dankbar, wenn man ihn ablenkt. Also keine falsche Scham! Losgebraust und nicht gezittert!«
»Gehen Sie ins Rialto«, sagte Rabe aus seinem Bett heraus. »Da spielen sie Marokko. Ich habe gefunden, je fremder die Lander sind, desto besser wird man abgelenkt.«
»Marokko ist immer gut«, erklarte Marill. »Auch fur junge Madchen.«
Rabe packte sich seufzend in seine Decke. »Manchmal wollte ich, ich konnte zehn Jahre durchschlafen!«
»Mochten Sie dann auch zehn Jahre alter sein?« fragte Marill.
Rabe sah ihn an. »Nein«, sagte er. »Dann waren meine Kinder ja schon erwachsen.«
KERN KLOPFTE AN die Tur nebenan. Eine Stimme von drinnen antwortete etwas. Er offnete die Tur und blieb sofort stehen. Er hatte der Schimanowska ins Auge geblickt.
Sie hatte ein Gesicht wie eine Schleiereule. Die wulstigen Falten waren dicht mit wei?em Puder uberdeckt und wirkten wie eine gebirgige Schneelandschaft. Tief darin, wie Locher, sa?en die schwarzen Augen. Sie starrte Kern an, als wollte sie ihm im nachsten Auenblick mit ihren Krallen ins Gesicht ?iegen. In den Handen hielt sie einen zinnoberroten Schal, in dem ein paar Stricknadeln steckten. Plotzlich verzerrte sich ihr Gesicht. Kern dachte schon, sie wurde auf ihn lossturzen, aber auf einmal glitt eine Art von Lacheln uber ihre Zuge. »Was wollen Sie, mein junger Freund?« fragte sie mit pathetischer, tiefer Theaterstimme.
»Ich mochte mit Fraulein Holland sprechen.« Das Lacheln verschwand wie weggewischt. »Ach so.« Die Schimanowska blickte Kern verachtlich an und begann, heftig mit ihren Nadeln zu klappern.
Ruth Holland hockte auf ihrem Bett. Sie hatte gelesen. Kern sah, da? es das Bett war, an dem er nachts gestanden hatte. Er fuhlte plotzlich eine Warme hinter seiner Stirn. »Kann ich Sie etwas fragen?« sagte er.
Das Madchen stand auf und ging mit ihm auf den Korridor. Die Schimanowska lie? ihnen ein Schnauben wie von einem verwundeten Pferd folgen.
»Ich wollte Sie fragen, ob Sie mit ins Kino wollen«, sagte Kern drau?en. »Ich habe zwei Karten«, log er hinzu.
Ruth Holland sah ihn an.
»Oder haben Sie etwas anderes vor? Es kann ja sein…«
Sie schuttelte den Kopf. »Nein, ich habe nichts vor.«
»Dann kommen Sie doch mit! Wozu wollen Sie den ganzen Abend im Zimmer sitzen?«
»Daran bin ich schon gewohnt.«
»Um so schlimmer. Ich war nach zwei Minuten schon froh, wieder drau?en zu sein. Ich dachte, ich wurde aufgefressen.«
Das Madchen lachte. Sie wirkte plotzlich sehr kindlich. »Die Schimanowska sieht nur so aus. Sie hat ein gutes Herz.«
»Mag sein, aber das sitzt ihr nicht auf den Schultern. Der Film fangt in’einer Viertelstunde an. Wollen wir gehen?«
»Gut«, sagte Ruth Holland, und es schien, als fasse sie damit einen Entschlu?.
An der Kasse ging Kern rasch voraus. »Einen Augenblick, ich hole nur die Karten ab. Sie sind hier hinterlegt.«
Er kaufte zwei Billette und hoffte, da? sie nichts gemerkt hatte. Es war ihm gleich darauf aber auch schon egal – die Hauptsache war, da? sie neben ihm sa?.
Der Saal wurde dunkel. Die Kasbah von Marrakesch erschien auf der Leinwand, malerisch und von Sonne uber?irrt, die Wuste glanzte auf, und der eintonige Klang der Floten und Tamburine zitterte durch die hei?e afrikanische Nacht…
Ruth Holland lehnte sich in ihrem Sessel zuruck. Die Musik ?el uber sie wie ein warmer Regen – ein warmer, eintoniger Regen, aus dem sich qualend die Erinnerung hob…
Sie stand am Burggraben von Nurnberg. Es war April. Vor ihr stand in der Dunkelheit der Student Herbert Billing, ein zerknulltes Zeitungsblatt in der Hand.
»Du verstehst, was ich meine, Ruth?«
»Ja, ich verstehe es, Herbert! Es ist leicht zu verstehen.«
Billing zerknitterte nervos das Exemplar des »Sturmer«.
»Mein Name als Judenknecht in der Zeitung! Als Rassenschander! Das ist der Ruin, verstehst du?«
»Ja, Herbert.«
»Ich mu? sehen, wie ich da ’rauskomme. Meine ganze Karriere steht auf dem Spiel. In der Zeitung, das liest jeder, verstehst du?«
»Ja, Herbert. Mein Name steht auch in der Zeitung.«
»Das ist ganz was anderes! Was kann dir das ausmachen? Du darfst doch sowieso nicht mehr zur Universitat.«
»Du hast recht, Herbert.«
»Also Schlu?, nicht wahr? Wir sind getrennt und haben nichts mehr miteinander zu tun.«
»Nichts mehr. Und nun leb wohl.«
Sie drehte sich um und ging.
»Warte – Ruth – hor doch, einen Moment!«
Sie blieb stehen. Er kam heran. Sein Gesicht war so dicht vor ihr in der Dunkelheit, da? sie seinen Atem spurte. »Hor zu«, sagte er. »Wo gehst du jetzt hin?«
»Nach Hause.«
»Du brauchst doch nicht gleich…« Er atmete starker. »Es ist naturlich alles abgemacht, nicht wahr? Das bleibt dann so! Aber du konntest doch… wir konnten… gerade heute abend ist keiner bei mir zu Hause, verstehst du, und wir wurden nicht gesehen.« Er fa?te nach ihrem Arm. »Wir brauchen uns ja nicht gerade so zu trennen, so formell meine ich, wir konnten doch noch einmal…«
»Geh!« sagte sie. »Sofort!«
»Aber sei doch vernunftig, Ruth.« Er nahm sie um die Schulter.
Sie sah das hubsche Gesicht, das sie geliebt und dem sie gedankenlos vertraut hatte. Dann schlug sie hinein. »Geh!« schrie sie, wahrend ihr die Tranen heruntersturzten. »Geh!«
Billing zuckte zuruck. »Was? Schlagen? Mich schlagen? Du dreckige Judensau willst mich schlagen?«
Er machte Miene, sich auf sie zu sturzen.
»Geh!« schrie sie gellend.
Er sah sich um. »Halt den Mund!« zischte er. »Willst mir wohl noch Leute auf den Hals hetzen, was? Konnte dir so passen! Ich gehe, jawohl, ich gehe! Gott sei Dank, da? ich dich los bin!«
»Quand l’amour meurt«, sang die Frau auf der Leinwand mit ihrer dunklen Stimme durch den Larm und Rauch des marokkanischen Cafes. Ruth Holland strich sich uber die Stirn.
Das andere war wenig dagegen. Die Angst der Verwandten, bei denen sie wohnte – das Drangen des Onkels, abzureisen, damit er nicht hineingezogen wurde – der anonyme Brief, in dem ihr mitgeteilt wurde, wenn sie nicht in drei Tagen verschwunden sei, werde man sie auf einem Wagen, mit Schildern auf Brust und Rucken und abgeschnittenem Haar als Rassenschanderin durch die Stadt fuhren – der Besuch am Grabe ihrer Mutter – der nasse Morgen vor dem Kriegerdenkmal, von dem man den Namen ihres Vaters, der 1916 in Flandern gefallen war, abgekratzt hatte, weil er Jude war – und dann die hastige, einsame Fahrt mit den paar Schmuckstucken ihrer Mutter uber die Grenze nach Prag…
Die Floten und Tamburine setzten auf der Leinwand wieder ein. Daruber hinweg wehte der Marsch der Fremdenlegionare – die eiligen, erregenden Rufe der Clairons uber den Kompanien der in die Wuste ziehenden Kampfer ohne Heimat und Vaterland.
Kern beugte sich zu Ruth Holland hinuber. »Gefallt es Ihnen?«
»Ja…«
Er griff in die Tasche und schob ihr eine kleine ?ache Flasche hinuber. »Eau de Cologne«, ?usterte er. »Es ist hei? hier. Vielleicht erfrischt es Sie etwas.«
»Danke.«
Sie schuttelte ein paar Tropfen auf ihre Hand. Kern sah nicht, da? sie plotzlich Tranen in den Augen hatte.
»Danke«, sagte sie noch einmal.