rasch den Korridor entlang hinterher. Er war plotzlich sehr neugierig geworden, zu wissen, wie sie aussah.

Er ging die Treppe hinunter und sah sich unten um; aber das Madchen war nirgendwo zu sehen. Er ging zum Ausgang und blickte die Stra?e entlang. Sie lag leer im staubigen Licht. Nur ein paar Schaferhunde balgten sich auf dem Fahrdamm. – Kern ging ins Hotel zuruck. »Ist nicht eben jemand fortgegangen?« fragte er den Portier, der gleichzeitig Kellner und Hausbursche war.

»Nur Sie!« Der Portier starrte ihn an. Er wartete darauf, da? Kern uber seinen Witz in ein fassungsloses Gelachter ausbrechen sollte.

Kern lachte nicht. »Ein Madchen meine ich«, sagte er. »Eine junge Dame.«

»Hier wohnen keine Damen«, erwiderte der Portier murrisch. Er war beleidigt, weil er seinen Geist verschwendet hatte. »Nur Frauen.«

»Also ist niemand hinausgegangen?«

»Sind Sie von der Polizei, da? Sie das so genau wissen mussen?« Der Portier war jetzt offen feindlich.

Kern sah ihn erstaunt an. Er verstand nicht, was der Mann hatte. Den Witz hatte er gar nicht bemerkt. Er holte ein Packchen Zigaretten aus der Tasche und bot sie dem Portier an.

»Danke«, erwiderte der frostig. »Ich rauche was Besseres.«

»Das glaube ich.«

Kern steckte die Zigaretten wieder ein. Er blieb noch einen Augenblick stehen und uberlegte. Das Madchen mu?te noch im Hotel sein. Wahrscheinlich war sie dann in der Halle. Er ging zuruck.

Die Halle war ein schmaler, langer Raum, mit einer zementierten Terrasse davor. Sie fuhrte in einen ummauerten Garten, in dem ein paar Fliederbusche standen.

Kern blickte durch die Glastur. Er sah das Madchen an einem Tisch sitzen. Es hatte die Ellenbogen aufgestutzt und las. Au?er ihm war niemand in der Halle. Kern konnte nicht anders; er offnete die Tur und trat ein.

Das Madchen blickte auf, als es die Tur horte. Kern wurde befangen. »Guten Abend«, sagte er zogernd.

Das Madchen sah ihn an. Dann nickte es und las weiter.

Kern setzte sich in eine Ecke des Zimmers. Nach einer Weile stand er auf und holte sich ein paar Zeitungen. Er kam sich plotzlich ziemlich lacherlich vor und ware gern schon wieder drau?en gewesen. Aber es erschien ihm fast unmoglich, jetzt sofort wieder aufzustehen und hinauszugehen.

Er faltete die Zeitungen auseinander und begann zu lesen. Nach einiger Zeit sah er, wie das Madchen nach seiner Handtasche griff und sie offnete. Es nahm ein silbernes Zigarettenetui heraus und klappte es auf. Dann klappte es das Etui wieder zu, ohne eine Zigarette zu nehmen, und schob es zuruck in die Tasche.

Kern legte die Zeitung rasch beiseite und stand auf. »Ich sehe, da? Sie Ihre Zigaretten vergessen haben«, sagte er. »Kann ich Ihnen aushelfen?«

Er zog sein Paket hervor. Er hatte viel darum gegeben, wenn er jetzt ein Etui gehabt hatte. Das Paket war zerdruckt und an den Enden eingerissen. Er hielt es dem Madchen hin. »Ich wei? allerdings nicht, ob Sie diese Sorte mogen. Der Portier hat sie vorhin abgelehnt. Sie waren ihm zu schlecht.«

Das Madchen blickte auf die Marke. »Ich rauche die gleichen«, sagte sie.

Kern lachte. »Es sind die billigsten, die es gibt. Das ist schon fast dasselbe, als hatte man sich seine Lebensgeschichte erzahlt.«

Das Madchen sah ihn an. »Ich glaube, das Hotel erzahlt sie ohnehin.«

»Das ist wahr.«

Kern zundete ein Streichholz an und gab dem Madchen Feuer. Das schwache, rotliche Licht beleuchtete ein schmales, braunliches Gesicht mit starken, dunklen Augenbrauen. Die Augen waren gro? und klar und der Mund voll und weich. Kern hatte nicht sagen konnen, ob das Madchen schon war und ob sie ihm ge?el; er hatte nur das sonderbare Gefuhl einer leisen und fernen Verbundenheit mit ihr – seine Hand hatte auf ihrer Brust gelegen, bevor er sie kannte. Er sah sie atmen; und plotzlich, obschon er wu?te, da? es toricht war, steckte er seine Hand in die Tasche.

»Sind Sie schon lange drau?en?« fragte er.

»Zwei Monate.«

»Das ist nicht lange.«

»Es ist endlos.«

Kern blickte uberrascht auf. »Sie haben recht«, sagte er dann. »Zwei Jahre sind nicht lange. Aber zwei Monate sind endlos. Doch das hat immerhin einen Vorteil: sie werden kurzer, je langer es dauert.«

»Glauben Sie, da? es lange dauert?« fragte das Madchen.

»Ich wei? es nicht. Daruber denke ich nicht mehr nach.«

»Ich immer.«

»Das tat ich auch, als ich zwei Monate drau?en war.«

Das Madchen schwieg. Es hielt den Kopf nachdenklich gesenkt und rauchte langsam, in tiefen Zugen. Kern betrachtete das starke, etwas gewellte schwarze Haar, von dem das Gesicht umrahmt war. Er hatte gern etwas Besonderes, Geistvolles gesagt, aber ihm ?el nichts ein. Er versuchte sich zu erinnern, wie die weltmannischen Helden mancher Bucher, die er gelesen hatte, in einer ahnlichen Situation gehandelt hatten – doch sein Gedachtnis war wie ausgetrocknet, und die Helden waren auch wohl nie in einem Emigrantenhotel in Prag gewesen.

»Ist es nicht zu dunkel zum Lesen?« fragte er schlie?lich.

Das Madchen fuhr zusammen, als waren seine Gedanken woanders gewesen. Dann klappte es das Buch, das vor ihm lag, zu. »Nein. Ich will auch nicht mehr lesen. Es ist zwecklos.«

»Es lenkt einen manchmal ab«, sagte Kern. »Wenn ich irgendwo einen Kriminalroman ?nde, lese ich ihn in einem Zuge durch.«

Das Madchen lachelte mude. »Dies ist kein Kriminalroman. Es ist ein Lehrbuch der anorganischen Chemie.«

»Ach so! Sie waren an der Universitat?«

»Ja. In Wurzburg.«

»Ich war in Leipzig. Ich hatte anfangs auch meine Lehrbucher bei mir. Ich wollte nichts vergessen. Spater habe ich sie dann verkauft. Sie waren zu schwer zum Tragen, und ich habe mir Toilettewasser und Seife dafur gekauft, um damit zu handeln. Davon lebe ich jetzt.«

Das Madchen sah ihn an. »Sie machen mir nicht gerade sehr viel Mut.«

»Ich wollte Sie nicht mutlos machen«, sagte Kern rasch. »Bei mir war das etwas ganz anderes. Ich hatte uberhaupt keine Papiere. Sie haben doch wahrscheinlich einen Pa?.«

Das Madchen nickte. »Einen Pa? habe ich. Aber er lauft in sechs Wochen ab.«

»Das macht nichts. Dann konnen Sie ihn sicher verlangern lassen.«

»Ich glaube nicht.«

Das Madchen stand auf.

»Wollen Sie nicht noch eine Zigarette rauchen?« fragte Kern.

»Nein, danke. Ich rauche viel zuviel.«

»Jemand hat mir einmal gesagt, eine Zigarette im richtigen Augenblick ware besser als alle Ideale der Welt.«

»Das stimmt.« Das Madchen lachelte, und auf einmal erschien sie Kern sehr schon. Er hatte viel darum gegeben, weiter mit ihr zu sprechen, aber er wu?te nicht, was er tun sollte, damit sie noch bliebe.

»Wenn ich Ihnen irgendwie behil?ich sein kann«, sagte er schnell,»ich wurde es gern tun. Ich kenne das hier in Prag. Ich war schon zweimal hier. Ich hei?e Ludwig Kern und wohne in dem Zimmer rechts neben Ihnen.«

Das Madchen sah ihn mit einem raschen Blick an. Kern glaubte schon, alles verraten zu haben. Aber sie gab ihm unbefangen die Hand. Er spurte einen festen Druck. »Ich will Sie gern fragen, wenn ich etwas nicht wei?«, sagte sie. »Danke vielmals.«

Sie nahm ihre Bucher vom Tisch und ging die Treppe hinauf.

Kern blieb noch eine Weile in der Halle sitzen. Er wu?te plotzlich alles, was er hatte sagen sollen.

»NOCH EINMAL, STEINER«, sagte der Falschspieler. »Wei? der Himmel, ich bin nervoser fur Ihr Debut in der Quetsche druben, als wenn ich selbst im Jockeiklub spiele.«

Sie sa?en in der Bar, und Fred machte Generalprobe mit Steiner. Er wollte ihn in einer Kneipe in der Nahe zum erstenmal gegen ein paar kleinere Falschspieler loslassen. Steiner sah darin den einzigen Weg, um vielleicht zu Geld zu kommen – von Diebstahl und schwerem Raub abgesehen.

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