Wahlbezirk. Nachdem sich die ersten siebzehn der funfunddrei?ig Bezirke mit uberwaltigender Mehrheit fur Octavius' Amtsenthebung ausgesprochen hatten, unterbrach Gracchus die Abstimmung und forderte Octavius auf, sein Veto zuruckzuziehen. Dieser lehnte ab, worauf Gracchus »die Gotter als Zeugen anrief, dass es nicht seine Absicht gewesen sei, seinen Kollegen aus dem Amt zu entfernen«, dann den achtzehnten Bezirk abstimmen lie? und wieder die Mehrheit erzielte. Daraufhin wurde Octavius als Volkstribun abgesetzt (»... zuruckgestuft auf den Status des Privatmannes, verschwand Octavius unbemerkt aus der Stadt ...«) und das Ackergesetz verabschiedet. Aber die Aristokraten nahmen wenige Monate spater Rache - woran Crassus Cicero erinnert hatte. Gracchus wurde im Tempel der Fides umzingelt, mit Stocken und Knuppeln zu Tode geprugelt und seine Leiche in den Tiber geworfen.

Ich loste die kleine, mit einer Kordel befestigte Wachstafel von meinem Handgelenk und zuckte den Griffel. Ich wei? noch, dass ich mich umschaute, bevor ich anfing, die relevanten Stellen aus den Annalen abzuschreiben. Ich verstand jetzt, warum Cicero so viel Wert auf Geheimhaltung gelegt hatte, und wollte sichergehen, dass ich auch wirklich allein war. Meine Finger waren eiskalt, und das Wachs war hart; ich produzierte eine grassliche Kritzelei. Einmal stand plotzlich der Patron des Archivs, Catulus hochstpersonlich, in der Tur und schaute in meine Richtung. Im ersten Augenblick glaubte ich, mein rasendes Herz wurde mir die Rippen zerbrechen. Aber dann fiel mir ein, dass der alte Mann kurzsichtig war und dass er ohnehin zu der Sorte Politiker gehorte, die jemanden wie mich nie wiedererkennen wurde. Er sprach ein paar Minuten mit einem seiner Freigelassenen und ging dann wieder. Ich beendete meine Abschrift und musste mich zusammenrei?en, das Gebaude normalen Schrittes zu verlassen. Ich stieg die vereisten Treppenstufen hinunter, uberquerte das Forum und ging weiter in Richtung Ciceros Haus, wobei ich die ganze Zeit die Wachstafel fest an meine Brust druckte. Ich hatte das Gefuhl, in meinem ganzen Leben noch keine wichtigere Arbeit erledigt zu haben.

Als ich wieder nach Hause kam, sa? Cicero in seinem Arbeitszimmer noch gemutlich mit Antonius Hybrida zusammen, beendete allerdings das Gesprach, als er mich neben der Tur stehen sah.

Hybrida war einer jener gebildeten, feingliedrigen Burschen, die sich und ihr Aussehen mit Wein ruiniert hatten. Obwohl ich an der Tur stand, stieg mir sein Atem in die Nase: Er roch wie verfaultes Obst im Rinnstein. Man hatte ihn vor einigen Jahren aus dem Senat geworfen: weil er pleite gewesen war und wegen seiner lockeren Sitten, die sich im Wesentlichen in Korruption, Trunkenheit und dem Umstand niederschlugen, dass er eine wunderschone junge Sklavin ersteigert hatte, die als seine Matresse offen mit ihm zusammenlebte. Aber das Volk auf seine eigentumliche Art hatte einen Narren an seiner Liederlichkeit gefressen, und nachdem er ihm ein Jahr lang als Tribun gedient hatte, hatte er es wieder geschafft, in den Senat einzuziehen. Ich wartete, bis er gegangen war, bevor ich Cicero meine Aufzeichnungen gab. »Was hat er gewollt?«, fragte ich.

»Meine Unterstutzung fur seine Kandidatur zum Prator.«

»Der hat vielleicht Nerven.«

»Kann man wohl sagen. Trotzdem habe ich ihm meine Hilfe zugesichert«, sagte er unbekummert. Als er mein erstauntes Gesicht sah, fugte er hinzu: »Wenn er Prator wird, habe ich jedenfalls einen Rivalen weniger furs Konsulat.«

Er legte meine Notizen auf sein Schreibpult und las sie aufmerksam durch. Dann stutzte er die Ellbogen auf, legte das Kinn auf die Hande, beugte sich vor und las sie ein zweites Mal. Ich stellte mir seine Gedanken als einen schnellen, schmalen Wasserstrom vor, der sich durch die Fugen eines gefliesten Bodens bewegte - erst vorwarts, dann nach links und rechts ausgreifend, an einem Punkt kurz innehaltend, in eine andere Richtung weiter vorsto?end, sich immer weiter ausbreitend und verzweigend und dabei in seiner schimmernden, flussigen Bewegung all die kleinen Moglichkeiten, Konsequenzen und Wahrscheinlichkeiten bedenkend. Schlie?lich sagte er, halb zu sich selbst, halb zu mir: »Gracchus war der Erste, der es mit dieser Taktik versucht hat - und der Letzte. Kein Wunder. Was fur eine Waffe in der Hand eines einzelnen Mannes! Egal, ob man damit durchkommt oder nicht, mit den Konsequenzen musste man noch Jahre leben.« Er hob den Kopf und schaute mich an. »Ich wei? nicht, Tiro. Vielleicht ware es besser, wenn du das gleich wieder vernichtest.« Aber als ich die Hand nach meinen Aufzeichnungen ausstreckte, sagte er schnell: »Vielleicht auch nicht.« Stattdessen trug er mir auf, Laurea und ein paar andere Sklaven zusammenzutrommeln, sie zu allen Senatoren aus Pompeius' innerem Kreis zu schicken und anfragen zu lassen, ob sie heute Nachmittag nach ihren Amtsgeschaften Zeit fur ein Treffen hatten. »Aber nicht hier«, fugte er noch schnell hinzu. »In Pompeius' Stadthaus.« Dann schrieb er eigenhandig eine Botschaft und schickte einen Reiter mit der Anweisung, auf Antwort zu warten, zu Pompeius' Landsitz in die Albaner Berge. »Wenn Crassus den Geist von Gracchus heraufbeschworen will ...«, sagte er grimmig, »das kann er haben!«

Selbstredend waren die anderen ganz begierig darauf zu erfahren, warum Cicero sie zusammenrief. Kurz nachdem die Gerichte und Amter ihre Pforten geschlossen hatten, tauchten sie nacheinander in Pompeius' Haus auf. Alle Platze rund um den gro?en Tisch waren besetzt bis auf den thronartigen Stuhl des abwesenden Hausbesitzers, der aus Grunden der Ehrerbietung frei blieb. Es mag seltsam erscheinen, dass so intelligente und erfahrene Manner wie Caesar und Varro uber die Taktik, die Gracchus als Volkstribun angewandt hatte, nicht genau Bescheid wussten. Aber man darf nicht vergessen, dass Gracchus damals schon seit dreiundsechzig Jahren tot war, dass es seitdem andere gro?e geschichtliche Ereignisse gegeben hatte und dass man sich damals noch nicht so besessen mit der jungeren Geschichte beschaftigte wie in den folgenden Jahrzehnten. Selbst Cicero hatte die Turbulenzen um Gracchus vergessen, bis er sich durch Crassus' Drohung wieder verschwommen daran erinnerte, dass er sich wahrend seines Advokatenstudiums mal damit beschaftigt hatte. Solange er meine Auszuge aus den Annalen vortrug, war es still im Raum, aber sobald er seine Ausfuhrungen beendet hatte, setzten sofort aufgeregte Diskussionen ein. Nur der wei?haarige Varro, der Alteste in der Runde, erinnerte sich aus Erzahlungen seines Vaters an das Chaos von Gracchus' Volkstribunat und meldete Vorbehalte an. »Du wurdest einen Prazedenzfall schaffen«, sagte er. »Jeder Demagoge, der glaubt, eine Mehrheit der Wahlbezirke hinter sich zu haben, konnte dann das Volk anrufen und damit drohen, einen seiner Kollegen absetzen zu lassen. Und warum eigentlich beim Volkstribun aufhoren? Warum nicht auch einen Prator, einen Konsul absetzen?«

»Das ware kein Prazedenzfall«, widersprach Caesar ungehalten. »Das hat schon Gracchus fur uns erledigt.«

»Genau«, sagte Cicero. »Auch wenn die Aristokraten ihn ermordet haben sollten, seine Gesetzgebung haben sie nicht fur illegal erklart. Ich wei?, was Varro meint, und bis zu einem gewissen Grad teile ich sein Unbehagen. Aber wir befinden uns in einem au?erst harten Kampf, wir mussen ein paar Risiken eingehen.«

Zustimmendes Gemurmel wurde laut, die entscheidenden Prostimmen waren aber die von Gabinius und Cornelius. Schlie?lich mussten sie sich vor das Volk stellen und die Gesetzgebung durchfechten, und folglich wurden vor allem sie, sowohl physisch wie juristisch, die Vergeltung der Aristokraten zu spuren bekommen.

»Das Volk in seiner uberwaltigenden Mehrheit will dieses Oberkommando, und es will, dass Pompeius es bekommt«, erklarte Gabinius. »Die Tatsache, dass Crassus sich mit seinen tiefen Taschen zwei Volkstribune kaufen kann, darf nicht dazu fuhren, dass der Wille des Volkes blockiert wird.«

Afranius wollte wissen, ob Pompeius sich schon dazu geau?ert habe.

»Hier ist die Botschaft, die ich ihm heute Morgen habe uberbringen lassen«, sagte Cicero und hielt sie hoch. »Auf der Ruckseite steht seine Antwort, die er mir sofort zuruckgeschickt hat. Sie ist zur gleichen Zeit hier eingetroffen wie ihr alle.« Jeder konnte sehen, was Pompeius in seiner gro?en deutlichen Schrift auf die Ruckseite gekritzelt hatte. Es war nur ein einziges Wort: Einverstanden. Damit war das Thema erledigt. Hinterher wies Cicero mich an, den Brief zu verbrennen.

*

Am Morgen der Volksversammlung war es bitterkalt. Der eisige Wind, der durch die Kolonnaden und zwischen den Tempeln hindurchpfiff, konnte die Menschen jedoch nicht davon abhalten, in Massen aufs Forum zu stromen. An gro?eren Abstimmungstagen wechselten die Volkstribunen von der Rostra zum Tempel des Castor, wo man mehr Platz fur den Wahlvorgang hatte. Arbeiter hatten wahrend der Nacht an den holzernen Stegen gezimmert, uber die die Burger im Gansemarsch zur Stimmabgabe gehen wurden. Cicero verlie? das Haus fruh und ohne gro?es Gefolge - nur Quintus und ich begleiteten ihn. Er sei -so sagte er uns, als wir den Hugel hinuntergingen -nur der Inspizient der Auffuhrung, nicht einer der Hauptdarsteller. Er unterhielt sich kurz mit ein paar Funktionaren aus verschiedenen Wahlbezirken, dann zog er sich mit mir in den Saulengang der Basilica Aemilia zuruck, von wo er einen guten Uberblick uber das Geschehen hatte und wenn notig Anweisungen geben konnte.

Vermutlich bin ich einer der wenigen noch Lebenden, die Zeuge dieses dramatischen Anblicks waren: Die zehn Volkstribunen sa?en nebeneinander auf ihren Platzen, darunter wie angeheuerte Gladiatoren die beiden gegnerischen Parchen Gabinius und Cornelius (pro Pompeius) sowie Trebellius und Roscius (pro Crassus); auf den obersten Tempelstufen standen die Priester und Auguren; das orangefarbene Altarfeuer bildete einen flackernden

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