totenbahre zu begleiten, um Abschied zu nehmen. Auf gewisse Weise schuldete ich ihrem Vater genauso viel wie sie. Ich war ihm von klein auf sympathisch gewesen, er hatte mich unter seine Fittiche genommen und mir eine Ausbildung zukommen lassen, sodass ich ihm mit seinen Buchern helfen konnte. Und er hatte mir die Moglichkeit geboten, mit seinem Sohn auf Reisen gehen zu durfen.
Als ich mich nach vorne beugte, um seine kalte Hand zu kussen, hatte ich das starke Gefuhl, nach Hause zuruckgekehrt zu sein, und mir kam der Gedanke, dass ich vielleicht ganz hierbleiben konnte, dass ich als Verwalter arbeiten, ein Madchen meines Standes heiraten und Kinder haben konnte. Meine Eltern waren beide, obwohl sie Haussklaven und keine Arbeitssklaven auf dem Feld gewesen waren, schon mit Anfang vierzig gestorben. Ich musste damit rechnen, dass auch mir nur noch zehn Jahre blieben, hochstens. Die Vorstellung tat weh, dass ich diese Welt vielleicht ohne Nachkommen verlassen wurde. Ich nahm mir vor, Cicero bei erstbester Gelegenheit darauf anzusprechen.
Und so kam es, dass ich ein ziemlich tiefgrundiges Gesprach mit ihm fuhrte. Am Tag nach unserer Ankunft wurde mein alter Herr in der Familiengruft beigesetzt, die Alabasterurne mit Lucius' Asche stellte man neben ihn, und zum Abschluss wurde, um diesen Ort zu weihen, ein Schwein geopfert. Am nachsten Morgen unternahm Cicero einen Rundgang uber sein frisches Erbe. Ich begleitete ihn fur den Fall, dass er mir etwas diktieren wollte, denn das Anwesen, das so hoch beliehen war, dass es fast keinen Wert mehr darstellte, war vollig heruntergekommen und bedurfte dringend der Renovierung. Cicero sagte, dass ursprunglich seine Mutter den Besitz verwaltet habe, dass sein Vater ein Traumer gewesen und den Gutsverwaltern oder Lieferanten nie gewachsen gewesen sei und dass deshalb nach dem Tod seiner Mutter alles nach und nach verrottet sei. Das war, glaube ich, nach zehn Jahren in seinen Diensten das erste Mal, dass er mir gegenuber seine Mutter erwahnte. Sie hatte Helvia gehei?en und war schon vor zwanzig Jahren gestorben, etwa um die Zeit, als er als junger Mann zur Ausbildung nach Rom geschickt worden war. Ich selbst konnte mich kaum noch an sie erinnern au?er daran, dass sie im Ruf stand, eine au?erst harte und bosartige Frau gewesen zu sein - die Art von Herrin, die die Kruge markierte, damit niemand etwas stahl, und die einen Sklaven, den sie des Diebstahls verdachtigte, mit dem gro?ten Vergnugen auspeitschte.
»Nie kam ihr ein lobendes Wort uber die Lippen, Tiro«, sagte er. »Weder fur mich noch fur meinen Bruder. Und trotzdem habe ich alles versucht, ihr zu gefallen.« Er blieb stehen und schaute wehmutig uber die Felder zu dem schnell flie?enden, eiskalten Fluss, der Fibrenus hei?t und in dessen Mitte sich eine winzige Insel mit einem Waldchen und einem kleinen, halb zerfallenen Pavillon befindet. »Da bin ich als Junge oft gewesen«, sagte er. »Wie viele Stunden ich da gesessen habe! Ich habe davon getraumt, ein zweiter Achilles zu werden, wenn auch im Gerichtshof, nicht auf dem Schlachtfeld. Du kennst ja deinen Homer: >Alle ubertrumpfen, besser sein als alle anderen!<«
Er schwieg eine Zeit lang, sodass ich die Gelegenheit nutzte und ihm von meinem Plan erzahlte. Ich plapperte einfach drauflos und sagte ihm, dass ich vielleicht hierbleiben und fur ihn das Gut wieder auf Vordermann bringen konnte. Wahrenddessen starrte er weiter hinuber auf die Insel aus seinen Kindertagen. »Ich kann dich sehr gut verstehen«, sagte er seufzend, als ich fertig war. »Ich fuhle ganz genauso. Dies ist fur mich und meinen Bruder die wahre Heimat. Wir stammen hier aus der Gegend, aus einer sehr alten Familie. Hier sind die Wurzeln unserer Brauche und unseres Geschlechts, vieles hier erinnert mich an meine Vorvater. Was soll ich dir noch sagen?« Er drehte sich um und schaute mich an. Mir fiel auf, wie klar und blau seine Augen waren, trotz der vielen Tranen, die er in den letzten Tagen vergossen hatte. »Aber bedenke, was wir in dieser Woche gesehen haben - die leeren, fuhllosen Hullen derer, die wir geliebt haben -, und bedenke die schreckliche Prufung, die der Tod einem Menschen auferlegt.« Er verstummte und schuttelte plotzlich heftig den Kopf, als wolle er einen Albtraum verscheuchen, und wandte dann seine Aufmerksamkeit wieder der Landschaft zu. »Eins ist sicher, Tiro, ich fur meinen Teil habe nicht vor zu sterben, ohne auch die letzte Unze meines Talents genutzt zu haben, ohne auch noch die letzte Meile marschiert zu sein, die die Kraft meiner Beine mir ermoglicht. Die Menschen werden sich an mich erinnern, Tiro -
Und damit war mein pastorales Idyll zu Grabe getragen. Wir gingen zum Haus zuruck, und spater am Nachmittag - vielleicht war es aber auch erst am nachsten Tag: die Erinnerung spielt einem manchmal solche Streiche - horten wir von der Stra?e, die in die Stadt fuhrte, das schnell lauter werdende Gerausch von Pferdehufen. Es hatte angefangen zu regnen, daran kann ich mich noch erinnern, und wir waren alle gereizt, weil wir das Haus nicht verlassen konnten. Cicero las, Terentia nahte, Quintus machte Fechtubungen, und Pomponia hatte sich mit Kopfschmerzen auf das Sofa gelegt. (Sie behauptete hartnackig, dass Politik »grasslich langweilig« sei, was Cicero in stumme Raserei versetzte. »Wie kann man blo? so einen Unsinn reden?«, sagte er einmal zu mir. »Politik und langweilig? Politik ist Geschichte in Aktion. Welcher andere Bereich des Lebens weckt so das Erhabenste wie das Niedertrachtigste im Menschen? Oder ist so aufregend? Oder entblo?t so anschaulich unsere Starken und